125 Jahre tschechische Sozialdemokratie

Am 7. April 1878 versammelten sich in einer Gaststätte im Prager Vorort Brevnov rund ein Dutzend Männer, die bei dieser Gelegenheit die tschechoslawische sozialdemokratische Partei gründeten, wie die Partei damals hiess. Damit begann die nun mehr 125jährige bewegte Geschichte der tschechischen Sozialdemokratie, in der sich Zeiten des politischen Erfolgs mit Jahren des Verbots und der Verfolgung abwechselten.

Am 7. April 1878 versammelten sich in einer Gaststätte im Prager Vorort Brevnov rund ein Dutzend Männer, die bei dieser Gelegenheit die tschechoslawische sozialdemokratische Partei gründeten, wie die Partei damals hiess. Damit begann die nun mehr 125jährige bewegte Geschichte der tschechischen Sozialdemokratie, in der sich Zeiten des politischen Erfolgs mit Jahren des Verbots und der Verfolgung abwechselten. Die heutige Tschechische Sozialdemokratische Partei CSSD sieht sich in der Tradition dieser ersten tschechischen Arbeiterpartei und feierte diese Woche ihren 125. Geburtstag, auch wenn die Partei über Jahrzehnte verboten war und nicht existierte. Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde das Lied Rudy prapor ­ Rote Fahne Parteihymne und blieb dies bis zum Verbot der Partei im März 1939.

Am 7. April 1878 trafen sich also rund ein Dutzend Männer in einem Prager Gasthaus, um eine Partei zu gründen. Ich fragte den Historiker der Sozialdemokratischen Partei, Dr. Jiri Malinsky, wie man sich diese Gründung vorstellen kann und welche Bedeutung sie hatte:

"Der Brevnover Kongress 1878 fand in tiefer Illegalität statt. Er war als eine Kneipengesellschaft getarnt. An ihm nahm aber auch der damalige Vorsitzende der SPÖ Ferdinand Schwarz teil, der aus dem nordböhmischen Reichenberg/Liberec stammte. Der Kongress bildete den Beginn der tschechischen Arbeiterbewegung als selbstständiges Element und war somit auch Ausgangspunkt der Emanzipation der Tschechen."

Bereits im April 1874 war mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs die erste Partei für Arbeiter auf dem Boden der Habsburger Monarchie gegründet worden. Anwesend waren bei dieser Gelegenheit auch zehn tschechische Delegierte. Dennoch beschlossen die tschechischen Sozialdemokraten vier Jahre später eine eigene Partei zu gründen. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens wurden Sozialdemokraten aller Nationen in der Habsburger Monarchie verfolgt. Auch die Teilnehmer jenes Gründungskongresses im Gasthaus zur Kastanie wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt.

Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts änderte die Wiener Regierung ihre Politik gegenüber der Partei, die in den folgenden Jahren zu einer Massenpartei anwuchs. Diese forderte die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Nationale Fragen spielten in ihrem Programm zunächst keine Rolle. 1907 wurde die Forderung der Sozialdemokraten endlich erfüllt: das freie und gleiche Wahlrecht wurde eingeführt. Die tschechischen Sozialdemokraten konnten ihren ersten grossen politischen Erfolg feiern. Mit 24 Abgeordneten stellten sie ein Viertel der tschechischen Abgeordneten im Wiener Reichstag und waren somit die stärkste tschechische Partei. Vier Jahre später, 1911, wiederholten sie ihren Wahlerfolg und zogen mit 26 Abgeordneten nach Wien.

Ebenso wie in der gesamten Habsburger Monarchie spielte auch in der Sozialdemokratischen Partei die nationale Frage eine immer grössere Rolle. Die Sozialdemokraten standen vor einem Dilemma: sollten sie sich für eine multinationale Habsburger Föderation entscheiden oder aber für unabhängige Nationalstaaten ­ war die nationale Solidarität stärker oder die Klassensolidarität. Auch die tschechischen Sozialdemokraten waren sich in dieser Frage nicht einig, wie Dr. Jiri Malinsky erläutert:

"Wir können sagen, dass vor dem Ersten Weltkrieg zwei Strömungen um die Mehrheit kämpften: die austromarxistische Strömung, die ihre Basis in der Habsburger Monarchie sah. Und die nationale Richtung. Die offizielle Parteiführung der tschechischen Sozialdemokraten stand auf der Position des österreichisch-ungarischen Aktivismus. Ihre Überlegungen sind im Grunde genommen heute wieder aktuell. Sie gingen davon aus, dass grosse Staaten auch grosse Märkte darstellen und somit gewisse soziale Sicherheiten garantieren. Ziel des national orientierten Parteiflügels war dagegen die Entstehung eines eigenen tschechischen Staates. Im Sommer 1918 gab die Geschichte letzteren Recht."

