100 Jahre Tramping: Und die tschechische Subkultur lebt weiter
Das Wort „Tramping“ entstammt unverkennbar dem amerikanischen Englisch. Doch seit rund 100 Jahren ist es auch ein fester Begriff für eine Subkultur in der früheren Tschechoslowakei und im heutigen Tschechien, die weltweit ihresgleichen sucht. Der Fotograf Libor Fojtík hat sich in den zurückliegenden sieben Jahren erneut auf die Spuren der „Tramps“ gemacht, und in Kürze erscheint dazu seine Fotodokumentation.
„Dieses tschechoslowakische Phänomen geht auf die 1920er Jahre zurück. Ich habe dazu nochmals recherchiert und kann sagen: Weltweit gibt es nichts Vergleichbares. Es ist gewiss etwas rätselhaft, warum Tramping gerade hier in Böhmen entstanden ist. Aber es lässt sich erklären: Damals begann die große Industrialisierung, und Prag liegt nicht weit von den genannten Flüssen entfernt. Die Leute wollten an den Wochenenden dem Lärm der Stadt einfach entfliehen. Es waren vor allem die Arbeiter, die in der Natur Erholung suchten, nicht die High Society.“
Auch Fojtík ist mit dieser Subkultur aufgewachsen, und zwar in Nordmähren und den dortigen Beskiden. Seine Eltern, die leidenschaftliche Tramps gewesen seien, hätten ihn immer in eine entsprechende Siedlung mitgenommen, sagt der Fotograf. Das war zu Zeiten des kommunistischen Regimes. Doch gibt es diese Subkultur auch heute noch?„Ich denke, dass sie zum Teil verschwunden ist. Das hat seine Gründe. Nach der politischen Wende konnten die Tschechen endlich auch in die weite Ferne reisen. Zudem haben viele Leute die ganze Palette des modernen Outdoor-Sports für sich entdeckt.“
Aber gleich darauf fügt Fojtík an:
„Doch es gibt sie nach wie vor. Während der fünf bis sieben Jahre, in denen ich dieser Subkultur mit dem Fotoapparat auf der Spur war, habe ich festgestellt, dass eine neue Generation von Tramps entstanden ist. Das sind insbesondere junge Leute, die mit ihren Kindern in der Natur unterwegs sind. Ich glaube auch nicht, dass die Vertreter der älteren Generation das Tramping bereits totgesagt haben. Mein Buch soll gerade die Antwort darauf geben, dass es diese Subkultur wohl noch weitere 100 Jahre hier geben wird.“
Doch wie hat sich dieses Phänomen seit der Ersten Republik erhalten? Und noch dazu trotz aller Beschwerlichkeiten und Ressentiments. Libor Fojtík:„Die Tramps waren nie als Gemeinschaft organisiert. Ihnen hat auch niemand etwas vorgeschrieben. Dadurch waren sie für die Obrigkeit auch schlecht greifbar. Dennoch hat gerade das kommunistische Regime versucht, die Tramps in irgendeiner Form zu registrieren und sie wie den Jugendverband oder die Pionierorganisation zu strukturieren. Das ist ihm aber nicht gelungen. Im Gegensatz zu den Tramps wurde die Pfadfinder-Bewegung ziemlich unterdrückt. Die Tramps hingegen haben keinen Sitz und auch keine Hauptverantwortlichen, die irgendein Büro verwalten müssen. In gewisser Weise sind sie eine Art Partisanengruppe.“
Und was prägt diese „Partisanengruppe“?
