20 Jahre Freiheit und ein gewisser Van Rompuy
Die Woche stand voll und ganz im Zeichen des 20. Jahrestages der Samtenen Revolution. Das hat vor allem anderen auch die Kommentatoren der tschechischen Tageszeitungen beschäftigt. Und deshalb steht auch unser Medienspiegel ganz im Zeichen des Jahrestages. Außerdem: Stimmen zur Wahl des neuen EU-Präsidenten.
Patrick Gschwend: Ja, die Kommentatoren haben Bilanzen der vergangenen zwei Jahrzehnte gezogen, was das Zeug hält. Soll ich zuerst eine gute oder erst eine schlechte Bilanz vorstellen?
M.: Beginnen wir lieber erst mit der schlechten.
P.G.: Eine eher negative Bilanz zieht Jiří Leschtina von der „Hospodářské Noviny“. Wie es sich für seine eher wirtschaftlich ausgerichtete Zeitung gehört, nimmt er dabei eben die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den letzten 20 Jahren aufs Korn, dabei vor allem den Hergang der Transformation zum Kapitalismus.
Bei der Privatisierung seien es gerade die Leiter der kommunistischen Staatsbetriebe gewesen, denen es gelang, aus der Verfügungsmasse neue private Unternehmen aufzubauen und sich daran eine goldene Nase zu verdienen, schreibt Leschtina. Dass die „alten Strukturen“ weitaus mehr von der Revolution profitiert hätten als eine ganze Reihe neuer kleinerer und mittlerer Unternehmen, habe zu einer Desillusionierung großer Teile der Öffentlichkeit geführt. Leschtina fragt:
„Was sind wir für eine Gesellschaft, in der kommunistische Funktionäre oder ihre Söhne bei der Privatisierung zu Reichtum gelangen konnten, während Emigranten noch nicht einmal das Haus zurückbekamen, das ihnen gestohlen wurde, als sie vor der kommunistischen Diktatur geflüchtet sind?“
M.: Frühere Kommunisten – wir nennen sie ja oft „Wendehälse“ – haben die Gunst der Stunde genutzt und sich ehemaliges Staatseigentum unter den Nagel gerissen. Das klingt düster.P.G.: Ja, so könnte man das zusammenfassen.
M.: Aber Leschtina spricht dabei noch über die 90er Jahre. Seither hat sich viel getan in der tschechischen Wirtschaft.
P.G.: Das räumt er auch ein. Es gebe allerdings ein großes „Aber“, denn starke Handelskooperationen hätten erneut die Staatskassen angezapft:
„Bauunternehmen und andere Giganten bilden versteckte Kartelle, die unter wohlwollender Beobachtung von Politikern gemeinsame Strategien bei der Bewerbung um staatliche Milliardenaufträge vereinbaren. Kleinere Unternehmen bleiben wieder einmal außen vor.“
M.: Ein wahrer Schwarzmaler dieser Jiří Leschtina von der Hospodářské Noviny.
P.G.: Einen Lichtblick sieht er schon. Viele anständige Unternehmer hätten überlebt und würden sogar im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut verdienen.
M.: Apropos Lichtblick: Du hast noch eine positive Bilanz versprochen.
P.G.: Keine Angst! Die kommt sofort und ist von Robert Čásenský, dem Chefredakteur der „Mladá Fronta Dnes“. Er stellt zwar Probleme, wie Kriminalität, unmoralische Politiker oder Angst vor Job-Verlust gar nicht in Abrede. Die Tschechen hätten aber in den vergangenen 20 Jahren wichtige Lektionen gelernt, meint Čásenský:
„Wir haben gelernt, dass es nötig ist, Schwächeren zu helfen. Wir haben gelernt, dass Anderssein nicht schlecht sein muss. Wir haben aufgehört, Behinderte als minderwertig anzusehen. Wir haben gelernt, was Barmherzigkeit ist und den Zauber der guten Tat entdeckt. Wir haben verstanden, dass nicht jeder, der sich in sozialer Not befindet, ein Lump und Tunichtgut ist. Wir haben Toleranz und Mitgefühl und Hilfsbereitschaft erlernt. Sicher nicht alle, aber doch die überwältigende Mehrheit.“M.: Da schwingt Čásenský aber ordentlich mit der Pathos-Keule.
