Anders als die anderen: Die tschechischen Piraten und das Dilemma der Regierungsbeteiligung
Keine andere Piratenpartei in Europa ist so erfolgreich wie die tschechische. Seit kurzem ist die einstige Protestpartei sogar in der Regierung vertreten. Die Diskussion um diesen Schritt wurde unter den Mitgliedern allerdings hart geführt. Schließlich ist die Parlamentsmehrheit der Regierungskoalition nicht von den Piraten abhängig. Vielmehr hat die Partei bei den Abgeordnetenhauswahlen Anfang Oktober einen deutlichen Misserfolg hinnehmen müssen, der den Gang in die Opposition gerechtfertigt hätte. Mit der Wiederwahl von Ivan Bartoš als Parteivorsitzender am 8. Januar wurde der Regierungskurs zwar fürs erste bestätigt. Eine echte Richtungsentscheidung steht der Partei aber erst noch bevor.
Ihre Regierungsbeteiligung haben die Piraten letztlich dem Wahlbündnis mit der Bürgermeisterpartei Stan zu verdanken. Zunächst als eindeutig stärkerer Partner gehandelt, konnten die Piraten bei den Parlamentswahlen im Oktober letztlich nur vier ihrer bisher 22 Mandate verteidigen. Stan aber hielt an der Bündnisabsprache fest und ermöglichte die gemeinsamen Regierungsverhandlungen.
Piratenchef Ivan Bartoš blieb trotz Wahlverlusten und Ernüchterung im Amt und erwirkte drei Ministerposten. Obwohl der Gang in die Opposition für einige seine Mitstreiter nach wie vor eine reale Möglichkeit darstellt, wurde der Koalitionsvertrag von den Mitgliedern mit 82,1 Prozent gebilligt. Und beim nationalen Parteiforum ist Bartoš nun als Vorsitzender bestätigt worden – wenn auch erst im zweiten Wahlgang. Der Politologe Ondřej Slačálek von der Prager Karlsuniversität kommentierte in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Das hat Sinn, es gibt aber auch Gegenargumente. Bartoš ist der Funktion des Parteivorsitzenden schon in gewisser Weise entwachsen und wirft einen Schatten auf andere Kandidaten mit Potential. Ihm droht das Schicksal eines Parteivaters vom Typ eines Václav Klaus bei den Bürgerdemokraten oder Miloš Zeman bei den Sozialdemokraten. Das will wahrscheinlich nicht einmal Bartoš selbst.“
Die Partei habe zu wenig herausragende Gesichter, meint der Wissenschaftler. Tatsächlich ist Ivan Bartoš – mit nur wenigen Unterbrechungen – seit dem Gründungsjahr 2009 ihr Vorsitzender. Die Bestätigung des 41-Jährigen in dieser Funktion zeige, dass die Positionen im möglichen Richtungsstreit nach den Abgeordnetenhauswahlen noch nicht ausformuliert seien, fährt Slačálek fort:
„Oft werden als Beispiel die deutschen Grünen angeführt, konkret der Streit zwischen den Fundis und den Realos. Aber selbst die Fundis der tschechischen Piraten haben Probleme zu benennen, was das Fundament ihrer Identität ist. Sicher gehören ein freies Internet und eine starke Basisdemokratie dazu. Beides braucht aber, um in ihrer Sprache zu bleiben, ein Update. Dieses gilt sowohl für die Fundis als auch für die Realos. Dieser grundsätzliche Streit liegt also noch vor der Partei.“
Interessant ist, dass Politologe Slačálek die Grünen zum Vergleich heranzieht und nicht die deutsche Piratenpartei. Denn die gibt es schließlich auch noch. Nach einem steilen Start, der sie 2011 ins Berliner Abgeordnetenhaus und im Folgejahr in drei weitere Landesparlamente führte, fristen die Piraten Deutschlands mittlerweile ein Dasein als Kleinstpartei. Ihre Mitgliederzahl ist von einst 35.000 auf etwa 6000 zusammengeschrumpft, und bei Bundestags- und Landtagswahlen holen sie selten mehr als 0,5 Prozent.