„Ich denke, in erster Linie sind dies Freiheit, Kameradschaft, Liebe zur Natur und Romantik. Das sind die wesentlichen Merkmale, die mir einfallen, wenn ich daran denke, wie ich Tramping bislang erlebt habe – sowohl als Kind, als auch zuletzt, als ich die Tramps im ganzen Land aufgesucht habe.“
Bei der Suche nach den Menschen, die das Tramping in der heutigen Zeit leben, konnte sich Fojtík auf seine eigenen Erfahrungen stützen. Gewisse Dinge haben sich zwar verändert, doch die Rituale der Subkultur sind geblieben.„Das erste typische Merkmal ist die Begrüßung. Wie im normalen zivilen Leben drückt man seinem Gegenüber die Hand. Doch gleich darauf spreizen beide Partner den Daumen ihrer rechten Hand, um sie miteinander zu verhaken, und drücken erneut. In diesem Moment wissen beide, dass sie Gleichgesinnte sind und beginnen miteinander zu kommunizieren.“
Vor dem Ritual begrüßt man sich mit einem einfachen „Ahoj“ anstatt mit „Guten Tag“, ergänzt der Fotograf. Außerdem sticht ein echter Tramp durch seine schlichte Kleidung hervor. Man trägt zwar keine uniformierten Klamotten wie etwa die Pfadfinder, doch eine dunkelgrüne Hose und eine wärmende Wattejacke sollten es schon sein. Mit diesen und weiteren Gesichtspunkten hat sich Fojtík auch befasst, als er seine fotografische Arbeit aufnahm:
„Für die Dokumentation hatte ich anfangs kein spezielles fotografisches Konzept. Dann aber habe ich mir gewisse Aspekte vorgegeben, die ich in meinen Fotos berücksichtigen wollte. Das sind Landschaft, Architektur, Camps, Blockhäuser und die Interieurs in den Bauten. Ein weiteres Element sind Porträtaufnahmen einzelner Vertreter in typischer Trampkleidung. Und schließlich gelang es mir noch, einzelne Personen mit ihren Tätowierungen abzulichten. Ich wollte vor allem jene Motive festhalten, die in der Regel alle Subkulturen haben.“
Und natürlich sind dabei auch außergewöhnliche Schnappschüsse gelungen.„Ich bin bei meinen Fotoaufnahmen auf eine Gruppe orthodoxer Tramps gestoßen, die nicht einmal eine Stirnlampe in ihre Waldsiedlung mitnehmen. Denn das halten sie für eine verwerfliche moderne Errungenschaft. Sie haben auch keine PET-Wasserflaschen dabei. Diese Gruppe ist wirklich nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, in etwa so wie ihre Vorgänger zu Zeiten der Ersten Republik. Die Mitglieder der Gruppe sind auch nicht in Tarnhosen unterwegs oder in Klamotten der US Army, was nach der Samtenen Revolution 1989 hierzulande ziemlich populär geworden ist. Diese Leute ziehen durch die Natur in einfachen Cordhosen, Westen und den typischen Western-Hemden. Außerdem haben sie ein Tuch um den Hals und tragen einen Hut.“
So einfach wie die Ausrüstung, so simpel gestalten die Tramps auch ihr Tageswerk. Dazu zählt die wenig komfortable Übernachtung.
„Man schläft auf Reisig, das vor der kalten Erde isoliert. Darüber wird ein Zelt gespannt, das vor Wind und Regen schützt. Im Sommer reicht eine Decke, im Winter liegt man in einem Schlafsack.“
Mit den Jahrzehnten haben sich aber auch beim Tramping verschiedene Gruppen herausgebildet, und das nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Gewohnheiten, Ansprüche und sozialer Prägungen. Libor Fojtík:„Ich kenne viele Leute, für die Tramping das tägliche Leben ist. Sie sind in dieser Welt zu Hause und kommen in der Mehrzahl nur mit Menschen ihresgleichen zusammen. Sie sind Tramps mit Leib und Seele.“
Und zweitens:
„Dann gibt es Tramps, die sich immer an den Wochenenden in diese Welt zurückziehen. Das Motiv dazu war und ist die Flucht aus dem Stress des Alltags. Früher war es eine Flucht vor dem Regime, vor der Arbeit oder vor persönlichen Problemen. Heute flüchten die jungen Leute beispielsweise vor dem Internet, den Social Media und dem Konsum.“
Nicht von ungefähr wurde das Tramping früher als Männerdomäne beschrieben. Es seien harte Kerle, die ein ähnlich karges Leben wie etwa die Cowboys in Texas pflegten, hieß es. Doch gab es das wirklich, ein Leben ganz ohne Frauen?
„Frauen gehörten zwar immer zum Tramping dazu, in erster Linie war es aber eine Angelegenheit der Männer. Doch ganz ohne Mädchen ging es auch in frühen Zeiten schon nicht: Weil sich die ansonsten scheinbar harten Kerle in ihren Hütten am Moldau- oder Sazava-Ufer manchmal auch einsam fühlten, luden sie hin und wieder Frauen in ihre Siedlungen ein.“Heutzutage hat sich dieses Bild wesentlich geändert. Beim Tramping sind Frauen zwar nicht so dominant wie in einigen Bereichen des Berufslebens, doch sie treten immer mehr in Erscheinung.
