Aus Böhmen bis ans Ende der Welt
Die Völkerwanderung ist schon aus der Frühgeschichte des europäischen Kontinents bekannt. Auch später, als es schon verschiedene Staatsgebilde in Europa gab, war die Bevölkerungsmigration fester Bestandteil der Geschichte. Die Ursachen der sich wiederholenden Auswanderungswellen waren fast immer dieselben: Krieg, Hungersnot oder Illusionen über die Existenz von einem Paradies auf Erden. Die Weite gesucht haben auch zahlreiche Tschechen, oder, als es noch kein Tschechien gab, Böhmen, darunter auch böhmische Deutsche. Der Geschichte einer deutschböhmischen Familie ist Jitka Mladkova im Gespräch mit Petr Polakovic für die nun folgende Sendereihe Regionaljournal nachgegangen.
"Vor neun Jahren fing ich an, eine Auswanderungswelle von Böhmen nach Brasilien zu erforschen. Alles begann mit meiner eigenen Familie. Sie verließ im Jahr 1877 ihr kleines Dorf in Nordböhmen. Vermutlich startete sie ihre Reise in der nächst größeren Stadt Liberec/Reichenberg, gemeinsam mit anderen Menschen und mit Freunden. 1877 war Tschechien ein Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Stadt war daher unter dem deutschen Namen Reichenberg bekannt."
Soweit ein Zitat aus einem Presseartikel. Sein Autor ist Petr Polakovic und mein Gesprächspartner am Mikrophon. Polakovic machte sich zunächst auf die Spuren seiner eigenen Vorfahren, doch die Suche nach seinen Wurzeln wurde bald zur Initialzündung für eine umfassendere Tätigkeit. Da seine deutschsprachige Familie aus der Grenzregion Nordböhmens stammte, fiel Herr Polakovic eines Tages ein, seinen Aktionsradius auf deutsche Böhmen bzw. böhmische Deutsche auszudehnen, die im 19. Jahrhundert in Übersee eine neue Heimat suchten.
"Die Idee kam mir irgendwann im Jahr 1998 in den Sinn, als ich zum zweiten Mal Brasilien besuchte, um mich mit der Geschichte meiner Familie zu befassen. Erst vor Ort konnte ich erfahren, dass es in Wirklichkeit viel mehr Auswandererfamilien aus Nordböhmen gab, die das Schicksal seinerzeit nach Südbrasilien geführt hatte."Aus welchen Gründen verließen all diese Familien ihre Heimat? War es vielleicht ein Mangel an politischer bzw. religiöser Freiheit? Oder waren es die harten Zeiten, die nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 besonders im Grenzland angebrochen sind? Lag es an der Abenteurerlust der Vorfahren? Oder führte sie der Wunsch weit weg, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten? Diese und viele andere Fragen stellte sich Petr Polakovic. Hat er sich damit nicht zuviel vorgenommen?
"Es ist schon eine umfassende Aufgabe, doch auch eine Herausforderung für mich, da es sich zugleich auch um eine Art Aufklärung handelt. Nicht alle dieser Leute, deren Familien einst auswanderten, sind sich dessen bewusst, dass sie ihre Wurzeln in Böhmen haben, das jetzt zu Tschechien gehört. Nicht selten kann man an Grabsteinen ihrer Vorfahren das Wort "Austria" lesen. Das gilt z.B. auch für meine Ahnen. Daher glauben einige von ihnen, dass sie aus Österreich stammen."Im Unterschied zu den USA, wo die Erinnerungskultur an die aus anderen Ländern stammenden Vorfahren bereits eine ganze Zeitlang gepflegt wird, ist dieser Trend in Brasilien, und vielleicht auch in Argentinien oder Chile, erst jetzt im Kommen, glaubt Polakovic. Den Leuten dort müsse vieles erst erläutert werden, sagt er, und nimmt gerne die Rolle des Aufklärers auf sich. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung:
"Manchmal finden sie z.B. einen Ausweis, der einem ihrer Familienangehörigen noch in der Habsburger Monarchie ausgestellt wurde. Mit dessen Hilfe kann man dann enträtseln, dass der Passinhaber aus Böhmen stammte, und eventuell auch aus welchem Ort. Wenn man das herausfindet, dann ist das für manche Familie ein Impuls für eine Reise nach Tschechien."