In der Gesellschaft angekommen
Anders die tschechische Piratenpartei. Sie hat mit etwa 1200 Mitgliedern ebenfalls eine überschaubare Größe, ist aber seit etwa fünf Jahren ein ernstzunehmender Mitspieler in der hiesigen Politiklandschaft. 2017 zog sie erstmals mit 10,8 Prozent ins Abgeordnetenhaus ein und ist seitdem auch in den Kommunalwahlen erfolgreich. In Prag stellen die Piraten mit Zdeněk Hřib den Oberbürgermeister, im Rest des Landes sind sie in acht von 13 Kreisräten vertreten. Im neuen Regierungskabinett führen sie die Ressorts Regionalentwicklung, Außenpolitik sowie Legislative. Nach Ansicht des Politologen Ladislav Mrklas von der privaten Hochschule Cevro Institut in Prag sind die Zeiten der Protestpartei definitiv vorbei:
„Sie wird eine Partei des Establishments. Das mögen die Piraten und vor allem einige radikale Mitglieder nicht gern hören. Aber Bartoš und die weiteren Vertreter der neuen Führung repräsentieren bereits eine breitere Schicht. Neben dem Parteichef gehören dazu eine Kommunalpolitikerin, eine Kreispolitikerin und auch Europaabgeordnete. Die Partei hat sich in den vergangenen Jahren also etabliert und versucht nun, dies in der neuen Führung zu reflektieren.“
Allein auf das Regierungsengagement dürfe man sich jetzt aber nicht konzentrieren, mahnt Ondřej Slačálek:
„Eine wichtige Aufgabe ist nun, ein Maß an innerparteilicher Demokratie aufrechtzuerhalten, das den Bedingungen einer gewachsenen Partei entspricht. Zudem sollten sich die Piraten ein stärkeres zweites Standbein auf der kommunalen Ebene aufbauen, damit sich der Parteikern nicht allein durch die Regierungsarbeit definiert und machtlos bleibt. Das Internet sollte als Instrument genutzt werden, diese beiden Ebenen zu verbinden. Es wäre sehr schade – und das nicht nur für die Piraten, sondern auch für die tschechische oder sogar die europäische Politiklandschaft – wenn sie resignieren und konform gehen würden. Wenn sie also eine Partei wie alle anderen werden würden.“
Slačálek verweist hier auf die „einzigartige Stellung“, die die tschechischen Piraten in Europa einnehmen. Keine andere der Schwesternparteien hat es bisher in eine Regierung geschafft. Und während im EU-Parlament nur ein deutscher Pirat sitzt, stellt Tschechien gleich drei Abgeordnete in Straßburg. Die hiesige Organisation konnte bei der Europawahl 2019 mit fast 14 Prozent das beste Ergebnis aller 13 Piratenparteien einfahren, die angertreten waren. An zweiter Stelle folgten die Luxemburger mit nur 7,7 Prozent. Zudem stellen die Tschechen mit Mikuláš Peksa den Vorsitzenden der Europäischen Piratenpartei.
Trotz ihrer Erfolgsbilanz der vergangenen Jahre sind die tschechischen Piraten derzeit aber alles andere als innerlich gefestigt. Politologe Ladislav Mrklas formuliert es so:
„Was für eine Partei sind die Piraten jetzt? Sind sie eine legale libertäre Linke mit einem sehr begrenzten Wählerpotential? Oder sind sie eine zentralistische Partei, die versucht, liberale Wähler aus den Mittelschichten zu gewinnen? Nach dem nationalen Mitgliederforum ist eine deutliche Neigung zur zweiten Variante erkennbar.“
Neue Anhänger könnte die Partei womöglich durch eine überraschende und nicht ganz freiwillige thematische Neupositionierung gewinnen, ergänzt Ondřej Slačálek:
„Die Aufteilung im aktuellen Abgeordnetenhaus sieht so aus, dass die Piraten das sozial einfühlsamste Programm von allen vertreten. Auch die Mitglieder, die dies gar nicht wollen, gehören nun plötzlich zu der Partei mit dem größten Sozialverständnis in der gesamten Mitte-Rechts-Regierung. Dies drängt die Piraten in eine linke Position. In der Koalition stehen sie jetzt als Linke da, ohne aber auf der politischen Landkarte in dieses Lager zu gehören.“
Neue Kernthemen finden
Um erneut ein Wählerpotential wie das im Jahr 2017 zu mobilisieren, müssten die Piraten neue Kernthemen herausarbeiten, glaubt der Wissenschaftler. In der Regierungskoalition seien diese mit nur drei von 17 Ministern aber schwer zu etablieren. Und da das Kabinett auch ohne die Piraten immer noch eine Parlamentsmehrheit von vier Stimmen hätte, sei der kleinste Koalitionspartner eigentlich „zahnlos“, urteilt Slačálek:
„Die Piraten sind sozusagen ein verzichtbarer Schmuck der Regierung. Ohne sie würde die Funktionsfähigkeit des Kabinetts nicht beeinträchtigt. Das ist eine undankbare Rolle, und das wäre sie selbst dann, wenn die Regierung von den Stimmen der Piraten abhängig wäre. Diese Erfahrung haben hierzulande schon die Sozialdemokraten und auch die Grünen unter Martin Bursík machen müssen.“
Den Entscheidungsträgern in der Piratenpartei dürfte dies bereits vor Bildung der Regierungskoalition bewusst gewesen sein. Es habe aber keine vernünftige Alternative gegeben, sagt Ladislav Mrklas:
„Sicher, die Piraten hätten in die Opposition gehen können. Aber sie haben nur vier Abgeordnete, und Ano ist als stärkste Oppositionspartei eine echte Übermacht und viel sichtbarer. In dieser Lage gab es für die Piraten keine gute Lösung. Also haben sie die weniger schlechte der beiden Möglichkeiten gewählt: den Eintritt in die Regierung. Ausschlaggebend wird nun die Entscheidung sein, ob sie – falls die Regierung durchhält – die ganzen vier Jahre dabeibleiben oder aber im richtigen Moment aussteigen.“
Falls die Piraten sich inhaltlich wieder genauer profilierten, könnten demnächst auch die Wahlprognosen wieder vorteilhafter ausfallen. Das wäre für Ivan Bartoš ein mögliches Signal, sich weniger auf das Regierungsengagement, als vielmehr auf die eigenen Unterstützer zu verlassen, findet Mrklas:
„Ich glaube, dass die Piraten wirklich etwas anzubieten haben. Das hat zuletzt das nationale Mitgliederforum gezeigt. Die Piraten sind immer noch eine etwas andere Partei. Eine Diskussion, wie sie zwischen den Kandidaten für den Parteivorsitz ablief, kennen wir so von anderen Parteitagen nicht. Es handelt sich immer noch um eine offene Plattform, in der sich diskutieren lässt über Themen, die anderswo nicht angesprochen werden, und in einer Form, die anderswo nicht möglich ist.“