Alltagsgegenstände und ein Krippenspiel: Archäologische Funde aus NS-Lagern auf tschechischem Gebiet

Archäologische Funde aus NS-Lagern auf tschechischem Gebiet

Während des Zweiten Weltkriegs haben die Nazis auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens eine große Zahl an Lagern betrieben. Es waren Außenstellen der KZs, Lager für Kriegsgefangene oder für Zwangsarbeiter. An viele dieser Stätten erinnert heute nichts mehr. Deswegen haben sich tschechische Archäologen auf die Suche nach Überresten gemacht. Was sie gefunden haben, wird derzeit in einer Ausstellung im Schloss von Panenské Břežany / Jungfern Breschan vor den Toren Prags gezeigt. Dies war der Ort, an dem Reinhard Heydrich während seiner Zeit als stellvertretender Reichsprotektor residierte. Und selbst dort gab es ein kleines NS-Lager. Was haben die Archäologen alles gefunden?

Jan Hasil | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Es sind vor allem Alltagsgegenstände, die zutage gefördert wurden. Sie erzählen zum Beispiel von der Ernährungslage oder vom Alltag der Menschen in den Lagern. Jan Hasil ist Archäologe an der tschechischen Akademie der Wissenschaften. Gegenüber Radio Prag International erläutert er:

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

„Obwohl unsere Ausstellung eher klein ist, markiert sie einen Durchbruch. Denn die archäologischen Forschungen zu den NS-Lagern laufen erst seit zehn Jahren. Zwei Teams beschäftigen sich damit. Ich gehöre zu einem gemeinsamen Team der Akademie der Wissenschaften in Prag und des nationalen Denkmalpflegeamtes in Ústí nad Labem. Die andere Arbeitsgruppe ist am Lehrstuhl für Archäologie der Westböhmischen Universität in Pilsen angesiedelt.“

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Konkret werden in der entsprechenden Ausstellung fünf sehr unterschiedliche Lager vorgestellt…

„Die Unterschiede ergeben sich schon aus dem Zweck, den die jeweiligen Lager hatten, sowie aus der Art der Forschungsarbeit. Außerdem sind es nur fünf solche Einrichtungen und damit vielleicht gerade einmal ein Prozent aller Orte, an denen auf heutigem tschechischem Boden Menschen zum Beispiel für die Zwangsarbeit und allgemein zur Internierung zusammengeführt wurden“, so Hasil.

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

KZ-Nebenlager in Böhmen

KZ-Nebenlager in Svatava | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

Einer der Orte ist Svatava / Zwodau, nördlich von Sokolov / Falkenau in Nordwestböhmen. Dort entstand im Dezember 1943 ein Frauenlager, das später dem KZ Flossenbürg in der Oberpfalz unterstellt wurde. Laut den Informationen der Gedenkstätte in Flossenbürg durchliefen insgesamt 1350 Frauen das Nebenlager in Böhmen, die meisten kamen aus Ungarn, Deutschland und Frankreich. Und weiter Jan Hasil:

Zaunsäule im ehemaligen KZ-Nebenlager Svatava | Foto: Lubor Ferenc,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0 DEED

„Sie wurden dort aus rassistischen und politischen Gründen gefangen gehalten. Die Frauen mussten für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten. Das Interessante an diesem Lager ist, dass regionale Forscher in den 1970er und 1980er Jahren dort viele Artefakte gefunden haben. Diese sind uns vom Museum in Sokolov geliehen worden. Die Historiker haben damals schon Kontakt aufgenommen zu den Überlebenden. Das heißt, es gibt zahlreiche Erinnerungen und auch einen Plan des gesamten Areals, der auf diese Weise entstand. Diese Sachen haben wir zusammengetragen. Denn das Lager selbst wurde von den amerikanischen Militärbehörden aus hygienischen Gründen zerstört. Nur ein Mahnmal erinnert noch an seine Existenz, aber etwa die Struktur dieses Ortes ist heute nicht mehr zu erkennen.“