Der Enthusiast Polakovic könnte selbstverständlich nicht allein viele böhmischstämmige deutschsprachige Familien in Südamerika aufspüren:"Große Hilfe leisten mir meine Verwandten in Brasilien. Meine deutschen Vorfahren hierzulande, die Familie Hörbe, der noch meine Urgroßmutter angehörte, starben aus. Die Nachkommen eines anderen Teils unserer Familie, die nach Brasilien ausgewandert war, hatten hingegen immer viele Kinder, so dass dort heute rund 300 - 400 von ihnen leben. Mein Handicap ist, dass ich weder Portugiesisch noch Spanisch spreche. Mit drei Familien, die dort in unterschiedlichen Städten leben, stehe ich jedoch in intensivem Kontakt."
Große Hilfe leistet z.B. Lotarius Colaude aus Porto Allegre, der immer noch sehr gut deutsch spricht und außerdem auch englisch. Der macht die Aufklärungsarbeit und hat schon ein paar Familien zu einem Tschechienbesuch motiviert. Aufklärung soll auch die Basis eines Projektes darstellen, das Petr Polakovic in Südbrasilien umsetzen möchte. Derzeit zerbricht er sich den Kopf darüber, wie er seinem Projekt entsprechende Publizität verschaffen könnte. Vor kurzem kam er in Prag mit Richard Paulson zusammen, der ihm mit seinen Erfahrungen behilflich sein könnte:
"Richard Paulson ist Vorsitzender der Assoziation 'German-Bohemian Herritage Society', die vor 20 Jahren im US-Bundesstaat Minnesota gegründet wurde, und zwar in der Nähe von St. Paul in einer kleineren Stadt namens New Ulm mit etwa 50 000 Einwohnern. Dort leben viele Immigranten aus Deutschland, aber auch Deutsche, die aus den böhmischen Ländern stammen, vor allem aus Südböhmen. Vertreten sind dort die Regionen von Strakonice / Strakonitz, Vimperk, aber auch die Region um Cheb, also das Egerland. Die Assoziation hat um die 3 000 Mitglieder in den ganzen USA."Doch das Erkunden möglichst vieler Gebiete, wo Nachkommen von Deutschböhmen leben, ist nicht der einzige Gedanke, den der Mittdreißiger im Kopf trägt. Er hat diesbezüglich noch andere Ambitionen, die er aber Schritt für Schritt realisieren will:
"Zuerst geht es, glaube ich, darum, das Projekt 'Schola Bohemica' umzusetzen, um dem ganzen mehr Publizität zu verschaffen. Das sollte bis zum Ende dieses Jahres geschehen. Und dann, zirka im Mai 2006, so mein Wunsch, sollte in Tschechien eine Konferenz von deutschstämmigen Böhmen aus unterschiedlichen Ländern zustande kommen. Dabei könnten schon, denke ich, etwa 40, 50 oder 60 Teilnehmer zusammenkommen. Herr Paulson hat zugesagt, mit einer Gruppe aus den USA nach Tschechien zu kommen, was er sowieso schon fast jedes Jahr praktiziert. Außerdem hat er Kontakte zu solchen Personen auf Neuseeland oder in Australien, von denen auch einige kommen dürften."
Eines ist also nicht zu übersehen bzw. zu überhören: Aus dem ursprünglichen Gedanken, der am Anfang stand, nämlich die Suche nach den Wurzeln der eigenen Familie, hat sich für Petr Polakovic ein immer umfangreicheres Projekt entwickelt. Polakovic verfügt über eine Namensliste, zusammengestellt mithilfe seines brasilianischen Verwandten Lotarius, mit etwa 3 000 Namen von Familien, die einen oder mehrere Ahnen aus dem heutigen Tschechien hatten. Wo sie heute leben, ist jedoch zum Großteil nicht bekannt. Die Namen wurden nämlich in Archiven aufgestöbert. Abschließend fragte ich Herrn Polakovic: Warum machen Sie das?"Aufgrund meiner Besuche in Brasilien muss ich sagen, dass mir dieses Land sehr sympathisch ist. Das gilt auch für Argentinien oder überhaupt für den Rest Lateinamerikas - auch wenn ich dort kein anderes Land besucht habe. Ich möchte möglichst vielen Leuten, die hierzulande ihre Wurzeln haben, ermöglichen, Kontakte zu Tschechien zu knüpfen. Ich weiß aus der Erfahrung mit meinen Verwandten, die hier zu Besuch waren, wie begeistert sie waren, als sie den Geburtsort ihrer Vorfahren sehen konnten. Einige hatte das Glück, dass sie sogar deren Geburtshaus vorfinden konnten. Aber natürlich ist auch Prag ein großer Magnet, und überhaupt Tschechien, das ein sehr schönes Land ist. Sie sollen wissen, dass sie aus Böhmen stammen."