Ausdruck der Souveränität oder Mittel zur Erpressung? Vetorecht in der EU im tschechischen Wahlkampf

Immer wieder hat vor allem Ungarn die Sanktionen der EU gegen Russland blockiert. Auch deswegen fordern zahlreiche Mitgliedsstaaten, das Vetorecht innerhalb der Union weiter einzuschränken. Die Frage des Abstimmungsmechanismus stellt sich aber ebenso, weil der Staatenverbund in Zukunft auf bis zu 36 Mitglieder anwachsen könnte. Wie stellen sich also die Europa-Kandidaten der tschechischen Parlamentsparteien zum Vetorecht?

Das Europäische Parlament | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

Die Reform der europäischen Institutionen war eines der Themen, mit denen sich auch die tschechische EU-Ratspräsidentschaft beschäftigt hat. Es ging darum, die Europäische Union zum Beispiel fit zu machen für die Aufnahme neuer Mitglieder. Dabei scheiden sich die Geister vor allem am Vetorecht. Gerade kleinere Staaten wollen sich diese Möglichkeit nicht nehmen lassen.

Im Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, wurden jene Politikfelder bereits deutlich reduziert, in denen weiter einstimmig entschieden werden muss. Aber zum Beispiel in der Außenpolitik, beim Steuerrecht und in der Sicherheit müssen weiterhin alle EU-Mitgliedsländer zustimmen, um eine Entscheidung zu treffen.

Jaroslav Bžoch ist Abgeordneter der oppositionellen Partei Ano, die in Tschechien aber schon seit langem die Wahlumfragen anführt. Und er ist die Nummer zwei auf der Europawahlliste der Ano. Im Interview für Radio Prag International sagt er, das Vetorecht werde zu Unrecht verteufelt:

Jaroslav Bžoch | Foto: Barbora Němcová,  Radio Prague International

„Das Vetorecht besteht ja nur noch in einigen wenigen Bereichen. Ich halte diese aber weiter für wichtig für die Staaten. Und selbst wenn die Europäische Union irgendwie erweitert werden sollte, wird man in diesen Bereichen eine Übereinkunft finden, obwohl es für den einen oder anderen Staat auch schmerzhaft sein kann. Außerdem entfaltet in der Außenpolitik und in der Unterstützung der Ukraine, die derzeit ja immer auf der Tagesordnung steht, ein einstimmiger Beschluss eine größere Kraft, als wenn jeder dafür oder dagegen stimmen kann. In diesen Dingen sollte das Vetorecht beibehalten werden.“

Es gehe zudem um die Souveränität der Mitgliedsstaaten gerade in der Außenpolitik, so Bžoch. Dafür sei es aber auch in Ordnung, einen längeren Weg zu einer Entscheidungsfindung in Kauf zu nehmen, glaubt der Politiker aus dem nordböhmischen Teplice / Teplitz:

„Beim Vetorecht geht es nicht nur darum, dass es missbraucht werden kann. Natürlich gibt es solche Tendenzen. Aber wir müssen einfach einen gemeinsamen Weg finden – und das ist für mich das Wichtigste.“


Ganz anders sehen dies die Piraten, die in Tschechien zu den fünf Parteien der Regierungskoalition gehören. Ihr Spitzenkandidat Marcel Kolaja betont, dass seine Partei sich bereits seit langem dafür einsetze, den Entscheidungsfindungsprozess im Europäischen Rat zu verändern – in Richtung einer qualifizierten Mehrheit auch bei der Außenpolitik. Qualifizierte Mehrheit bedeutet, dass für einen Beschluss mindestens 55 Prozent der Regierungen stimmen müssen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bürger vertreten.

Marcel Kolaja | Foto: Barbora Navrátilová,  Radio Prague International

„Weil ein Premier, ein Land die Entscheidung der ganzen EU blockieren kann, ist die Union so schwerfällig, so handlungsunfähig. Das ist geopolitisch ein großer Nachteil. Und auch, weil die EU erweitert werden soll und ihr damit geopolitisch eine noch größere Bedeutung beikommt, muss das System der Entscheidungsfindung reformiert werden. Denn je mehr Länder zur europäischen Gemeinschaft gehören, desto brennender wird das Problem, dass ein einzelner Staat die ganze EU blockieren kann“, so Kolaja.

2015 nutzte etwa die griechische Regierung unter Alexis Tsipras die Angst vor dem alleinigen Veto und deutete an, sie könnte den EU-Sanktionen gegen Russland nicht zustimmen. Damals ging es um die Eurokrise. 2020 waren es die ungarische und die polnische Regierung unter Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki, die ein Veto gegen das Corona-Wiederaufbauprogramm einlegten – um offensichtlich Freiheiten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu erzwingen.

