Corona und Wirtschaft: Die Plattform KoroNERV-20 sucht konstruktive Wege aus der Krise
In den vergangenen Monaten tauchte in den tschechischen Medien immer öfter ein neuer Begriff auf: KoroNERV-20. Unter diesem Namen haben sich namhafte Ökonomen des Landes, aber auch Ärzte und Bildungsexperten zusammengefunden. Sie mischen sich in die öffentliche Diskussion ein, um zügig Wege aus der Corona-Krise zu finden. Das Chaos, das die zweite Welle der Pandemie im Land ausgelöst hat, hätte ihrer Ansicht nach verhindert werden können.
Eine Bürgerinitiative, „an der Václav Havel seine Freude hätte“. So beschreibt Petr Stuchlík das, was er im Frühjahr dieses Jahres unter dem Namen KoroNERV-20 (im Weiteren kurz: Koronerv) gegründet hat. Das Coronavirus hatte in Tschechien Einmarsch gehalten, und dem Land wurde der schnelle Shutdown verordnet. Dem Unternehmer und Finanzexperten Stuchlík bereitete Sorgen, welchen Preis die hiesige Wirtschaft dafür zahlen würde.
„Damals waren die Leute erschrocken. Im März wusste noch niemand etwas Genaues über das Virus. Also wurde alles mit sehr widersprüchlichen Gefühlen aufgenommen. Für mich als Ökonomen hatte das aber schon Sinn.“
Die Maßnahmen der Regierung zu unterstützen, sie aber in eine ökonomisch verträgliche Richtung zu lenken – das war das Ziel von Stuchlík. Dafür tat er sich mit dem Wirtschaftswissenschaftler Mojmír Hampl und der Prager Stadtabgeordneten Mariana Čapková (Praha sobě) zusammen. Eine Plattform wurde gegründet, der sich auch Danuše Nerudová bald anschloss. Sie ist die Rektorin der Mendel-Universität in Brno / Brünn:
„Wir Ökonomen konnten nicht direkt an vorderster Front arbeiten, wie zum Beispiel Ärzte. Aber wir wollten trotzdem helfen. Darum haben wir beschlossen, in dieser beispiellosen Lage den tschechischen Staat anders zu unterstützen. Wir nutzen unsere intellektuellen Kapazitäten, um Lösungen für diese Krise zu finden. Diese wollen wir im öffentlichen Raum diskutieren und jedem anbieten, der Interesse hat.“
Bei der Namensgebung für ihre Organisation zielten die Gründer auf etwas Griffiges, was sich gut merken ließ. Dabei benutzten sie die schon bestehende Begrifflichkeit NERV. Der ehemalige Premier Mirek Topolánek (damals Bürgerdemokraten) hat einst das Expertengremium „Národní ekonomická rada vlády“ ins Leben gerufen. Dieser „Nationale Wirtschaftsrat der Regierung“ ist bis heute unter dem Kürzel NERV aktiv. Stuchlík und seine Mitstreiter haben die Abkürzung mit leichter Umformulierung übernommen: „Nejen ekonomická rada vlasti“ ist ihr „Nicht nur ökonomischer Rat der Heimat“. Dem Ganzen mit „Koro“ und der Jahreszahl „20“ einen Verweis auf die aktuelle Pandemie hinzuzufügen, lag nahe, sagt Stuchlík:
„Letztlich hat sich diese Gruppe gebildet, in der Ärzte, Epidemiologen, Ökonomen, aber auch Schulexperten vertreten sind. Denn von Anfang an gab es auch einschneidende Auswirkungen im Bildungsbereich. Wenn Grundschulen geschlossen werden, hat das wieder einen großen Einfluss auf das Gesundheitssystem."