Ganz unbeteiligt waren die Sozialdemokraten an der Gründung der selbständigen Tschechoslowakei nicht: zu tausenden kämpften sie für diese sowohl im In- als auch Ausland.

Die 1918 entstandene tschechoslowakische Republik brachte den tschechischen Sozialdemokraten zunächst grossen politischen Erfolg und Einfluss: Sie stellten mit Vlasitimil Tusar den Ministerpräsidenten sowie weitere vier Minister. Viele ihrer Forderungen wurden erfüllt, wie z.B. die Einführung des 8-Stunden-Tages und der Arbeitslosenunterstützung, die Förderung von Wohnungsbau und Krankenversicherungen sowie die Abschaffung von Adel und Titeln. Aus den ersten Parlamentswahlen 1920 gingen die Sozialdemokraten als klarer Sieger hervor. Ein Viertel der Wähler hatte für sie gestimmt.

"Einen gewissen Höhepunkt in der Existenz unserer Partei stellen die Jahre 1918 bis 1921 dar. Doch damals wurde die historische Gelegenheit verpasst, eine wahre linke Massenpartei zu gründen, die in ihrer Grösse und Bedeutung der deutschen SPD oder österreichischen SPÖ gleichkäme."

Im Mai 1921 kam es zu einer endgültigen Abspaltung des linken Parteiflügels. Dieser gründete daraufhin die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. Für die Sozialdemokraten war dies ein harter Schlag: bei den Parlamentswahlen von 1925 erhielten sie lediglich 8 Prozent der Stimmen, die Kommunisten dagegen 13 Prozent.

Im ersten Jahrzehnt der Tschechoslowakei spielte bei den tschechischen Sozialdemokraten das nationale Element eine grosse Rolle. Sie fühlten sich verantwortlich für den Aufbau der Republik. Erst 1928 begannen deutsche und tschechische Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei zusammen zu arbeiten.

"Auf dem Parteikongress in Prag Smichov 1928 begann man an Erfahrungen aus Österreich-Ungarn wieder anzuknüpfen. Danach waren sowohl die tschechische als auch die deutsche sozialdemokratische Partei de facto eine Partei. Ein kleines Detail macht dieses vielleicht deutlich: Im Parlament ging ein tschechischer Vertreter normalerweise in den Club der deutschen Sozialdemokraten und referierte dort in Deutsch. Deutsche Vertreter wiederum referierten in Tschechisch im tschechischen Club. Die Beziehung zwischen den beiden Parteien war in den 30er Jahren sehr eng, man kann sagen, dass es fast zu einer Vereinigung kam."

Zwischen 1929 und 1938 waren die beiden sozialdemokratischen Parteien an allen Regierungen beteiligt. Die fruchtvolle Zusammenarbeit beendete das Münchner Abkommen im September 1938. Während der Münchner Krise standen die tschechischen Sozialdemokraten geschlossen hinter Staatspräsident Benes.

Die tschechische Sozialdemokratische Partei löste sich im Dezember 1938 freiwillig auf. An ihrer Stelle entstand die Nationale Partei der Arbeit, deren Existenz nach der Okkupation der Böhmischen Länder am 15. März 1939 beendet wurde.

"Während der Okkupation kämpften die Sozialdemokraten gegen die deutschen Besatzer. Es wird geschätzt, dass 10.-12.000 von ihnen starben, sowohl im heimischen Widerstand als auch in den Reihen der tschechoslowakischen Soldaten, die auf Seiten der Alliierten kämpften".