P.G.: Kann man so sagen. Und es geht noch weiter: Die Tschechen hätten wieder gelernt zu träumen, schreibt er. Und zwar zu träumen, wovon sie nur wollten: vom Erfolg im Beruf, davon ein Schloss zu bauen, ein Buch zu schreiben, eine Weltreise zu machen und so weiter. Und ich zitiere Čásenský noch einmal:
„Bei der großen Mehrheit bleiben das nur Träume, aber genau darin liegt das Wesen der Träume. Sie mögen irreal, verrückt oder sogar völlig geisteskrank sein, aber es sind Träume der Freiheit, und die theoretische Chance, dass sie sich erfüllen, ist heutzutage so groß, wie sie niemals zuvor war.“
M.: Patrick, das waren nun Bilanzen zu 20 Jahren Freiheit in Tschechien. Sind denn die Kommentatoren auch auf die Feiern eingegangen, mit denen der Jahrestag der Revolution begangen wurde?
P.G.: Sind sie. Der frühere Dissident und spätere Präsident Václav Havel war dabei der gefeierte Mann. Seine Rolle während und nach der Samtenen Revolution würdigten die meisten Kommentatoren. Aber auch Havel bekam sein Fett weg.
Die offenbar in Tschechien und Frankreich lebende Marta Davouze regt sich in der „Právo“ über die Besetzung des von Václav Havel am vergangenen Sonntag initiierte Gedenk-Konzert auf. Dort waren zum Beispiel Suzan Vega, Joan Baez und Lou Reed vertreten. Davouze vermisst den Tschechien-Bezug:
„Man würde doch erwarten, dass bei einem thematisch so ausgerichteten Konzert, auch Marta Kubišová auftritt, dass Lieder von Karel Kryl erklingen. Alle, die hierher gehört hätten, wurden vertreten durch einen kurzen Auftritt von Jaroslav Hutka. Warum? Warum wurden zur Feier des 17. November amerikanische Sänger eingeladen? Was haben Amerikaner mit unserem 17. November gemeinsam?“
M.: Vielleicht wurde Davouze ja milder gestimmt durch das große offizielle Konzert in der Prager Innenstadt am Feiertag selbst. Dort traten ja fast nur tschechische Künstler auf. Lassen wir aber den Jahrestag mal beiseite. Wie sieht es mit anderen Themen aus? Zum Beispiel mit der Wahl des neuen EU-Präsidenten Herman van Rompuy am Donnerstagabend. Gab es dazu schon Reaktionen?P.G.: Gab es. Zum Beispiel von Martin Ehl in der Hospodářské Noviny. Für ihn ist der Name des EU-Präsidenten nebensächlich:
„Wenn die europäische Integration den Bürgern der Mitgliedsländer helfen soll die Fallen der Zukunft zu meistern, wenn sie die globale Rolle Europas stärken soll, dann braucht sie eine neue Vision, neue positive Munition, und keineswegs nur technokratisch-bürokratische Meditation. Und dabei ist es gleichgültig, ob diese Vision jemand mit dem Namen Van Rompuy, Sarkozy, Merkel oder sonst irgendwer mitbringt.“
Martin Komárek in der Mladá Fronta Dnes fragt: „Herman van Rompuy. Wer?“
„Die Idee, der erste EU-Präsident würde ein Politiker von Weltformat wie Tony Blair, wurde nicht verwirklicht. Mit Barack Obama oder Vladimir Putin wird ein Mann verhandeln, den diese wohl bis jetzt noch nicht einmal kannten.“
M.: Er glaubt also, Van Rompuy sei ein politisches Leichtgewicht?
P.G.: Muss nicht sein, schreibt Komárek, und er zieht eine Parallele nach Tschechien:
„Was, wenn Rompuy überrascht? Wer hat denn schon bei uns vor wenigen Monaten einen gewissen Statistiker Jan Fischer gekannt?“M.:…, der jetzt tschechischer Premierminister ist.
P.G.:… und der sich großer Beliebtheit erfreut und großes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Aber zurück zu Van Rompuy. Dessen Wahl könne auch die Tschechen freuen, meint Martin Komárek. Und zwar deshalb:
„Das formale Oberhaupt des 500-Millionen-Kolosses EU kann auch ein Vertreter eines mittelgroßen Staates werden. Eines Staates wie zum Beispiel auch Tschechien einer ist.“