Arbeitsbedingungen für Journalisten in Tschechien: Scheinselbständigkeit und kaum kollektiver Schutz
Wie arbeitet es sich für Journalistinnen in Tschechien? Und worin unterscheiden sich ihre Erfahrungen zu denen ihrer männlichen Kollegen? Diesen Fragen ist eine berufsinterne Studie nachgegangen, die die NGO Ženy v médíich (Frauen in Medien) in Auftrag gegeben hat. Sie legt bisher kaum vorhandene Daten vor zu fehlender Gendergerechtigkeit, sexuellen Übergriffen oder auch prekären Arbeitsverhältnissen.
Sie sei in den Redaktionen tschechischer Medien nicht immer auf große Bereitschaft gestoßen, an der Umfrage teilzunehmen. So berichtet es Marína Urbániková im Interview mit Radio Prag International. Die Soziologin und Medienexpertin von der Masaryk-Universität in Brno / Brünn ist die verantwortliche Autorin der Studie „Být novinářem a novinářkou v Česku“ (zu Deutsch: Journalist und Journalistin sein in Tschechien). Der entsprechende Fragebogen sei an die Leitungen der wichtigsten Nachrichtenmedien im Land verschickt worden, erläutert Urbániková:
„In manchen Redaktionen lief die Weiterleitung an das gesamte Team nicht ohne Probleme ab. Daher glaube ich, dass es nicht überall Freude über die Entstehung unserer Studie gab – was nicht besonders überraschend ist, denn die Umfrage zielte ja auf vorhandene Probleme ab. Uns interessierte etwa der rechtliche Rahmen der Anstellungen oder auch Erfahrungen mit sexueller Belästigung. Ich kann mir also vorstellen, dass unsere Aktivitäten auf Seiten der Unternehmensführungen oder Medienorganisationen nicht immer willkommen waren.“
Und das waren nicht die einzigen Hürden, die von den Forschern genommen werden mussten. Denn es handelte sich nicht um eine repräsentative Erhebung in der gesamten Bevölkerung. Stattdessen waren die Adressaten des Fragebogens ausschließlich Journalistinnen und Journalisten. Diese mussten laut Urbániková aber erst einmal systematisch erfasst werden…
„Eine Umfrage unter Journalisten lässt sich in Tschechien für gewöhnlich nicht leicht umsetzen. Denn es gibt keine Liste der aktiven Vertreter dieses Berufs. Zudem ist die Mitgliederbasis im Journalisten-Syndikat oder anderen Berufsorganisationen sehr klein. Also können wir nicht tun, was etwa unseren Kollegen im Ausland möglich ist: nämlich die landesweiten Verbände um die Verbreitung eines Aufrufs zum Ausfüllen des Fragebogens bitten. Daher mussten wir in gewisser Weise improvisieren. Wir haben also eine Liste mit den 50 größten Nachrichtenmedien in Tschechien erstellt.“
Diese Liste enthalte alle relevanten Printmedien, Rundfunk- und Fernsehstationen sowie auch rein digitale Nachrichtenportale, fügt die Soziologin hinzu. Der wiederholten Aufforderung, den Fragebogen auszufüllen, sind letztlich 472 Personen nachgekommen. Damit liege nun die zweitgrößte Studie dieser Art der letzten 30 Jahre in Tschechien vor, bilanziert Urbániková.
Viel hängt von der Unterfinanzierung der Medien ab
Organisationen wie Ženy v médíich sprechen schon lange davon, dass Journalisten und vor allem Journalistinnen in Tschechien mit bestimmten Problemen zu kämpfen hätten. Bislang hat es dazu aber kaum belastbare Daten gegeben. Dies ändert sich laut Autorin Urbániková dank der aktuellen Studie. Die Umfrage war in drei größere Bereiche aufgeteilt: Arbeitsbedingungen, Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben sowie Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Angriffen und Gewalt.