In den ersten zwei Okkupationsjahren existierte eine illegale sozialdemokratische Partei ­ die Vorkriegsparteiführung hatte sich entschlossen, im Lande gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen. Ein gross angelegter Schlag gegen die tschechischen Sozialdemokraten beendete 1941 die Tätigkeit der illegalen Partei. Während des Zweiten Weltkriegs erfolgte eine Annährung der tschechischen kommunistischen und sozialdemokratischen Exilpolitiker. Die Rolle und der Einfluss der Kommunisten wuchsen nach dem Kriegseintritt der Sowjetunion. Während Verhandlungen einigten sich Vertreter beider Parteien auf ein gemeinsames Vorgehen nach Kriegsende.

In der ersten Nachkriegsregierung stellten die Sozialdemokraten mit Zdenek Fierlinger den Regierungschef sowie drei weitere Minister. Doch die ersten Parlamentswahlen im Mai 1946 brachten eine Enttäuschung: die Sozialdemokraten erhielten nur 15 Prozent der Stimmen und landeten auf Platz vier- die Kommunisten hatten damals 40 Prozent erhalten. Die Wahlniederlage wurde mit innerparteilichen Diskussionen erklärt. Während eine linke Gruppe eine stärkere Anlehnung an die nach mehr Macht strebenden Kommunisten forderte, setzte sich eine gemässigte Gruppe für die Beibehaltung der demokratischen Ideen und des westlichen Parlamentarismus ein.

"Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei entstanden zwei Lager, deren Auseinandersetzungen in zwei Begebenheiten gipfelten: Auf dem Brünner Parteitag im November 1947 wurde der prokommunistische Vorsitzende Zdenek Fierlinger nicht wieder gewählt, sondern sein ideologischer Gegenspieler Bohumir Lausmann, der für eine Zusammenarbeit mit den anderen, demokratischen Parteien war. Und dann während des Putsches der Kommunisten zwischen dem 20.und 25. Februar 1948: damals wurde ein regelrechter Kampf um das Haus der Sozialdemokraten geführt."

Obwohl auf dem Brünner Parteikongress die gemässigte Linke gesiegt hatte, die gegen eine zu enge Zusammenarbeit mit dem Kommunisten war, spielten die drei sozialdemokratischen Minister während jener schicksalhaften Tage im Februar 1948 eine unrühmliche Rolle. Durch ihr unentschlossenes Verhalten trugen sie zur Machtergreifung der Kommunisten bei. Dies ist ein Kapitel in der Geschichte der tschechischen Sozialdemokraten, das nur ungern geöffnet wird, wie Parteihistoriker Jiri Malinsky zugibt:

"Ich denke, dass der Februar 1948 ein immer noch nicht abgeschlossenes Trauma der tschechischen Gesellschaft ist - und nicht nur der Sozialdemokraten."

Im Juni 1948 wurde die offizielle Geschichte der tschechischen Sozialdemokraten für lange 41 Jahre unterbrochen. Auf einem gemeinsamen Kongress wurde die Partei mit der Kommunistischen Partei vereinigt. Die meisten Sozialdemokraten lehnten diese Zwangsvereinigung allerdings ab. Von den damals 370.000 Mitgliedern trat nur rund ein Drittel in die Kommunistische Partei ein. Kurz vor der Vereinigung war bereits im Ausland eine Exilpartei gegründet worden, die die Tradition der tschechischen Sozialdemokratie aufrechterhalten sollte. Dies gelang in der Tat:

Am 19. November 1989, also zwei Tage nach der Studentendemonstration, die die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei auslöste, wurde die Sozialdemokratische Partei in der Tschechoslowakei wieder ins Leben gerufen. Die Genossen mussten allerdings erkennen, dass aller Anfang schwer ist. Bei den ersten freien Parlamentswahlen im Mai 1990 erhielten sie gerade mal 2 Prozent der Stimmen und zogen nicht ins Parlament ein. Bei den nächsten Jahren im Juni 1992 erging es ihnen etwas besser. Mit 6,5 Prozent der Stimmen erhielten sie 10 Mandate. Auf dem Parteikongress im Mai 1993 übernahm Milos Zeman den Vorsitz. Fünf Jahre später führte er die Partei zum Wahlsieg und in die Regierung.

Und damit sind wir am Ende unseres kurzen Überblicks über die Geschichte der tschechischen Sozialdemokraten.