18 Jahre Samtene Revolution: „Im Unterricht lernen wir nichts darüber“
Der 17. November 1989 in Prag: Kommunistische Polizeieinheiten prügeln eine Studentendemonstration nieder. Den Sturz des Regimes halten die Polizeiknüppel jedoch nicht mehr auf, die Samtene Revolution kommt ins Rollen. 18 Jahr ist das her, Revolution und Demokratie in Tschechien sind also gerade volljährig geworden. Was wissen aber die Jugendlichen, die heute 18 Jahre alt sind, also im Revolutionsjahr geboren wurden, von den damaligen Ereignissen und dem Kommunismus? Interessiert sie das Thema überhaupt und können sie ihre Eltern dazu fragen? Wie wird in der Schule darüber unterrichtet? Till Janzer hat sich dazu mit sechs Schülern eines Prager Gymnasiums unterhalten und zudem eine Geschichtslehrerin befragt.
Als die Revolution begann, lag er - wie auch seine fünf Mitschüler am Gymnasium Voderadska im Prager Stadtteil Strasnice - noch in den Windeln. Doch heute sind sie 18 und dürfen mittlerweile über die politischen Geschicke mitbestimmen. Eine wichtige Generation also, denn sie hat als erste den Kommunismus nicht mehr selbst erlebt. Und sie will mit Sicherheit auch nicht dorthin zurück, wenn man die Aussagen hört.
„Ich bin Zuzka. Ich verbinde mit dem Datum auch das Ende des Totalitarismus, aber dazu noch – und das ist für uns alle heute wichtig - die Meinungsfreiheit. Die gab es früher gar nicht.“
„Wenn erst wieder Gerechtigkeit hier herrscht“ – mit diesem Stück trat das Spiritual kvintet Anfang Dezember 1989 bei den großen Demonstrationen auf der Prager Letná-Fläche auf. Heute ist diese Forderung längst erfüllt. Was ist von damals im Bewusstsein der heutigen Jugend. Die führende tschechische Tageszeitung „Mlada fronta Dnes“ veröffentlichte dazu vergangene Woche eine landesweite Umfrage. Sie hatte 1500 Schüler des Jahrgangs 1989 an Schulen unterschiedlichen Typs befragt. Das Ergebnis: Die heutigen 18-Jährigen haben durchaus Wissenslücken über die Zeit der Revolution. Nur eine Minderheit von 14 Prozent kann beispielsweise Marian Calfa als ersten Regierungschef nach den damaligen Demonstrationen richtig benennen. Das gehört allerdings zum Bereich „Faktenwissen“. Viel wichtiger seien ja eigentlich geschichtliche Zusammenhänge, heißt es. Und wie sieht es damit aus? Das Ergebnis der Umfrage ist auch da ernüchternd, ein gewisser Prozentsatz der Jugendlichen verbindet mit dem kommunistischen Regime nicht vorrangig Unfreiheit, sondern beispielsweise etwa Schlangestehen für Bananen. Die befragten Schüler des Gymnasiums Voderadska sind also nicht unbedingt repräsentativ. Woher aber haben sie ihr Wissen über damals? Zum Beispiel Martin:„Klar habe ich mit den Eltern darüber geredet. Sie glauben, dass Geschichte nicht vergessen werden darf und es durchaus passieren kann, dass so etwas sich irgendwann einmal wiederholt.“„Ich heiße Tereza. Über den Kommunismus habe ich viele Informationen von den Eltern, wir haben zu Hause ausführlich darüber geredet, weil sie die Zeit selbstverständlich erlebt haben.“
„Ich bin Ondra. Ich würde sagen, dass insgesamt - anlässlich der ganzen Jahrestage - in den Medien, und vor allem im Fernsehen, eine ganze Reihe Sendungen auf die historischen Ereignisse zurückkommen. Da wird uns Jüngeren erklärt, wie es damals war.“
„Ich möchte niemals wieder dorthin zurück, als es uns so schlecht ging“, sang unmittelbar nach der Wende die Band „Lucie“. Wenn man das auch heute noch unterstreichen will, reicht es dann, dass die heranwachsende Generation ihr Wissen von den Eltern und aus der Presse bekommt? Oder sollte nicht auch an den Schulen über diesen Wendepunkt der tschechischen oder besser tschechoslowakischen Geschichte unterrichtet werden? Dazu Tereza:
„Bis zu der Zeit sind wir noch nicht gekommen und das finde ich schade. Ich weiß nicht, ob der Geschichtsunterricht überhaupt so weit reichen wird. Dabei ist das der Teil der Geschichte, der uns am nächsten ist und über den wir mehr wissen sollten, weil er in die Gegenwart reicht“, beklagt die Schülerin.Ilona Parizkova ist Geschichts- und Tschechischlehrerin am Gymnasium Voderadska. Wie sieht sie das?
„Leider, glaube ich, wird über diese Zeit höchst selten unterrichtet. Wir haben bereits Probleme, bis zu den 50er und 60er Jahren zu kommen, geschweige denn bis in den November 1989. Es werden aber freiwillige Seminare zur modernen Geschichte angeboten. Das ist an fast allen tschechischen Gymnasien der Fall. Dort besteht auch die Zeit zu tieferen Analysen, das ist kein reiner Unterricht. Aber es kann nur eine begrenzte Zahl Schüler an den Seminaren teilnehmen. Alle Schüler werden auf diese Weise nicht erreicht.“
Eltern, die Medien und freiwillige Seminare. So erfahren die Schüler selektiv über Kommunismus und Revolution. Es gibt aber auch solche, deren Eltern nichts dazu sagen wollen, das ist nicht anders als in Deutschland nach dem Naziregime. Auch das hat die Zeitungsumfrage ergeben. Und nicht jeder Jugendliche liest an den richtigen Stellen in der Zeitung, hört die entsprechenden Radiosendungen oder sieht aufmerksam fern. Andere machen vielleicht lieber Sport, Musik oder gar nichts, anstatt noch zusätzlich Geschichte zu pauken. Aber wenn die Schüler trotzdem über Kommunismus und Revolution lernen wollen, was dann? Martin hat nachgehakt:
„Ich habe unsere Lehrerin gefragt und sie sagte: Um das im Geschichtsunterricht durchzunehmen, dürfte kein Zeitzeuge mehr leben. Das können wir nicht im Unterricht machen.“
Auf der einen Seite also die Jugendlichen, die den Kommunismus nicht mehr aus eigener Anschauung kennen; auf der anderen Seite Lehrer, die über das Thema hinweggehen, weil sie... Ja warum eigentlich? Was wäre denn, wenn die Schüler einmal richtig nachbohren würden: Was haben Sie, Herr Lehrer oder Frau Lehrerin, damals eigentlich gemacht? Zuzka, Ondra und Tondra sind sich einig: Nein, das sei eine viel zu persönliche Frage, das hätten sie nicht gefragt, das wäre wohl zuviel für die Lehrer.
Es scheint, ganz so aufmüpfig wie die 68er in Deutschland sind die heutigen tschechischen Jugendlichen wohl nicht. Zumindest nicht am Gymnasium Voderadska in Prag.