Das Ende der schwarz-weißen Ära: Tschechische Kunst 1939–2021 in der Nationalgalerie
An die 300 Werke aus den Sammlungen der Nationalgalerie Prag und ein Querschnitt des Schaffens aus acht Jahrzehnten: Das ist die neue Dauerausstellung mit dem Titel „1939-2021: Konec černobílé doby“ (1939-2021: Das Ende der schwarz-weißen Ära), die das zweite Stockwerk des Messe-Palastes füllt. Markéta Kachlíková hat sie gemeinsam mit den Kuratoren besucht.
Die Nationalgalerie Prag hat Ende Mai ihre neue Dauerausstellung eröffnet. Der Titel „1939-2021: Das Ende der schwarz-weißen Ära“ ist ein Slogan für den Ansatz, die Werke dieser Epoche nicht ideologisch bewerten zu wollen. Es solle vielmehr gezeigt werden, dass in der Kunst mehrere unterschiedliche Auffassungen von künstlerischer Qualität nebeneinander existierten, sagt Michal Novotný. Er leitet die Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst:
„Durch den Namen wird unsere Methode ausgedrückt: Wir stellen nicht nur das aus heutiger Sicht Gute aus, also sozusagen das Weiße. Wir wollen hingegen die breite Skala der Kunst zeigen, die in der jeweiligen Zeit entstanden ist, und erklären, warum es so war. Aus diesem Grund haben wir uns nur auf den Sammlungsfonds der Nationalgalerie konzentriert. Und da die Nationalgalerie immer eine staatliche und sehr politisch geprägte Institution war, entspricht ihre Sammlung den politischen Trends der Zeit. Wir wollen anhand der Sammlung die jeweilige Zeit rekonstruieren.“
Offiziell und inoffiziell, abstrakt und figurativ, formal und sozial engagiert – das seien einige der Polaritäten der Kunst gewesen, die parallel existierten. Der Kunsthistoriker:
„Es ist ein Problem, dass diejenigen Menschen, die diese Zeit erlebt haben, eine starke emotionale Beziehung dazu haben. Wir fragen uns, inwieweit die Ausstellung für sie akzeptabel sein wird. Manche können Problem damit haben, dass wir Künstler nebeneinander ausstellen, die im prinzipiellen ideologischen Widerspruch standen. Sie haben in jener Zeit aber nebeneinander geschaffen, wenn auch nicht gemeinsam. Wir wollen verschiedene Schichten der Kunst zeigen.“
Nationalgalerie als Zeuge der Zeit
Die Besucher können in chronologischer Reihenfolge beobachten, wie schnell sich die Vorstellung von künstlerischer Qualität im Laufe der Zeit verändert hat. Michal Novotný beschreibt das Konzept der Ausstellung:
„Es werden bestimmte Meilensteine markiert. Der Besucher erfährt, was etwa 1939 oder 1948 passierte. Andere Meilensteine sind aber auch ganze Jahrzehnte – die 1960er, die 1980er, die 1990er Jahre… Außerdem gibt es 30 Kapitel, die ein gewisses Kunstphänomen in Beziehung zu der jeweiligen Zeit thematisieren. Das kann etwa Postmoderne Kunst, Bodyart oder Performance sein. Die Kunst wird immer vor dem Hintergrund des Geschehens in der Gesellschaft dargestellt. Und dazu bieten wir noch 70 erweiterte Texte an, die jeweils den Kontext und die Geschichte eines konkreten Werkes beschreiben.“
Die Ausstellung „Das Ende der schwarz-weißen Ära“ beginnt im Jahr 1939 und führt den Besucher damit zunächst in die düstere Kriegszeit. Auf diese reagieren beispielsweise die Werke von Emil Filla, Jan Kotík, Josef Čapek, Karel Kotrba und Künstlern der Gruppe 42. Eva Skopalová ist Kuratorin dieses ersten Teils:
„Der Besucher kann die Rohheit der Kriegsjahre mit dem Gefühl der Bezauberung bei den Surrealisten vergleichen. In der zweiten Generation der Surrealisten verwandelte sich diese Bezauberung dann in Fäulnis, die Last der Zeit war recht schwer. Gleichzeitig können wir die zivile Absicht in den Werken der Gruppe 42 beobachten.“
Die Schau präsentiert nicht nur Kunstwerke, sondern auch die Tätigkeit der Nationalgalerie in den zurückliegenden 80 Jahren. Dies betrifft einerseits Ausstellungen, die dort veranstaltet wurden, und andererseits die Akquisitionen neuer Werke für die Sammlungen. So wird etwa das Jahr 1945 mit einer Ausstellung der Gemälde von František Kupka aus der Zwischenkriegszeit repräsentiert. Diese wurde damals als ein bedeutendes Kulturereignis in der Tschechoslowakei wahrgenommen. Für die 1950er Jahre steht die Kunst im Dienst des sozialistischen Aufbaus im Vordergrund, obwohl ihr Wert gering gewesen sei, so Skopalová:
„Da zeigen wir auch die Werke des sozialistischen Realismus, die sogenannte Sorela-Kunst. Dabei ging es darum, die glänzende Zukunft zu zeigen. Diese kam aber nie, weil das kommunistische Regime die persönlichen Freiheiten und das intellektuelle Leben einschränkte.“
Offiziell neben verfolgt
Diese offizielle Strömung wird mit Vojtěch Tittelbachs Entwürfen für Gemälde an der Decke des Klement-Gottwald-Museums in Prag repräsentiert. Sie werden absichtlich neben dem „Großen Astronauten“ des unabhängigen und verfolgten Künstlers Pavel Brázda gezeigt.