KZ-Lager in Rolava | Quelle:  Tschechischer Geologischer Dienst Kutná Hora

Anders ist dies im Fall des Gefangenenlagers Rolava / Sauersack auf dem Hauptkamm des Erzgebirges. Es befand sich zwischen Boží Dar / Gottesgab und Horní Blatná / Bergstadt Platten bei einem stillgelegten Zinnbergwerk. Im Rahmen ihrer Autarkiebestrebungen begannen die Nationalsozialisten aber, dort wieder Zinnerz zu fördern. Dazu wurden ab 1940 auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Laut Hasil waren in Rolava bis zu 500 sowjetische sowie 150 französische und belgische Kriegsgefangene interniert, die Oberaufsicht hatte die deutsche Wehrmacht. Im Wald trifft man heute noch auf die Ruinen der ursprünglichen Anlage. Dort haben sich die Wissenschaftler auf die Suche nach Gegenständen begeben – und wurden fündig…

KZ-Lager in Rolava | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

„Wir haben die unterschiedlichen Gefangenengruppen, die hier waren, auch anhand der Grabungsfunde erkennen können. So fanden wir Bereiche mit unterschiedlichen Arten von Abfällen. Denn die Wehrmacht hat sich deutlich schlechter um die sowjetischen Gefangenen gekümmert, sie erhielten beispielsweise keine Pakete des Roten Kreuzes. Die Gefangenen aus dem Westen, besonders aus Frankreich, waren hingegen etwas besser dran. Sie bekamen von den Aufsehern bessere Nahrungsmittel, was uns vor allem die Küchenreste gezeigt haben. Zu diesen gehörten auch Rinderknochen. Zudem erhielten sie die erwähnten Pakete des Roten Kreuzes. Wie wir wissen, schickten die Familien den französischen Gefangenen zum Beispiel Trockenmilchpulver, Malzmehl oder auch Alkohol. Es waren also haltbare Lebensmittel mit einem hohen Nährwert“, schildert Jan Hasil.

Funde aus Rolava | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

In der Ausstellung zu sehen ist zum Beispiel eine der vielen Weinflaschen, die die Archäologen vor Ort fanden. Aber nicht nur das:

„Wir haben eine Sammlung von Hautcrèmes, die zu einem Teil deutscher, zum anderen französischer Herkunft sind. Das klingt zwar nach Luxus, hatte aber einen anderen Grund: Das Zinnerz hat die Haut der Gefangenen gereizt, und diese Ausschläge mussten behandelt werden. Außerdem haben wir unterschiedliche Medizinfläschchen ausgegraben. Vor allem die Mittel gegen Verdauungsprobleme zeigen, dass die Versorgung mit Lebensmitteln nicht gerade gut war.“

„Zigeunerlager“ in Lety bei Písek | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

Blechgeschirr für Kinder

Fundort in Lety bei Písek | Foto: Lucie Hochmanová,  Tschechischer Rundfunk

Im weiteren Teil der Ausstellung geht es um die Forschungsarbeiten der Archäologen aus Plzeň / Pilsen. Unter der Leitung von Pavel Vařeka haben sie besonders das sogenannte „Zigeunerlager“ in Lety bei Písek untersucht. Im Gegensatz zu den anderen Einrichtungen war dieses ursprünglich nicht von der deutschen Besatzungsmacht eingerichtet worden, sondern von den tschechischen Sicherheitsbehörden im „Protektorat Böhmen und Mähren“. Es entstand im Sommer 1942. Männer, Frauen und Kinder wurden dort gefangen gehalten. Diejenigen, die die unmenschlichen Bedingungen überstanden, wurden meist ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Archäologe Hasil:

