2) Kelten in Tschechien: Steinkopf von Mšecké Žehrovice
Wer war der Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart und dem Haarstreifen über der Stirn? Seit fast 80 Jahren versuchen Archäologen, diese Frage zu beantworten. Es geht um den Steinkopf von Mšecké Žehrovice / Kornhaus Scherowitz, das einzige Beispiel einer keltischen Monumentalskulptur hierzulande.
Der Kopf von Mšecké Žehrovice ist einer der berühmtesten und wertvollsten archäologischen Funde hierzulande. Die Archäologin Natalie Venclová von der tschechischen Akademie der Wissenschaften hat sich damit bei ihren Forschungen gründlich beschäftigt. Sie beschreibt die Skulptur:
„Der Steinkopf hat in etwa die Größe eines echten Kopfes. Er zeigt das Gesicht eines Menschen, offensichtlich eines Mannes, mit Haaren, Augen, Nase und Mund. Er trägt einen Halsreifen, den sogenannten Torques. Dank diesem Torques konnte der Kopf unmittelbar nach der Entdeckung datiert und als keltisch bestimmt werden.“
Gezwirbelter Schnurrbart und Tonsur
Die Kelten besiedelten einst ganz Europa und hinterließen ihre Spuren auch auf dem Gebiet Tschechiens. Was bedeutet aber eigentlich keltisch?
„Der Terminus keltisch gehört in die Geschichte, Sprachwissenschaft und Numismatik, aber nicht in die Archäologie. Wir Archäologen sind nicht imstande zu erkennen, ob ein Fund tatsächlich von Kelten hergestellt und gebraucht wurde. Aus archäologischer Sicht sind die Kelten hierzulande identisch mit der sogenannten Latènekultur. Dabei handelt es sich um einen Komplex an Funden, die ein bestimmter Stil kennzeichnet. Eben in der Latènezeit lebten laut historischen Quellen die Kelten auf unserem Gebiet, aber auch anderswo im großen Teil Europas.“
Bei diesem Kopf sei es ganz eindeutig, dass er von einem Kelten hergestellt wurde, bestätigt Venclová. Die Plastik aus weißem Gestein namens Pläner trägt noch weitere charakteristische Merkmale:
„Das Gesicht ist flach und hat gepflegte Haare in einem engen Streifen über der Stirn. Die Augen haben Augenbrauen, die in einer Spirale enden. Das ist ein typisches Merkmal der Latènekultur. Über dem Mund hat der Mann einen Schnurrbart, der ebenfalls in Spiralen endet. Außerdem sind die Ohren ornamental geziert, wir nehmen an, dass jedes Ohr die Hälfte einer Lotusblüte darstellte. Dieses Motiv wurde aus der antiken Welt übernommen. Wir wissen also ziemlich genau, dass es sich um einen Kelten handelt und dass der Kopf im 3. bis 1. Jahrhundert vor Christus hergestellt wurde.“
Am 19. Mai 1943 fand Josef Šlajchrt, ein Bewohner der Gemeinde Mšecké Žehrovice in Mittelböhmen, in einer Sandgrube 500 Meter südlich des Dorfes das erste Stück der Skulptur. Nach einem Bericht seines Sohns hielt er die Bruchstücke für ein paar Tage bei sich zu Hause unter dem Bett versteckt. Er habe sogar mit diesen Teilen gespielt, erzählte der Sohn später mehrfach in den Medien. Natalie Venclová:
„Der Kopf wurde in vier Bruchstücken gefunden. Später wurde der Archäologe Ivan Borkovský zum Fundort gerufen. Er bestätigte, dass es sich um eine außerordentliche Entdeckung handelt. Den Kopf brachte man später ins Nationalmuseum. Bis zum Ende des Krieges wurde aber nicht darüber gesprochen. Es gab Befürchtungen, dass die deutschen Besatzer die Entdeckung beschlagnahmen und wegbringen könnten. Erst nach dem Krieg wurde der Fund öffentlich gemacht und stieß auf ein großes Echo.“
Vier Bruchstücke in Sandgrube
Wie gehört, untersuchte der Archäologe Ivan Borkovský den Fundort unmittelbar nach der Entdeckung:
„Er stellte fest, dass sich gleich neben dem Fundort des Kopfes ein rechteckiges Areal mit einer Einfriedung befindet. Dort ließen sich die Reste eines Walls und eines Grabens erkennen. Borkovský bestätigte diese Spuren einer Besiedlung des Ortes in der Latènekultur und damit den zeitlichen Zusammenhang mit dem Kopf. Es handelte sich um einen besonderen Fundort, denn aus jener Zeit sind nicht viele solche bekannt. Man nahm an, dass das Gelände als Kultstätte gedient hat.“
Es folgten weitere Nachforschungen. Ende der 1970er Jahre kamen Archäologen von der Akademie der Wissenschaften nach Mšecké Žehrovice. Zu ihnen gehörte auch Natalie Venclová:
„Das archäologische Institut führte dort umfassende Untersuchungen durch, sie dauerten fast zehn Jahre und brachten weitere Resultate. Wir kamen zum Schluss, dass das viereckige Areal ein Gutshof gewesen war. Und zwar der Sitz der Elite, denn die gewöhnlichen Menschen wohnten damals nicht in Einfriedungen, sondern in einfachen Dörfern. Anhand der Fundstücke konnte bestätigt werden, dass jene Gruppe, die dort gelebt hat, bedeutend und relativ vermögend gewesen ist.“
In einem Teil des Areals befanden sich die Wohnhäuser dieser Elitegruppe für etwa 30 Personen. Der andere Teil war leer, bis auf ein großes Holzgebäude, in dem sich damals höchstwahrscheinlich Menschen aus der Umgebung versammelten. Der Steinkopf sei in der Nähe, aber außerhalb der viereckigen Schanze gefunden worden:
„Der Kopf war in eine Grube gelegt worden, zusammen mit weiteren Sachen, aus denen man schlussfolgern konnte, dass dies im 2. bis 1. Jahrhundert vor Christus geschehen sein muss. Es gab da Bruchstücke von Gefäßen, ein Instrument, Tierknochen, also eine Auswahl an Dingen, die in jener Zeit üblicherweise im Gebrauch waren. Wahrscheinlich ist der Kopf schon damals in Teile zerbrochen. Entweder waren neue Einwohner gekommen, entfernten die Skulptur von ihrem Platz, an dem sie aufgestellt war, und schmissen sie weg. Oder der Kopf zerbrach durch einen Zufall, was wahrscheinlicher ist. Es scheint nämlich, dass die Skulptur mit Absicht und pietätvoll in der Grube aufbewahrt wurde.“
Anhand ihrer Ausgrabungen gehen die Archäologen davon aus, dass der Ort bereits vor der Entstehung der Viereckschanze besiedelt worden war. Ein keltisches Dorf soll dort gelegen sein. In der Siedlung wurden Reifen aus schwarzem sogenannten Sapropelit hergestellt und Eisen geschmolzen. Nach dem Niedergang dieser Siedlung entstand dann die Viereckschanze.
