Der Griff nach Prag: Hitlers Einmarsch 1939

15. März 1939 in Prag (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Sie ist eines der tschechischen Traumata: die Besetzung durch Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Weichen dafür wurden bereits 1938 gestellt, durch das Münchner Abkommen. Dieses hatte die Tschechoslowakei dazu genötigt, die Sudetengebiete an Deutschland abzutreten. In den folgenden Wochen und Monaten wurde klar, dass sich Adolf Hitler nicht damit begnügen würde. Am 15. März 1939 marschierte die Wehrmacht in Prag ein. Während sich die Slowakei selbst abspaltete, wurde der Rest des Staates zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ erklärt.

15. März 1939 in Prag  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Die sudetenländische Propagandapostkarte
Die Pläne beginnen bereits im Oktober 1938. Hitler ist mit dem Münchner Abkommen nicht zufrieden – die Sudetengebiete sind ihm zu wenig. Deswegen lässt er die Wehrmacht einen Einmarsch in die Tschechoslowakei vorbereiten.

Zugleich rotiert die nationalsozialistische Propaganda. Man will Böhmen und Mähren „zurück in deutsche Hand“ holen. Deswegen werden Horrormeldungen verbreitet über die Lage der deutschen Minderheit im Rest der Tschechoslowakei. So heißt es zum Beispiel in den Nachrichten am 14. März:

„In Witkowitz zog der von Juden aufgehetzte kommunistische Mob an die deutsche Grenze und rief im Sprechchor: ‚Auf nach Troppau!‘ und ‚Nieder mit den deutschen Schweinen!‘ Bei diesen Zusammenrottungen wurden fünf Deutsche durch Stockhiebe über den Kopf erheblich verletzt, darunter zwei Frauen. In Kladno wurde das Haus des Deutschen Klubs demoliert und der Theatersaal in Brand gesteckt. Nun ist auch in Stangerln, in der Iglauer Sprachinsel, das Standrecht verhängt worden.“

Demütigung in Berlin

Emil Hácha  (Foto: Wikimedia Commons,  Public Domain)
Hitler setzt die Politiker in Prag unter Druck. Am 14. März erklärt sich der slowakische Landesteil für unabhängig. Noch am selben Tag wird der tschechoslowakische Präsident Emila Hácha nach Deutschland beordert. Am Abend fährt er mit dem Zug nach Berlin. Als er kurz vor Mitternacht dort ankommt, lässt man ihn zunächst zwei Stunden schmoren. Dann bearbeiten Hitler und weitere NS-Größen den alten und kränklichen Mann, sodass dieser mehrfach zusammenbricht. Letztlich kann Hácha nur noch klein beigeben und einem deutschen Einmarsch zustimmen. Eduard Stehlík ist Historiker am Nationalmuseum in Prag:

„Die damalige Lage lässt sich heute schwer beurteilen. Ich denke, dass es kaum Alternativen gab. Hácha wurde von Hitler und Göring unter Druck gesetzt mit der Drohung, Deutschland werde Prag bombardieren. Wenn er nicht unterschrieben hätte, wäre es auch nicht anders gekommen. Denn die Slowakei hatte sich bereits abgespalten, es blieb nur noch der Rest Böhmens und Mährens. Vielleicht wollte Hácha bis zum letzten Moment noch herummanövrieren. Doch letztlich endete dies im Protektorat. Ich glaube wirklich, dass seine Chancen gering waren als Präsident eines Staates, der aufhörte zu existieren.“

Adolf Hitler auf der Prager Burg  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-2004-1202-505 / CC-BY-SA 3.0)
Als der gedemütigte Staatschef zurückkommt, ist Hitler bereits in Prag eingetroffen. Es wird dessen einziger Besuch an der Moldau bleiben. Erst einen Tag später wendet sich Emil Hácha in einer Radioansprache an die Bürger des Landes.

„Nach einem längeren Gespräch mit Reichskanzler Hitler und einer gründlichen Analyse der Situation habe ich mich dazu entschlossen, das Schicksal des tschechischen Volkes und des Staates im vollen Vertrauen in die Hände des Führers des deutschen Volkes zu legen. Für diesen Vertrauensbeweis habe ich das Versprechen bekommen, dass unserem Volk die Selbstständigkeit und die unabhängige Entwicklung der Nation erhalten bleiben“, so das Staatsoberhaupt.

Hitler selbst versucht den Einmarsch so zu inszenieren, als sei er ein Triumphzug. Die Panzer und Autos der Wehrmacht werden per Zug zum damaligen Prager Wilson-Bahnhof gefahren. Von dort nehmen sie Kurs auf den Wenzelsplatz. Der Inlandssender sendet eine Live-Reportage auf Tschechisch, aber auch der sogenannte „volksdeutsche Sender Prag 2“ berichtet:

Deutsche Truppen auf dem Wenzelsplatz | Foto: Tschechisches Fernsehen
„Eben hat sich der untere Teil des Wenzelsplatzes mit Menschenmassen gefüllt, die ein uns unverständliches Lied singen. Aber es ist – das hört man – ein Lied der Begeisterung. Die deutschen Truppen haben den Wenzelsplatz betreten. Rechts vom Wilson-Bahnhof hier oben kommend sind deutsche Panzerwagen und Motorradwagen eben eingebogen, und der tschechische Schupo lenkt, als komme eine Straßenbahn daher, so selbstverständlich die deutsche Kolonne der Panzerwagen und der Motorradwagen auf den Wenzelsplatz ein. Überall fliegen die Hände hoch – hoch zum Hitlergruß. Ein historischer Augenblick hat seine Erfüllung gefunden. 15. März 1939, 10 Uhr 40: Die Truppen Adolf Hitlers sind auf dem Wenzelsplatz, im Herzen der Stadt angelangt.“