Funde aus Lety bei Písek | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

„Interessant sind die Funde alltäglicher Dinge, die von den Menschen ins Lager mitgenommen wurden. Dazu gehören Blechgeschirr für Kinder oder Tassen, wie sie vielleicht noch unsere Oma haben könnte. Es ist das Einzige und Letzte, was aus den damaligen Haushalten der tschechischen Roma übrigblieb, denn die meisten haben den Völkermord an den Sinti und Roma nicht überlebt. Und jene, die doch zurückkamen, haben nichts mehr von ihrem ursprünglichen Besitz vorgefunden.“

„Zigeunerlager“ in Lety bei Písek | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

Zu den weiteren Exponaten der Ausstellung gehören etwa Kämme, Pfeifen oder auch ein Taschenmesser. Erstaunlich sind einige Spielfiguren.

Briefbeschwerer in Form eines Hundekopfs von Rolava | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

„Selbst in solchen Grenzsituationen wie in den Lagern haben die Menschen gespielt und waren erfinderisch. Wir zeigen zum Beispiel Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren aus dem Lager in Lety. Oder auch ein Knochenstück als Dominostein von französischen Gefangenen in Rolava sowie aus demselben Lager einen Briefbeschwerer in Form eines Hundekopfs, der aus Zinn gegossen wurde“, erläutert der Experte.

Krippenspiel aus Papier,  das im Frauenlager Svatava enstand | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

Nicht weniger interessant sei ein Krippenspiel aus Papier, das im Frauenlager Svatava entstand, und zwar zu Weihnachten 1944:

„In der Mitte befinden sich das Jesuskind in der Krippe sowie Maria und Joseph. Spannend ist aber, wer da alles nach Bethlehem kommt. Es handelt sich um Menschen, die in französische Trachten gekleidet sind – und zwar aller Regionen, aus denen die Gefangenen kamen. Darunter ist aber ebenso eine Gefangene in der typischen gestreiften Häftlingsmontur mit Holzschuhen. Und über dem Kriegs-Krippenspiel schwebt anstelle eines Kometen oder eines Engels ein geflügelter Davidstern, auf dem ein einziges Wort steht: Pax.“

Frauenlager Svatava | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

Pax, das ist das lateinische Wort für Frieden. Die Archäologen aus Pilsen berichten in der Ausstellung zudem über ihr neuestes Forschungsobjekt: dem wohl größten Lagerkomplex im Zweiten Weltkrieg auf tschechischem Boden. Dieser entstand beim Städtchen Holýšov / Holleischen in Westböhmen. Laut der Gedenkstätte Flossenbürg mussten die dort untergebrachten Frauen in der Munitionsfabrik der Metallwerke Holleischen GmbH (Werk II) arbeiten und kurz vor Kriegsende auch noch beim Bau von Befestigungsanlagen. Die Männer wurden wiederum dafür eingesetzt, einen Übungsschießstand zu errichten. Insgesamt entstanden in Holýšov sechs unterschiedliche Lager. Jan Hasil zählt sie auf:

Lager bei Holýšov | Foto:  Archäologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

„Ein Außenlager für Frauen des KZ Flossenbürg, ein weiteres für Männer, zwei Gefangenenlager, ein Lager des deutschen Arbeitsdienstes sowie eines für Mädchen und Frauen, die Zwangsarbeit leisten mussten. Die Gesamtfläche des Komplexes umfasste sieben Hektar. Für die Unterbringung der Arbeitssklaven wurden zum Teil bestehende Gebäude genutzt und umgestaltet. So waren die weiblichen KZ-Häftlinge im ehemaligen Gutshof eingesperrt. Für die Gefangenen wurde hingegen auf der grünen Wiese ein neues Lager aufgebaut.“

