Zwischen Illusion und Zensur – Journalisten und Literaten im Protektorat
15. März 1939. Die Nationalsozialisten marschieren in Prag ein. Hitler errichtet das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Zwar besteht weiter ein tschechischer Verwaltungsapparat. Doch die Macht liegt ab jetzt beim deutschen Amt des Reichsprotektors. Soweit die historischen Ereignisse, die hinlänglich bekannt sind. Kaum beleuchtet wurden im Schatten der politischen Ereignisse bisher die nationalsozialistische Literaturpolitik und ihre Auswirkungen auf deutsche und tschechische Autoren im Protektorat. Erst in den letzten Jahren haben sich einige Historiker und Literaturwissenschaftler aus Deutschland und Tschechien auf dieses Forschungsfeld begeben.
Karel Čapek hat es nicht mehr miterlebt – aber er hat wohl etwas geahnt, als er im Juni 1938 sagte:
„Falls es noch um einen Einfluss der Literatur auf das Leben geht, so kann man den Schriftstellern nicht viel abverlangen, zumal in Zeiten, in denen in der Politik allenthalben das Faustrecht gilt.“
Čapek sagte diese Worte in einem Interview für die Krakauer Zeitung Nowy Dziennik, als im Juni 1938 Literaten aus aller Welt zum internationalen PEN-Kongress in Prag zusammengekommen waren. Dass sich das Faustrecht in der Politik durchsetzte, zeigte sich bereits drei Monate später. Da wurde das Münchner Abkommen geschlossen und wieder ein halbes Jahr später das „Protektorat Böhmen und Mähren“ errichtet. Karel Čapek selbst starb im Dezember 1938 – er erlebte das Protektorat nicht mehr. Für den „Einfluss der Literatur auf das Leben“, wie es Čapek formuliert hatte, waren unter den Nationalsozialisten nicht mehr die Literaten selbst zuständig sein, sondern die Kulturabteilung im Amt des Reichsprotektors. Denn dort wurde entschieden, welche Autoren was veröffentlichen durften. Offiziell allerdings sollte ein anderer Eindruck entstehen, wie der Historiker Volker Mohn erklärt.
„Es wurde offiziell eine Kulturautonomie gewährt, im März 1939. Auf den ersten Blick konnte es auch im Literaturbereich so aussehen, als ob die tschechischen Stellen, die bisher für diesen Bereich zuständig waren, weiter ihre Arbeit getan haben, als ob es keine deutschen Eingriffe gegeben hat. Wenn man aber genauer hinsieht, merkt man sehr schnell, dass von einer wirklichen Kulturautonomie keinesfalls gesprochen werden kann, und dass auf verschiedenen Wegen deutsche Stellen massiv in das Literaturleben auf tschechischer Seite eingegriffen haben.“Von einer Literaturpolitik mit „Zuckerbrot und Peitsche“ spricht der Historiker Mohn, der gerade an seiner Dissertation über Literaturpolitik im Protektorat arbeitet. Einerseits herrschte eine strenge Zensur, viele Bücher wurden verboten. Im März 1939 standen schon weit über 700 Werke auf einer Liste unerwünschter Bücher – und die Zahl wuchs ständig. Andererseits aber wurden auch Anreize geschaffen, um Autoren zu belohnen, die sich in den Dienst der Propaganda stellten – und zwar deutsche wie tschechische. Sie wurden zu so genannten Dichterfahrten eingeladen, erhielten Literaturpreise und wurden bei Bücherausstellungen präsentiert. Wie aber gingen die Schriftsteller mit der Situation um? Dazu der Literaturwissenschaftler und Herausgeber eines Sammelbands über deutschsprachige Literatur im Protektorat, Peter Becher:
„Es gab zum Beispiel Autoren, die 150-prozentige Nazis waren und in ihren Büchern auch so geschrieben haben. Es gab andere, die eher Unterhaltungsliteratur veröffentlicht haben, sich aber trotzdem zum Nationalsozialismus bekannt haben. Und schließlich gab es auch Autoren, die verstummt sind, die wirklich nur für die Schreibtischschublade geschrieben haben und erst nach 1945 publiziert haben.“Wie sich einzelne Autoren entwickelten, erläutert Becher am Beispiel von Hans Watzlik. Der deutschsprachige Schriftsteller wurde 1879 in Südböhmen geboren und war schon in der Ersten Tschechoslowakischen Republik erfolgreich.
„Watzlik ist einer der Autoren, die noch in der Ersten Republik sogar einen Staatspreis bekommen haben, sich dann aber im Zuge der späten 30er Jahre immer stärker zum Nationalsozialismus hin orientierten. Er ist auch Parteimitglied geworden und war einer derer, die im Protektorat am meisten publiziert und die meisten Auszeichnungen bekommen haben. Er ist also ganz stark in dieses Fahrwasser hineingeraten und hat davon ganz stark profitiert.“Volker Mohn zeigt am Beispiel des tschechischsprachigen Autors František Kožík, dass sich aus heutiger Sicht nur schwer beurteilen lässt, was einen Literat zu einem Kollaborateur werden ließ:
„Kožík war ein junger und sehr produktiver, von den Verkaufszahlen sehr erfolgreicher Autor. Seine Bekanntheit bewirkte, dass er sehr ins Visier der Besatzungsmacht geriet, die ihn immer wieder in verschiedenen Situationen unter Druck setzte oder nötigte, sich anzupassen oder bestimmte Dinge zu tun, die man von ihm erwartet hatte.“Heute gelte Kožík einerseits als ein Autor betont nationaler tschechischer Bücher, der versucht habe, darin auch national-tschechische Werte zu vermitteln, so Mohn. Andererseits werde Kožík häufig als Literat gesehen, der an einer besonders problematischen, von den Nationalsozialisten organisierten Fahrt teilgenommen hat. Künstler aus ganz Europa wurden 1943 nach Katyn gebracht. Die deutsche Wehrmacht hatte dort Massengräber entdeckt, in denen von russischen Soldaten ermordete Polen lagen. Die Nationalsozialisten missbrauchten den Fall zur Propaganda: Die Künstler sollten sich die Gräber ansehen und anschließend in ihren Heimatländern im Sinne der NS-Propaganda darüber berichten.