Düstere Stimmung, geballte Fäuste

Camill Hoffmann
Begeisterung? Davon kann bei der tschechischen Bevölkerung jedoch keine Rede sein. Der Journalist und Dichter Camill Hoffman stammt aus einer jüdisch-deutschen Familie in Prag. Er hat in den 1930er Jahren auch bei der tschechischen Gesandtschaft in Berlin gearbeitet. In seinem „politischen Tagebuch“ hat er seine Erlebnisse und Eindrücke des 15. März festgehalten. Dort schreibt er unter anderem:

„Morgens meldet der Rundfunk schon, dass deutsches Militär von allen Seiten einmarschiert, zwischen 10 und 11 treffen die ersten motorisierten Truppen von Mělník her auf dem Prager Invalidenplatz ein, und bald folgen andere, Motorfahrer, Tanks, Artillerie, Feldküchen, die Straßen sind voll Menschen. Der Tag ist grau, neblig, Schneegestöber, die Straßen vereist. Der Einmarsch war gewiss eine Gewaltleistung. Ich fahre im Autobus in die Stadt, der Autobus bleibt am Graben stecken. Ecke Graben-Wenzelsplatz ein Meer von Menschen, von Schutzleutenketten schwer zurückgehalten. Lautes langes Massenpfeifen, dann wieder die Hymne ‚Kde domov můj‘, Fäuste über den Köpfen. Wenn das sich wiederholt, sage ich mir, gibt es noch Blutvergießen. Die Erregung ist ungeheuer, die Stimmung düster. Sonst ist die Menge erstaunlich diszipliniert. (…) Viele Selbstmorde von Juden. Viele Verhaftungen.“

Joachim von Ribbentrop  (Foto: Bundesarchiv,  Bild 102-18083 / CC-BY-SA 3.0)
Tatsächlich kann auch keine Rede sein von einer Selbständigkeit der 7,2 Millionen Tschechen. Dies zeigt sich gleich am 16. März im Erlass zur Errichtung des Protektorats. Diesen verliest der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop, wobei er folgende Worte vorausschickt:

„Ein Jahrtausend lang gehörten zum Lebensraum des deutschen Volkes die böhmisch-mährischen Länder. Gewalt und Unverstand haben sie aus ihrer alten historischen Umgebung willkürlich gerissen und schließlich durch ihre Einfügung in das künstliche Gebilde der Tschecho-Slowakei den Herd einer ständigen Unruhe geschaffen. (…) Dem Tschecho-Slowakischen Staat und seinen Machthabern war es nicht gelungen, das Zusammenleben der in ihm willkürlich vereinten Völkergruppen vernünftig zu organisieren und damit das Interesse aller Beteiligten an der Aufrechterhaltung ihres gemeinsamen Staates zu erwecken und zu erhalten. Er hat dadurch aber seine innere Lebensunfähigkeit erwiesen und ist deshalb nunmehr auch der tatsächlichen Auflösung verfallen.“

Laut dem Erlass kann Berlin unter anderem „Rechtsvorschriften mit Gültigkeit für das Protektorat erlassen“ oder „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen“. Hitler ernennt den früheren Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath zum Reichsprotektor. An die Seite bekommt dieser aber Karl Herrmann Frank. In der Funktion als Staatssekretär provoziert der Sudetendeutsche ab dem Herbst gezielt die tschechische Öffentlichkeit.

Die Tschechen rücken zusammen

Foto: Tschechisches Fernsehen
Zwar versuchen die deutschen Besatzer zwischenzeitlich, die Menschen auch irgendwie auf ihre Seite zu ziehen. So verteilen sie zum Beispiel öffentlich Essen an Ärmere. Und Arbeitslose erhalten die Möglichkeit, in Deutschland einer Beschäftigung nachzugehen. Doch das Vertrauen der Tschechen gewinnen sie damit nicht, wie auch Hoffmann zwei Monate später notiert:

„Prag, im Mai 1939. Die Distanz zwischen den Okkupanten und den Okkupierten hat zugenommen. Erst glaubte man, das deutsche Militär werde allmählich den Kontakt mit der tschechischen Bevölkerung gewinnen. Dann sah die Bevölkerung, welche Mengen an Waffen, Vorräten, Rohstoffen nach Deutschland transportiert wurden, wie die Gestapo sich einschob und Massenverhaftungen vornahm, wie die vielen reichsdeutschen Autos ankamen und ihre Insassen die Posten, die in der Industrie und in den Banken von den Juden, aber auch zum Teil von Tschechen, geräumt wurden, in Beschlag nahmen. Die Ablehnung der Deutschen wurde immer entschiedener, immer eisiger. Sie äußert sich nicht in explosiven Ausbrüchen, sondern in stillen Demonstrationen. Die Tschechen bewahren ihre Disziplin. Sie rücken zusammen.“

Den Juden und Judenmischlingen im Protektorat wurde das Zeitunglesen verboten
Im November rollt dann die erste Terrorwelle über das Land. Bei einer genehmigten Trauerfeier tschechischer Studierender und Professoren in Prag kommt es zu antideutschen Protesten. In der Folge lässt Hitler 1200 Hochschüler verhaften, angebliche Rädelsführer erschießen und die tschechischen Hochschulen für vorerst drei Jahre schließen.

Noch im Laufe des Jahres 1939 beginnt auch die Verfolgung der knapp 120.000 Juden im verbliebenen Teil Böhmens und Mährens. Dies trifft ebenfalls Camill Hoffmann. 1942 kommt er ins KZ Theresienstadt. Im Oktober 1944 folgt er seiner Frau Irma in den Transport nach Auschwitz. Beide werden direkt nach Ankunft in den Gaskammern getötet.

Autor: Till Janzer
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