„Letztlich habe ich auch einige Tramperinnen-Siedlungen gefunden. Ich kenne sogar einen weiblichen Sheriff namens Vlčice (die Wölfin, Anm. d. Red.), sie führt die Siedlung Dánsko (Dänemark). Ich will nicht behaupten, dass sich bereits ein Gleichgewicht eingestellt hat, aber auch die Frauen beleben mittlerweile das Tramping.“
Und wenn man dann Sheriff ist, hat man auch gewisse Rechte und Pflichten:„In jeder Siedlung wird jemand zum Sheriff gewählt, der dann auch den dazugehörigen Stern trägt. Eine seiner Aufgaben ist beispielsweise das Anzünden des Lagerfeuers. Besonders zu Ende des Sommers, wenn alle Tramps noch einmal am Feuer zusammenkommen, wird das richtig zelebriert, und der Sheriff entfacht das Lagerfeuer von allen vier Himmelsrichtungen aus. Dann wird die Hymne der Tramps intoniert und anschließend zur Gitarre gesungen.“
Ein wirklich romantisches Leben also, könnte man meinen. Doch ist die Welt der Tramps auch gerechter? Bei dieser Frage grübelt Fojtík schon ein wenig:
„Ich weiß nicht, ob man behaupten kann, dass die Welt der Tramps gerechter ist. Da würde ich bei aller Romantik wohl etwas vorlügen. Aber diese Gemeinschaft ist sehr offen. Niemand wird vorverurteilt, und stets war tabu, über Politik zu reden.“
Wer es trotzdem versucht, wird ermahnt. Er solle das Thema gefälligst in der Stadt lassen und nicht hierher mit in den Wald bringen, wurde ihm geheißen. Tramps pflegen also auch eine besondere Art der Konversation. Aber ist eine Trampsiedlung auch heute noch von Weitem zu erkennen?
„Das ist sie, auch wenn es immer schwieriger wird. Denn früher ist man natürlich nicht mit einem dicken Auto in die Siedlung gefahren, und dort gab es auch keinen Rasenmäher oder eine Satellitenschüssel. Diese Gegenstände sind heute immer häufiger zu sehen. Über anderen Hütten weht aber immer noch die Flagge der Siedlung, und das bedeutet, dass man sich dort an einem Platz mit langer Tramps-Geschichte befindet.“Allerdings sind die wackeren Burschen der Trampbewegungen zu Zeiten des Sozialismus längst in die Jahre gekommen:
„Die Leute werden älter, und diejenigen, die hier vor vielleicht 60 Jahren zu den Gründern einiger Siedlungen gehört haben, sind nicht mehr gut bei Kräften. Sie schaffen es nicht mehr, mit dem Zug anzureisen, also kommen sie mit dem Auto. Zumeist bringen sie auch noch einen Fernseher mit. Und so musss man sagen, dass ein Teil der großen Tramps-Gemeinde etwas bequem geworden ist.“
Einige Grundsätze aber sind geblieben. So muss ein echter Tramp mit dem Zug in seine Siedlung fahren oder – noch romantischer – mit dem Kanu. Die letzten Meter geht er natürlich zu Fuß. Und auch das Gitarrenspiel und Singen auf der Zug- oder Bootspartie gehören unzweifelhaft dazu. Deshalb glaubt Fojtík, dass seine Fotos auch ihren Zweck erfüllen werden:
„Eines meiner Ziele war es, zu zeigen, dass das Tramping auch noch weitere 100 Jahre hierzulande bestehen wird. Als ich jene Orte aufgesucht habe, die meine Eltern mit mir zusammen früher besucht haben, traf ich auf eine gewisse Endzeitstimmung. Es war zu sehen und zu spüren, dass sich auch die letzten Vertreter dieser Siedlungen schon bald von dort verabschieden. Weil ich aber kreuz und quer durch Tschechien gereist bin, habe ich auch neue Orte entdeckt, die jetzt von Tramps der jungen Generation besiedelt werden.“