Der Heilige Wenzel und die Wenzeltradition in der tschechischen Geschichte
Der 28. September ist in Tschechien traditionell der so genannte Wenzel-Tag, das heißt der Tag zu Ehren des wohl bekanntesten, wenn auch nicht einzigen böhmischen Landespatrons. Gemäß der Legende wurde Fürst Wenzel an jenem 28. September 935 von seinem Bruder Boleslaw ermordet. Bis vor drei Jahren war dieser Tag ausschließlich von der katholischen Kirche gefeiert worden und hatte also einen überwiegend religiösen Inhalt. Im Jahr 2000 wurde der Tag aber erstmals auch als Staatsfeiertag begangen. Die politischen und auch öffentlichen Debatten, die vor dieser Entscheidung geführt wurden, waren jedoch nicht frei von Emotionen. Vor allem aus dem linken Teil des politischen Spektrums wurden Befürchtungen geäußert, die Aufwertung des Wenzel-Tages zum Staatsfeiertag würde zu einer Stärkung des Einflusses der katholischen Kirche führen.
Ein Blick in die Zeit vor mehr als 80 Jahren zeigt, dass die Person des hl.Wenzel schon damals, also in den Gründerjahren der Ersten Tschechoslowakischen Republik, ähnliche Emotionen weckte. Über die Gründe dafür sprach Radio Prag mit dem tschechischen Historiker Dusan Trestik, der sich seit vielen Jahren mit der Erforschung der Geschichte des frühen Mittelalters auf dem Gebiet der böhmischen Länder befasst:
Dieser Gegensatz zwischen dem liberal-protestantisch-fortschrittlichen neuen Staat und der katholischen Kirche als konservativer Stütze der alten Monarchie steckte laut Trestik in den Grundlagen des neuen Staates. In den ersten Jahren prallten diese Gegensätze bei verschiedenen Anlässen aneinander.
Zum Ausgleich zwischen der mehr oder weniger offiziellen hussitischen Staatsideologie und dem Katholizismus, der trotz allen gegenteiligen Versuchen die Hauptkonfession für die Mehrheit der Bewohner der Tschechoslowakei blieb, kam es laut Trestik erst im Jahr 1929. Damals wurde zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl der so genannte "Modus vivendi" geschlossen, der einer Art historischem Kompromiss, basierend auf gegenseitiger Anerkennung, gleichkam. Als eine Art Versöhnungsgeste gegenüber Rom wurde dann von der Prager Regierung im gleichen Jahr eine großangelegte Feier zum Jubiläum des hl.Wenzel veranstaltet.
Trotz dieses Entgegenkommens der offiziellen Stellen blieb jedoch in weiten Teilen der Gesellschaft die Skepsis gegenüber dem hl.Wenzel aufrecht, und zwar vor allem in Bezug auf dessen politische Entscheidungen. Insbesondere die jährlichen Tributzahlungen, von 500 Pfund Silber und 120 Ochsen zu denen sich Wenzel gegenüber Heinrich I. verpflichtete, wurden schon vielerorts als Akt der Schwäche aufgefasst. Wie beurteilt die staatsmännischen Fähigkeiten Wenzels der Historiker Dusan Trestik?
Dieser Mord an Wenzel steht nicht nur am Anfang von dessen Verehrung als Landespatron, sondern begründete auch ein zentralisiertes Staatswesen auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik, wie Dusan Trestik im folgenden erläutert:
Die unterschiedlichen Schicksale der beiden Brüder Wenzel und Boleslaw, bzw. deren heutige Wahrnehmung seien laut Trestik typische Beweise dafür, wie ungerecht Legenden und Geschichtsmythen sein und den geschichtlichen Fakten zuwider laufen können. Obwohl nämlich Wenzel immer als Staatsgründer wahrgenommen wurde, war es in Wahrheit erst sein Bruder, der mit Glück und viel Geschick den Staat eigentlich schuf und zeitweilig auch nach außen absicherte. Dieses Widerspruchs zwischen den wahren Gegebenheiten und dem entstandenen Heiligenkult war sich auch die Kirche im 11. Jahrhundert bewusst, denn, so Trestik, sonst erließe der damalige Prager Bischof an seine Priester wohl nicht die Anweisung den hl.Wenzel nicht wegen seines Märtyrertodes verehren zu lassen, sondern wegen seiner Leistungen als christlicher Herrscher.
Ein Grund für den relativ großen Erfolg der Wenzel-Legende bei der Bevölkerung liegt nach der Meinung Trestiks auch darin, dass das Motiv des Brudermordes zu den zugkräftigsten in der Weltgeschichte gehöre und auch in anderen Gründungslegenden, bzw. in der Bibel anzutreffen sei.
Es ist interessant, dass der Kult des hl.Wenzel in den vergangenen Jahrhunderten bei der Bevölkerung auf eine konstant starke Resonanz stieß. Seine Blütezeit erlebte er zweifellos im frühen Mittelalter und in der Zeit der Herrschaft des römischen Kaisers Karls IV., der sogar eine von zahlreichen Wenzel-Legenden verfasste. Sogar in der darauf folgenden unruhigen Hussiten-Zeit erfreute sich der hl.Wenzel starker Beliebtheit - wohl vor allem deshalb, weil er die Kommunion utraquistisch feiern ließ und die slawischsprachige Liturgie förderte. Eine verstärkte Bedeutung kam dann dem Wenzel-Kult ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu, also zur Zeit der so genannten "nationalen Wiedererweckung", um dann während des 20. Jahrhunderts einen neuerlichen Höhepunkt zu erreichen. Viele Tschechen verstanden nämlich insbesondere in politischen Krisenzeiten ihr öffentliches Bekenntnis zum Wenzel als Möglichkeit ein klares politisches Signal an die Außenwelt zu senden.So versammelten sie sich etwa im März 1939, als die Nazis in die böhmischen Länder einmarschierten, zu einem stillen Protest auf dem Prager Wenzelsplatz und umringten die Statue des Landespatrons. Knapp dreißig Jahre später, als die Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen ins Land rollten, um den Prager Frühling ein Ende zu setzen, spielte wiederum der Wenzelsplatz eine zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung mit den Besatzern und um die Lufthoheit über das Reiterstandbild des hl.Wenzel wurden regelrechte Straßenkämpfe geführt. Und nicht zu vergessen sind natürlich auch die November-Tage des Jahres 1989, als die Großkundgebungen auf dem Prager Wenzelsplatz das Ende des Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei einläuteten.