Zum Thema Arbeitsbedingungen stellte sich als größtes Problem die generelle Unterfinanzierung von Medien heraus. 88 Prozent der Befragten führten diesen Punkt an. Dies sei ein weltweites Problem und kein tschechisches Spezifikum, merkt Urbániková an. Und eine der Ursachen dafür sei der Trend, dass sich journalistische Inhalte auf das Internet verlagerten und die Menschen dafür zumeist nicht bezahlen wollten:
„Dem aktuellen Bericht des Reuters Institute zufolge zahlen nur 13 Prozent der Nutzer in Tschechien regelmäßig für Online-Nachrichteninhalte. Zudem trocknet die traditionelle Finanzierungsquelle für Medien aus, nämlich die Anzeigen und Werbungen. Denn auch diese verlagern sich ins Internet. An den Einnahmen aus zwei Dritteln aller weltweiten Annoncen verdienen aber nur noch drei Konzerne: Google, Meta und Amazon. Diese Gelder fehlen also in den Medienredaktionen, und das schlägt sich auf die weiteren von uns erhobenen Probleme nieder: geringe Verdienste, Arbeitsüberlastung, Unvereinbarkeit mit dem Privatleben.“
Die Redaktionsleitungen würden deshalb an Zusatzleistungen wie etwa Einrichtungen zur Kinderbetreuung sparen, ergänzt die Soziologin. Zudem entstehe eine finanzielle Unsicherheit, weil viele Journalistinnen und Journalisten in Tschechien als „falsche Freelancer“ arbeiten würden, wie es Urbániková ausdrückt. Diese hätten zwar einen Selbständigenstatus, würden aber eben nicht für verschiedene Auftraggeber arbeiten, sondern über Jahre hinweg ganz regulär in der gleichen Redaktion sitzen. Der Arbeitgeber spare durch die Verweigerung einer Festanstellung die Steuer- und Sozialabgaben…
„Dieses System der Scheinselbständigkeit (tschechisch: švarcsystém, Anm. d. Red.) ist in der tschechischen Medienbranche offenbar verbreitet, und ich bin froh, dass wir dazu endlich einige Zahlen erhoben haben. Betroffen sind derzeit 24 Prozent der Arbeitnehmer. Zwei Drittel von ihnen würden einem klassischen Angestelltenvertrag durchaus den Vorrang geben, wenn sie wählen könnten. Zudem gab ein Drittel aller Umfrageteilnehmer an, dass sie im Verlaufe ihrer journalistischen Karriere schon einmal innerhalb dieses Systems beschäftigt waren und einen Vertrag wollten, der ihnen aber verwehrt wurde. Die oft gehörte Behauptung, dass beide Seiten doch Vertragsfreiheit hätten, die Freelancer-Lösung allen entgegenkomme und es dabei keine Unfreiwilligkeiten gebe, ist meiner Meinung nach nicht immer zutreffend.“
Dieses Modell gefährde außerdem die journalistische Unabhängigkeit der Betroffenen, mahnt die Wissenschaftlerin. Denn wer ohne Kündigungsfrist oder ein Recht auf Abfindungszahlungen von heute auf morgen gefeuert werden könne, passe die Auswahl seiner Themen oder Interviewpartner womöglich einer äußeren Erwartungshaltung an. Zudem gebe es bei dem Ganzen auch einen Genderaspekt:
„Wer in Scheinselbständigkeit arbeitet, dem wird im Gegensatz zu einem klassischen Angestellten vom Arbeitgeber nicht garantiert, dass er nach der Elternzeit in die Arbeit zurückkehren kann. Dies hat üblicherweise schlimmere Auswirkungen auf Frauen, denn sie sind es, die in Tschechien für gewöhnlich zwei bis drei Jahre mit den Kindern zu Hause bleiben. Den Daten des tschechischen Statistikamtes zufolge wird das Elterngeld zu 98 Prozent von Frauen bezogen.“
Nicht zuletzt wegen Arbeitsbedingungen wie diesen besteht laut Urbániková im tschechischen Journalismusmetier ein hohes Maß an Unzufriedenheit. In der Analyse ist nachzulesen, dass 26 Prozent der Befragten einen Arbeitsplatzwechsel oder sogar den Ausstieg aus der Branche erwägen.
Sexuelle Belästigung: Alltag für Journalistinnen in Tschechien
Als drittes Themenfeld der Studie „Být novinářem a novinářkou v Česku“ hat das Forscherteam die Erfahrungen mit sexuellen oder gewaltsamen Übergriffen erhoben. Dazu Marína Urbániková:
„Sexuelle Belästigung scheint leider ein fester Bestandteil des Journalistenberufs für Frauen in Tschechien zu sein. Unseren Daten zufolge haben 76 Prozent der weiblichen Befragten damit mindestens einmal Erfahrung machen müssen. Von vergleichbaren Erlebnissen berichten nur 16 Prozent der Männer. Ähnlich auffällig ist das Verhältnis bei der Androhung von sexueller Gewalt, mit der sechsmal mehr Frauen Erfahrungen haben als Männer.“
Die meisten Vorfälle spielten sich innerhalb der eigenen Redaktion ab, fügt Urbániková hinzu – was sich ebenfalls in dem Wunsch nach einem Arbeitsplatzwechsel widerspiegle. Aber auch von außen kämen sexistische Kommentare oder Fotos sowie unerwünschte Einladungen, wie die Hälfte der weiblichen Befragten schildert. Und von unerwünschten Berührungen mit sexuellem Kontext berichtet jede dritte Journalistin hierzulande.