Gerade diese engen Zusammenhänge der verschiedenen Bereiche von Politik und Wirtschaft sind mit der Corona-Krise sichtbar geworden. Danuše Nerudová wird konkreter:
„Im Frühjahr hat sich gezeigt, dass Tschechien vor allem eine sogenannte Health Economy, also eine Gesundheitsökonomie braucht. Es gibt dazu bisher wenige Experten. Darum haben wir mit unserem interdisziplinären Ansatz versucht, die Kräfte zu bündeln. In Zusammenarbeit mit den Epidemiologen haben wir Empfehlungen formuliert, wie die Wirtschaft wieder angekurbelt und die Einschränkungen gelockert werden können.“
Diese Empfehlungen kennen die Menschen in Tschechien inzwischen aus den öffentlichen Diskussionen und Medienberichten der vergangenen Wochen. Allerdings hatte Koronerv diese Maßnahmen schon im Frühjahr angemahnt. Nerudová erinnert:
„Wir hatten darüber gesprochen, dass die Kapazitäten zur Kontaktverfolgung sowie zur Durchführung von Tests erhöht werden müssen. Außerdem haben wir für das medizinische Personal spezielle Schulungen bei der Bedienung von Beatmungsgeräten gefordert. Wir haben angemahnt, dass weiteres Personal für die Krankenhäuser gesucht werden müsste.“
Wahrgenommen wurden diese Ratschläge ohne Zweifel. Die Mitglieder der Plattform verfügen ob ihrer beruflichen Stellungen über Einfluss in die höchsten Ebenen von Politik und Wirtschaft. Mariana Čapková etwa kümmert sich im Prager Magistrat vorrangig um die Bildungspolitik. Petr Stuchlík selbst hatte sich für Ano, die Partei von Premier Andrej Babiš, im Jahr 2018 um den Posten des Prager Oberbürgermeisters beworben. Außerdem ist er als einstiger Mitbegründer und langjähriger Mitinhaber der Unternehmensberatung Fincentrum ein Big Player der tschechischen Finanzwirtschaft. Ein ähnliches Schwergewicht ist Mojmír Hampl bei KPMG. Und mit Ivan Pilný findet sich auch ein ehemaliger tschechischer Finanzminister in den Reihen der Bürgerinitiative.
Mitbegründer Stuchlík verweist auf die Spur, die seine Organisation im vergangenen halben Jahr in der öffentlichen Debatte hinterlassen hat. Ein Kabinettsmitglied, das das Gesprächsangebot von Koronerv angenommen habe, sei Jana Maláčová (Sozialdemokraten), die Ministerin für Arbeit und Soziales:
„Außer den offiziellen Pressemitteilungen, die wir herausgeben, gab es eine ganze Reihe von Auftritten von Regierungsmitgliedern, die von vorherigen Treffen mit Vertretern von Koronerv inspiriert waren. Die Politiker haben sich auch einige ihrer Ideen in Gesprächen mit uns bestätigen lassen. Zum Beispiel hat sich Frau Maláčová mit uns getroffen, gemeinsam mit dem Chef von ČEZ, Daniel Beneš. Es wenden sich also wirklich die Entscheidungsträger an uns und lassen sich beraten.“
Doch mit der Äußerung von guten Argumenten ist es eben nicht getan. Trotz des hohen Maßes an Sichtbarkeit, das die Plattform genießt, zeigt sich Danuše Nerudová in der aktuellen Lage etwas frustriert:
„Als Vertreterin von Koronerv bin ich sehr enttäuscht darüber, dass im Prinzip keine unserer Empfehlungen von Ende Mai umgesetzt wurde. Wir haben sie allen Abgeordneten und Senatoren geschickt. Damit haben wir vier Monate Zeit verloren, in denen wir uns auf die zweite Corona-Welle hätten vorbereiten sollen.“
In diesen Tagen zeigt sich, wie schlecht die tschechische Regierung für die zweite Welle der Pandemie vorgeplant hat. Die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen erreicht immer neue Rekorde, und seit Montag herrscht im Land wieder der Notstand. Was die akute Ausbreitung des Virus angeht, befindet sich Tschechien nach Nerudovás Ansicht in der absolut gleichen Situation wie zum Frühlingsbeginn. Die Hochschulrektorin kritisiert, dass die politische Führung immer nur reagiert, anstatt vorausschauend zu agieren:
„Das bedeutet auch, dass wir vom Musterkind zum totalen Outsider in Europa geworden sind. Die Stärke unserer Nation liegt in der Improvisation. Das haben uns die 40 Jahre kommunistische Herrschaft gelehrt. Doch während alle umliegenden Staaten schon im Mai begannen, strategisch zu planen und sich auf den Herbst vorzubereiten, haben wir das hier unterschätzt. Denn strategisches Planen liegt uns nicht. Weil wir uns keine Strategie überlegt haben, herrscht jetzt große Unsicherheit. Dabei wäre es die Aufgabe des Staates, die ökonomische Unsicherheit zu mindern. Das geschieht leider nicht.“
Obwohl die Geschäfte und Restaurants derzeit nicht geschlossen seien, werde es langfristig negative Folgen für die einheimische Wirtschaft geben, so Nerudová weiter. Denn die Maßnahmen der Regierung seien für die Bevölkerung nicht vorhersehbar. Das mache den Menschen Angst. Und wer Angst habe, gebe kein Geld aus oder tätige keine größeren Investitionen, warnt die Ökonomin.