Aktuell müssen wieder die Sanktionen gegen Russland für diese Erpresserspielchen herhalten. Marcel Kolaja:

„Bei einigen der Sanktionspakete hat sich gezeigt, dass der ungarische Premier Viktor Orbán in einem nicht damit zusammenhängenden Bereich etwas für sich herausschlagen wollte und einfach das Vetorecht missbraucht hat.“

Und als Einziger habe sich darüber der russische Präsident Wladimir Putin freuen können, schließt der Pirat.


Auch die Spitzenkandidatin der Bürgermeisterpartei Stan, Danuše Nerudová, plädiert für Änderungen im Prinzip der Einstimmigkeit. Man müsse sich darüber unterhalten, ob die Bereiche, auf die sich dies beziehe, nicht reduziert werden könnten. Und weiter sagt sie gegenüber Radio Prag International:

Danuše Nerudová | Foto: Martin Vaniš,  Radio Prague International

„Persönlich denke ich, dass man sicher über die Außenpolitik sprechen muss. Aber es gibt auch weitere Bereiche wie die Steuern oder die Sozialpolitik, bei denen über Änderungen diskutiert werden muss. Denn wenn ein Staat etwas auf längere Sicht blockiert, fragen sich die anderen logischerweise, warum dieser noch Teil unser Gemeinschaft sein will. Um also die EU handlungsfähiger zu machen, müssen wir dieses Thema öffnen. In jedem Fall handelt es sich nicht darum, dass man dadurch seine nationale Souveränität aufgibt.“


Bei der stärksten tschechischen Regierungspartei, den Bürgerdemokraten (ODS), sieht man das anders. Veronika Vrecionová ist Europaparlamentarierin und will über Listenplatz eins wieder nach Straßburg gewählt werden. Die Politikerin aus České Budějovice / Budweis hält es eher für gefährlich, das Vetorecht abzuschaffen.

Veronika Vrecionová | Foto: Archiv von Veronika Vrecionová

„Dazu nenne ich ein konkretes Beispiel. Was Viktor Orbán bei den Beziehungen zu Russland und in der Haltung zum Krieg in der Ukraine vollführt, ist eine Schande. Ich verurteile das. Wenn man sich aber vorstellt, dass er mit einer qualifizierten Mehrheit überstimmt würde, würde uns das nicht helfen. Denn Putin würde das für seine Propaganda ausnutzen und betonen, dass ein Teil der EU nicht zustimme, sondern überstimmt worden sei. Wir würden also der prorussischen Propaganda in die Karten spielen. Zugleich könnte Viktor Orbán das in Ungarn für seine Umfragewerte ausnutzen, indem er sagt, sein Land werde an den Rand der EU gedrängt. Dadurch würden wiederum die Tendenzen für einen EU-Austritt gestärkt“, so Vrecionová.

Weiter betont die Bürgerdemokratin, dass selbst der ungarische Premier letztlich immer eingelenkt habe – wenn auch auf Kosten von finanziellen Zugeständnissen gegenüber Budapest. Doch Demokratie sei „teuer und langwierig“, sagt Veronika Vrecionová. Und dies gelte auch im Fall einer EU-Erweiterung, deren große Anhängerin sie sei.


Mit mehr Staaten innerhalb der Union kann hingegen Petr Mach nichts anfangen. Er ist Europa-Spitzenkandidat der Rechtsaußen-Wahlkoalition aus „Freiheit und direkte Demokratie“, kurz SPD, und Trikolora.

Petr Mach | Foto: Jan Kubelka,  Radio Prague International

„Wir stellen uns gegen eine Erweiterung der Europäischen Union. Wäre die Union noch eine Organisation in dem Format der Europäischen Gemeinschaft, so wie sie es bis zum Maastrichter Vertrag war, dann würde ich mich nicht gegen eine Erweiterung um den Balkan und weitere Länder stellen – ruhig auch um die Türkei. Aber in der heutigen Lage, da die EU auf der gewaltigen Umverteilung von Geldern in Form von Subventionen beruht, wollen wir nicht, dass die Zahl der Fälle steigt, in denen Staaten überstimmt werden und Politik gemacht wird gegen den Willen der Tschechischen Republik“, so der Prager.

Mach spricht davon, dass sein Wahlbündnis die Interessen der tschechischen Steuerzahler verteidigen wolle. Derzeit würden ihre Gelder über Brüssel woanders hinfließen, zum Beispiel in die Ukraine, in die Türkei oder auf den Balkan.

Aus dieser Position heraus wende er sich logischerweise auch gegen die Aufhebung des Vetorechts, sagt Petr Mach:

„Schon als der Vertrag von Lissabon verabschiedet wurde, habe ich gesagt, der Hauptgrund für meine Ablehnung sei, dass das Prinzip der Einstimmigkeit in vielen Bereichen aufgehoben werde. Dass dieses Prinzip nun auch noch aus den verbliebenen Bereichen verschwinden soll, halten wir für unannehmbar.“

Er werde also gegen eine weitere Auflösung des Vetorechts kämpfen, betont Mach.

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