„Kožík ist dort mitgefahren, das ist richtig, es wurde ihm auch sein Leben lang immer wieder vorgehalten. Ich denke aber, dass es problematisch ist, ihn allein wegen Katyn zu bewerten und negativ abzustempeln. Denn das war ein Punkt, an dem er nicht ablehnen konnte. Der Druck war schon sehr groß.“Wer aber setzte die Künstler so unter Druck? Im Protektorat steht vor allem ein Name für die nationalsozialistische Literaturpolitik: August Ritter von Hoop. Er war ein Prager Deutscher, der noch in den 1930er Jahren für die „Prager Presse“ gearbeitet hatte – eine Zeitung, die dem tschechischen Staat gegenüber loyal gewesen war.
„Ab 1939 hat er gezielt versucht, in den deutschen Behörden Ämter zu bekommen. Er bekam dann tatsächlich erstmal einen Posten in der deutschen Kulturabteilung als Presselektor. Offenbar hielt man ihn dort für so fähig für die Zwecke, die man verfolgte, dass man ihn dann als deutschen Funktionär in der tschechischen Abteilung eingesetzt hat. Das war zunächst eine Unterabteilung des tschechischen Ministerratspräsidiums. Die wiederum hat Hoop sehr schnell zu einer der zentralen Kontrollinstanzen ausgebaut.“Mit der Verwaltungsreform von 1942 wurde Hoop zum Leiter der Sektion Schrifttum im Ministerium für Volksaufklärung. Er war nicht nur für Zensur und Verbote zuständig, sondern entschied auch, welcher Verlag zugelassen wurde und wie viel Papier für den Druck welcher Bücher erhielt. Der Papiervergabe waren auch die Zeitungen unterworfen. Doch nicht nur deshalb werden sie häufig mit eingeschlossen, wenn von Literatur im Protektorat die Rede ist. Oftmals arbeiteten die Schriftsteller gleichzeitig auch als Redakteure und umgekehrt. Medienhistorikerin Barbara Köpplová hat sich mit den Zeitungen wie der „Bohemia“ und dem „Prager Tagblatt“ befasst, den Flaggschiffen der deutschen Presse in der Ersten Republik:
„Wichtig und berühmt waren sie durch die Redakteure, die gleichzeitig zu den deutschen Schriftstellern aus Prag gehörten.“Dazu zählen zum Beispiel Johannes Urzidil und Max Brod, Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg. Viele deutschsprachige Redakteure waren bereits ausgewandert, als mit dem „Prager Tagblatt“ am 4. April 1939 die letzte große deutsche Zeitung in Prag eingestellt wurde. Schon am folgenden Tag wurde in denselben Redaktionsräumen und in derselben Druckerei der „Neue Tag“ hergestellt, der das offizielle Organ des Protektorats wurde:
„Der Neue Tag war die wichtigste Zeitung von 1939 bis 1945. Er war maßgebend auch für die tschechischen Zeitungen. Vieles musste erst im Neuen Tag erscheinen, und erst danach durften die tschechischen Zeitungen diese Artikel veröffentlichen.“
Die Redakteure, die für den Neuen Tag arbeiteten, mussten sich damit abfinden, im Dienste der NS-Propaganda zu schreiben. Manche entwickelten allerdings ihre Strategien, um auch über das tschechische Kulturleben zu berichten, wie zum Beispiel der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt. Er kannte die tschechische Szene sehr gut und hat – zumindest in den Anfangsausgaben – auch über tschechische Künstler wie Bedřich Smetana geschrieben.„Er hat immer das Deutsche hineingemischt, zum Beispiel dass Smetanas Tagebücher auf Deutsch geschrieben wurden, er hat immer die deutsche Note bei den Künstlern herausgearbeitet.“
Doch lange kam er mit dieser Strategie nicht durch. Die Zensur war streng. Und der Einfluss der Literatur auf das Leben, an den Karel Čapek schon 1938 nicht mehr recht glaubte? Hatten die Journalisten hier vielleicht noch bessere Chancen als die Literaten?
„Dieser Glaube, man könnte noch etwas beeinflussen, der war stark am Anfang. Aber sie konnten überhaupt nichts beeinflussen. Das war nur eine Illusion.“Egal, ob man den Literaturwissenschaftler Becher, den Historiker Mohn oder die Medienwissenschaftlerin Köpplová fragt: Sie sind sich einig, dass es über die Jahre 1938 bis 1945 in ihren Disziplinen noch viel zu erforschen gibt – und dass es in den meisten Fällen unzulässig ist, einzelne Autoren und Journalisten in eine bestimmte Schublade zu stecken.