Eine weitere Kategorie seien bei dem Thema Hasskommentare und Gewalt gewesen, fährt die Autorin fort:
„Wir haben danach gefragt, welche Themen der Erfahrung der Journalistinnen und Journalisten zufolge in erhöhtem Maße Angriffe aus der Öffentlichkeit hervorrufen. Das können verbale Attacken sein oder aber die Androhung körperlicher Gewalt, eventuell auch deren Ausführung. Der erste Platz wird eindeutig von den Themen Migration und Integration von Geflüchteten besetzt. Danach kommen Genderfragen und Feminismus, und erst dann folgen die Thematisierung von Desinformation oder auch die Innenpolitik.“
Dies habe sie überrascht, gibt Urbániková zu. Denn die genannten Themen seien keine Randbereiche. Vielmehr wisse sie als Expertin, dass mehr Medienvertreter sich mit Menschenrechten oder sozialen Themen beschäftigten als mit dem politischen Tagesgeschäft.
Ob nun tätliche Angriffe oder schlechte Arbeitsbedingungen – die zuständigen Berufsverbände in Tschechien sind nicht besonders stark aufgestellt, um sich für Redakteure und Berichterstatter einsetzen zu können. Ein Ergebnis der Umfrage ist nämlich auch, dass nur elf Prozent aller Befragten in Organisationen wie dem Journalisten-Syndikat, im Nationalkomitee IPI oder auch bei Ženy v medíich Mitglied sind. Urbániková interpretiert:
„Das heißt, dass in Tschechien die Möglichkeit eines kollektiven Schutzes oder der gemeinsamen Durchsetzung von Rechten völlig fehlt. Wer also will, dass seine Redaktionsleitung zu ihm steht, oder sich bessere Arbeitsbedingungen erhofft, dem fehlt eine breitere Unterstützung. Man muss sich das selbst erkämpfen, was natürlich keine gute Ausgangsposition ist – und schon gar nicht in Verbindung mit der Scheinselbständigkeit. Darum ist es ziemlich logisch, dass sich jeder zweimal überlegt, ob er sich irgendwo beschwert, mehr Schutz einfordert und Ansprüche an die Redaktionsleitung stellt.“
Die meisten Betroffenen müssten also besonders mit den Fällen von sexueller Belästigung, Angriffen aus der Bevölkerung oder auch der schwierigen Vereinbarkeit von Arbeit und Familie irgendwie selbst klarkommen…
„Im Bereich der sexuellen Übergriffe befürchte ich, dass Veränderungen nur sehr langsam vonstattengehen. Mögliche Mechanismen wären etwa ein genauer schriftlicher Leitfaden, an wen man sich in solchen Fällen wenden kann. Oder auch die Einsetzung eines redaktionsunabhängigen Ombudsmannes, dem man Übergriffe melden und der eine unabhängige Untersuchung garantieren könnte, wäre denkbar. Solche Dinge werden in den Redaktionen Tschechiens aber nur dann angekurbelt, wenn es zu einem Skandal gekommen ist, der auch öffentlich gemacht wurde.“
In den meisten Redaktionsleitungen herrsche hingegen die Meinung, dass sie jene Probleme, die die Studie „Být novinářem a novinářkou v Česku“ aufzeigt, nicht betreffen würden, fügt Urbániková etwas resigniert hinzu.
Dabei seien gute Bedingungen für alle Medienmitarbeiter aber unerlässlich, mahnt die Soziologin an. Denn es liege im Interesse der Gesellschaft, dass es einen hochwertigen Journalismus gebe. Auch ein ausgeglichenes Genderverhältnis spiele dabei eine wichtige Rolle, sagt Urbániková und appelliert, den Fragen der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn:
„Vor allem müssen Frauen auch in Führungspositionen kommen, wo über die Agenda entschieden wird sowie darüber, welchen Themen Platz eingeräumt wird. Wir brauchen weibliche Ansichten in den Medien. Es ist für niemanden vorteilhaft, wenn das Geschehen um uns herum nur aus einem eher engen Blickwinkel heraus interpretiert wird – also von weißen Männern mittleren Alters mit Universitätsabschluss und Wohnsitz in Prag.“