Lager bei Holýšov | Foto:  Geschichtshaus des Holýšov-Gebiets

Zwangsarbeit für Lina Heydrich

Oberes Schloss in Panenské Břežany | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Ganz anders hingegen das Zwangsarbeiterkommando auf dem Schlossgut in Panenské Břežany, in dem nun auch die Ausstellung gezeigt wird. Dort entstand eines der kleinsten Lager auf tschechischem Boden. Der Ort liegt 15 Kilometer nördlich des Prager Stadtzentrums. Vor dem Krieg gehörten die beiden Schlösser des dortigen Gutes jeweils einer jüdischen Unternehmerfamilie. Nach der Besetzung der sogenannten „Rest-Tschechei“ durch Hitler wurden die Bauten konfisziert. In das untere Schloss zog Reichsprotektor Konstantin von Neurath ein, und später löste ihn sein Nachfolger Reinhard Heydrich ab. Nach einem Attentat am 26. Mai 1942 starb der Nazi-Funktionär, die Witwe Lina Heydrich blieb jedoch auf dem Schloss wohnen – sie erhielt lebenslange Nutzungsrechte.

Lina und Reinhard Heydrich | Foto:  Bundesarchiv,  Bild 146-1972-039-24,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0 DE

„Für die wichtigsten Umbauten wurde Lina Heydrich ab Juli 1942 ein Kommando jüdischer Gefangener aus dem KZ Theresienstadt zur Seite gestellt. Nach Ende der Arbeiten wurde dieses wieder abgezogen. Für die Gefangenen hatte das tragische Folgen. Sie wurden in die Vernichtungslager deportiert, die meisten von ihnen überlebten nicht. 1944 wurde dann ein anderes Arbeitskommando dort hingeschickt. Es handelte sich um 15 Zeugen Jehovas, die ihres Glaubens wegen inhaftiert waren. Zu ihnen hatte Lina Heydrich Vertrauen, weil der Glauben ihnen die Anwendung von Gewalt verbot. Sie leisteten Hilfsarbeiten rund um das Schloss – und das unter relativ guten Bedingungen und mithilfe der örtlichen Bewohner. Die Männer überlebten den Krieg. Sie bildeten eines der kleinsten Lager auf unserem Gebiet. Aber es gab noch ein kleineres – und zwar ein Gefangenenlager auf Schloss Jezeří, das weniger als zehn Menschen fasste“, weiß Jan Hasil.

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Von den Zeugen Jehovas, die auf dem Schlossgut Panenské Břežany arbeiten mussten, zeigt die Ausstellung auch ein Foto. Dieses entstand nach der Befreiung 1945.

Die fünf Lager, die in der Schau präsentiert werden, bildeten jedoch nur einen Bruchteil des gesamten NS-Lagersystems auf tschechischem Boden. Wie viele Internierungseinrichtungen damals hierzulande bestanden, können die Historiker bis heute jedoch nicht sagen. Archäologe Hasil erläutert:

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

„Es ist unglaublich schwer, das alles zusammenzutragen. Die Frage ist auch, welche Kategorie an Lagern man berücksichtigen will. Eine grobe Auflistung entstand unmittelbar nach dem Krieg, im Rahmen von Umfragen. Aus allen Bezirken wurden dem Korps der Nationalen Sicherheit gemeldet, welche Lager jeweils bestanden und wo Todesmärsche stattgefunden hatten. Daraus entstand der Fonds der Gefängnisakten zu Okkupationszeiten, der im Nationalarchiv in Prag aufbewahrt wird. Eine Möglichkeit bestünde darin, diesen wissenschaftlich zu untersuchen. Ursprünglich entstand er für die mögliche strafrechtliche Verfolgung von Tätern. Aber er ließe sich auch für unsere Zwecke nutzen.“

Ausstellung „Lager 1939-1945: Konzentrations-,  Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International

Die Ausstellung hat den Titel „Lager 1939-1945: Konzentrations-, Arbeits- und Gefangenenlager auf tschechischem Gebiet aus der Sicht der Archäologie“ (Tábory 1939-45: Koncentrační, pracovní a zajatecké tábory na našem území očima archeologie). Sie ist im oberen Schloss von Panenské Břežany zu sehen, und zwar noch bis 30. September dieses Jahres.

8
50.21295364004007
14.437102457552925
default
50.21295364004007
14.437102457552925