Bei all dem Chaos und den verpassten Chancen hat Nerudová aber auch Hoffnungen auf einige positive Folgen der aktuellen Entwicklungen:
„Ich glaube, die Corona-Krise ist auch eine Gelegenheit. Die wirtschaftlichen Strukturen könnten an das 21. Jahrhundert angepasst werden. Wir sollten die Digitalisierung und Innovationen voranbringen, smarte Lösungen für Städte und Dörfer finden.“
Dazu müssten aber Lehren aus dem aktuellen Geschehen und den Fehlern der Vergangenheit gezogen werden, betont Nerudová:
„Uns bietet sich die Gelegenheit, die Krise als Warnung für unsere Gesellschaft zu verstehen. Wir haben einen nicht nachhaltigen Lebensstil, und das müssen wir ändern.“
Ganz ähnlich sieht es Petr Stuchlík. Auch er wittert neue Chancen für Modernisierungen, vor allem in den Bereichen Medizin und Bildung. Allgemeiner gefasst sollten sich nach seiner Ansicht Politik und Gesellschaft wieder auf das Wesentliche besinnen:
„Jede Krise beschleunigt Trends in der Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass wir nun auf allen möglichen Ebenen – staatlichen oder kommunalen – zu den echten Bedürfnissen der Menschen zurückkehren. Wenn in den öffentlichen Haushalten jetzt weniger Geld ist und in den nächsten zwei Jahren auch weiter sein wird, müssen wir genau überlegen, was wichtig ist und was nicht.“
Eben zu diesen Fragen will er mit Koronerv in Zukunft Stellung nehmen. Obwohl die Plattform mit dem diesjährigen Shutdown einen konkreten thematischen Ursprung hat, muss sie nach Überwindung der Corona-Krise nicht verschwinden, meint Stuchlík:
„Ich persönlich fände es schade, wenn es das Ende wäre für eine so interessante und auch so starke Gruppierung von Leuten, die sich gut kennen und sich vor allem trotz ihrer unterschiedlichen Meinung respektieren. Gleichzeitig muss ich aber betonen, dass wir keine politischen Ambitionen haben – vielleicht einige einzelne Mitglieder schon, aber als Ganzes mit Sicherheit nicht.“
Ebenso möchte Danuše Nerudová ihre Organisation und deren Zukunft auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene angesiedelt sehen. Denn für die Hochschulrektorin reicht die Bedeutung von Koronerv über die aktuelle Situation hinaus:
„Wir sind eine Bürgerplattform, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Debatte im öffentlichen Raum zu beeinflussen. Sie will zur allgemeinen Diskussion mit konstruktiver Kritik beitragen. Diese ist in der aktuellen Lage aus dem öffentlichen Raum gänzlich verschwunden. Jetzt gibt es nur noch Leute mit der gleichen Meinung oder Feinde. Koronerv will diese Aufgabe übernehmen, denn wir glauben, dass die Abwesenheit konstruktiver Kritik fatale Folgen für die Gesellschaft haben kann.“