„Wir wissen nicht, wozu sie konkret gedient hat. Der Kopf wurde dort wahrscheinlich auf einem Podest ausgestellt. Es fehlt ein Teil des Halses, so dass wir nicht genau sagen können, ob es eine Büste war oder eine komplette Figur. Wir gehen aber von einer Büste aus, eine Figur wäre sehr seltsam. Außerdem haben wir bei unseren Untersuchungen keine weiteren Bruchteile gefunden.“
Spuren in Frankreich und Irland
Bei ihren weiteren Arbeiten stellten sich die Experten die Frage, in welcher Beziehung die Einwohner des Ortes zum Kopf gestanden haben könnten. Einen Leitfaden dafür boten ähnliche Funde in Europa sowie schriftliche Quellen aus Irland:
„Auf dem Kopf sind Haare dargestellt, schön gekämmt, in der Mitte geteilt. Sie befinden sich aber nur in einem Streifen, der sich von einem Ohr zum anderen zieht. Der Hinterkopf ist fast glatt, als ob man absichtlich das Aussehen eines ausrasierten Kopfes erzielen wollte. Ursprünglich wurde nur von einer stilisierten Darstellung ausgegangen und dass der Kopf nur von vorne betrachtet wurde. Wahrscheinlich war es aber anders: In Europa, unter anderem in Frankreich, sind nämlich ähnliche Köpfe mit einem Haarstreifen gefunden worden.“
Eine weitere Spur führte die Forscher nach Irland. Dort wurden viele Jahrhunderte lang noch druidische Bräuche gepflegt, die nur langsam in das christliche Mönchstum übergingen. Aus den Druiden, also der kultischen und geistigen Elite der keltischen Gesellschaft, zu der Priester, Magier, Lehrer und Diplomaten gehörten, wurden Einsiedler und Mönche. Natalie Venclová:
„Die älteste christliche Kirche in Irland weist Zeichen auf, die sie mit den früheren Druiden verbindet. Eines dieser Zeichen ist die Tonsur. In der altirischen Kirchenkultur werden Formen beschrieben, die an unseren Steinkopf erinnern. Das ist ein schöner, wenn auch nur indirekter Beweis, dass der Kopf von Mšecké Žehrovické wohl einen Druiden darstellt.“
Verehrter Druide
Wer war also dieser Mann, der diese Abbildung aus Stein verdient hatte? Die Archäologen haben eine Hypothese:
„Es kann sich um einen verehrten Ahnen gehandelt haben, einen sogenannten Héró. Die Héróes waren Menschen, die sich durch eine Tat rühmten und von ihren Familien und Gemeinschaften mehrere Generationen lang verehrt wurden. Wir sind der Meinung, dass der Ahne dieser Familie aus Mšecké Žehrovické ein Druide war. Zudem denken wir, dass er im Rahmen eines häuslichen Kultes verehrt wurde und nicht in einem Heiligtum.“
Der Steinkopf aus Mittelböhmen ist nicht die einzige Skulptur dieser Art in Europa:
„Im ganzen früheren keltischen Europa wurden rund zehn bis zwanzig solche Funde gemacht. Der Kopf aus Mšecké Žehrovice ist aber einzigartig und unvergleichlich. Er ist am besten ausgearbeitet und ziemlich realistisch dargestellt. Die übrigen Köpfe, etwa aus Deutschland oder Frankreich, unterscheiden sich von diesem, haben aber auch einige ähnliche Merkmale. Dazu gehören der Haarstreifen und die Form der Ohren, die eine Bedeutung gehabt haben muss. Interessant ist auch, dass die Köpfe in Frankreich in einer ähnlichen Viereckschanze gefunden wurden. Die Interpretation der Franzosen entspricht der von uns: Es muss sich um eine herausragende Person gehandelt haben, die später zum Objekt des Héró-Kultes wurde.“
Heute befindet sich der Steinkopf aus Mšecké Žehrovické im Bestand des Prager Nationalmuseums. Der Kelte wird in einem Tresor aufbewahrt und ist nur zu besonderen Gelegenheiten unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen zu sehen.
Die Serie entsteht in Kooperation mit dem Archäologischen Institut der Akademie der Wissenschaften in der Tschechischen Republik.