Nach dem Tod von Josef Stalin 1957 erlebte die Kunstszene in der Tschechoslowakei eine Auflockerung. Es war möglich, an die Avantgarde anzuknüpfen. In den 1960er sei der Prozess fortgesetzt worden, sagt die Kuratorin Adéla Janíčková:
„Es war ein Umbruch, die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden lockerer. Wir können hier sehen, wie sich die frühere Spaltung zwischen der offiziellen Kunst und der illegalen oder unterdrückten Kunstszene veränderte. Progressive Strömungen traten auf einmal in den Vordergrund. Es kam zum Dialog. Die Mannigfaltigkeit der Kunst spiegelte die komplizierte Zeit wider.“
In der Kunst habe man eine Polarität beobachten können, verweist Janíčková:
„Auf der einen Seite stand die Kunst, die sich auf existenzielle Fragen konzentrierte- Sie stellte eine subjektive Betrachtung des persönlichen Erlebnisses und die Stellung des Individuums in der Gesellschaft dar. Das sehen wir etwa an den schönen Werken von Jitka und Květa Válová. Was den Stil betrifft, gab es nicht nur figurative Kunst, sondern auch Abstraktion.“
Aber auch brennende Probleme der Gesellschaft hätten sich dank der Lockerung der politischen Verhältnisse in der Kunst widergespiegelt. Der Einfluss des Machtapparats auf das Individuum wird unter anderem in der bekannten Skulptur „Großer Dialog“ (1966) von Karel Nepraš zum Ausdruck gebracht, die eine zentrale Position in der Schau hat. Adéla Janíčková fährt fort:
„In den 1970er Jahren entwickelt sich der Konzeptualismus. Die Künstler verzichteten auf physische Artefakte. Die Kunst konnte die Form einer Idee haben, einer Aufnahme eines Prozesses oder einer Aktion. Der Konzeptualismus konzentrierte sich vor allem in Brünn und Umgebung um Jiří Valoch. Wir haben hier seine Sammlung, die er der Nationalgalerie 2002 schenkte. Dank seiner Kontakte in ganz Europa und in der Welt konnte Valoch eine Sammlung aufbauen. Das ist sehr wichtig, weil die offiziellen Institutionen damals keine Werke der Konzeptkunst erworben haben.“
Das Jahr 1977 und die Charta 77 werden an einem illustrativen Werk vergegenwärtigt, nämlich „Dr. Cola“ von Jiří Kolář. Und weiter Michal Novotný:
„Wir dokumentieren daran einen der Wege, auf denen die Nationalgalerie Werke erwerben konnte. Jiří Kolář wurde zur Emigration gezwungen und in Abwesenheit zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Sein Eigentum wurde konfisziert, und so gelang dieses Werk in die Sammlungen der Nationalgalerie. Nach 1989 schenkte Kolář der Galerie das Werk nachträglich.“
323 Werke von 266 Künstlern
Michal Novotný führt weiter durch die Ausstellung. Die Besucher gelangen langsam in die 1980er Jahre:
„Die Bilder zeigen, dass das Traumhafte und Fantastische eine Flucht aus der Realität bedeutete. Man sieht hier auch die Rückkehr der Figur in die Kunst. In den 1980er Jahren trafen drei Generationen aufeinander, die sich gegenseitig stark beeinflussten. Gleichzeitig tauchten Angstmotive auf – man sieht sie etwa anhand der in sich eingehakten Körper im Gemälde von Jitka und Květa Válová oder den Maschinenmenschen in Gittern von Jiří Sozanský. Die Beklemmung transformierte sich schrittweise in eine Groteske, so wie etwa bei Jiří Sopko, Kurt Gebauer, Boris Jirků und Michael Rittstein.“
Novotný macht aufmerksam auf die Art und Weise, mit der die Bilder in der Schau gezeigt werden:
„Hier beginnt eine lange Wand, die Gemälde bis zur Gegenwart zeigt. Die Malerei ist im südlichen Flügel auf eine einzige Wand konzentriert, die verschiedene Kapitel durchläuft. Die Betrachter können so die Entwicklung der Malerei verfolgen.“
Das Jahr 1989 ist symbolisch wie ein Schuss durch die Panels dargestellt: ein Loch, ein Umbruch und Ausbruch. Die Künstler wandten sich danach der Frage nach ihrer eigenen Identität zu. Dies habe es in den Jahrzehnten zuvor nicht gegeben, sagt Novotný:
„Wir haben hier Werke, die mit der eigenen Identität arbeiten, zunächst vor allem bei Künstlerinnen. Daneben läuft die Postmoderne in eine Sackgasse. Die tschechische Postmoderne ist sehr interessant. Jiří David formulierte einerseits seine Forderung des unpersönlichen Schaffens. Andererseits mündete sie aber in der Rückkehr zur Subjektivität, die nach dem großen Schock des Jahres 1989 folgte.“
Ende der 1990er Jahre tauchen dann die neuen Medien auf, und die ganze Ausstellung endet mit Videoinstallationen.
Die Ausstellung „1939-2021: Das Ende der schwarz-weißen Ära“ ist im zweiten Stockwerk des Messe-Palastes im Prager Stadtteil Holešovice untergebracht. Sie ergänzt die dort bereits bestehenden Dauerausstellungen „1796-1918: Kunst des langen Jahrhunderts“, „1918-1938: Die erste Republik“ und die neu eröffnete Ausstellung „1956-1989: Architektur für alle“.
Die Galerie ist täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, jeden ersten Mittwoch im Monat bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 250 Kronen (10 Euro), ermäßigter Preis 140 Kronen (6 Euro). Der Messe-Palast befindet sich im Prager Stadtteil Holešovice, Dukelských hrdinů 47.
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