Der wundeste Punkt der tschechischen Gesellschaft

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Die Diskussion um die eigene totalitäre Vergangenheit sorgt weiterhin für viel Zündstoff in der tschechischen Gesellschaft - sofern darüber überhaupt diskutiert wird. In der vergangenen Woche lud das Tschechische Zentrum Berlin zu einer mit zahlreichen Experten gespickten Konferenz in die deutsche Hauptstadt ein, um den Stand der Aufarbeitung in der Tschechischen Republik mit der in der Bundesrepublik zu vergleichen. Während Sturmtief "Kyrill" Berlin in Atem hielt, wackelten zeitweise auch die Wände in der Tschechischen Botschaft, die als Veranstaltungsort diente. Sebastian Kraft berichtete bereits am vergangenen Freitag aus Berlin und fasst nun noch einmal die wichtigsten Ereignisse zusammen.

"Ein Sieg von Freiheit und Demokratie in diesen früher kommunistischen Ländern - und dies ist ein wesentlicher Beitrag und mit die Grundlage für das heute freie und geeinte Europa."

Über die Bedeutung der friedlichen Revolution von 1989 - Sie hörten dazu gerade den ehemaligen und einzig frei gewählten Außenminister der DDR, Markus Meckel - herrschte bei allen Beteiligten noch traute Einigkeit. Der Umsturz von 1989 ermöglichte der Tschechischen Republik nicht nur politische Freiheit und Unabhängigkeit vom Sowjetischen Block, sondern auch einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg und den Eintritt in NATO und Europäische Union. Nun wäre es aber vermessen zu glauben, dass in der tschechischen Gesellschaft alle Personen des öffentlichen und politischen Lebens über Nacht lupenreine Demokraten geworden wären. Zwar sitzen die alten Eliten nicht mehr in Führungsgremien der neuen demokratischen Republik, haben sich aber sehr wohl in der zweiten Garnitur fast aller Parteien etabliert. Eine systematische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, wie es in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 Alltag ist, stieß in der tschechischen Gesellschaft bisher auf noch kein positives Echo. Diskussionen sind wenn überhaupt auf das akademische Milieu oder auf die Kreise der ehemaligen Dissidenten beschränkt. Der Vizepräsident des tschechischen Senats, Jiri Liska von den Bürgerdemokraten, hat dafür eine einfache Erklärung:

"Die tschechische Gesellschaft muss sich ja um die Aufarbeitung alleine kümmern, während in Deutschland die demokratische Gesellschaft des Westens der entscheidende Initiator für die Aufarbeitung in der ehemaligen DDR war."

Im Vergleich zu Polen, wo in diesen Tagen die Diskussion um den zurückgetretenen Warschauer Erzbischofs Stanislaw Wielgus die ganze Nation vor eine Zerreißprobe stellt, läuft die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien äußerst schleppend an. Keine der bisher amtierenden Regierungen seit 1989 setzte in dieser Frage entscheidende Akzente. Bis am 1. Januar 2005 das neue Archivgesetz in Kraft trat, wurden vielen Dissidenten sogar die eigenen Akten vorenthalten. Der Prager Historiker Peter Koura setzt sich dafür ein, dass aus der Politik endlich klare Signale für eine Aufarbeitung des totalitären Regimes kommen, das die Tschechoslowakei über vierzig Jahre in Schach hielt.

"Die tschechische Gesellschaft ist auf eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit überhaupt noch nicht vorbereitet. Als Historiker bin ich äußerst deprimiert darüber, dass diejenigen stalinistischen Geheimdienstmitarbeiter der fünfziger Jahre als Staatsbeamte hohe Renten beziehen, während viele Dissidenten, die sie wahllos abgeurteilt haben, heute bezügliche ihres Lebensstandart sehr schlecht gestellt sind. Ein demokratischer Staat muss hier eine klare Stellung beziehen und sozialen Ausgleich schaffen. Aber in der tschechischen politischen Szene erwägt niemand einen derartigen Schritt, wie ihn z.B. die Brüder Kaczynski in Polen vorschlagen, wenn sie diesen ehemaligen Kommunisten die Renten kürzen wollen. Ich würde es begrüßen, wenn in Tschechien die Renten der Opfer des Kommunismus an die der Täter zuminderst angeglichen würden, jeder noch radikalere Schritt würde in der Gesellschaft wahrscheinlich heftigen Widerstand hervorrufen."

Zudem fordert Koura, dass in der Tschechischen Republik endlich ein Institut für die vollständige Öffnung und Aufarbeitung der Akten des Staatssicherheitsdienstes errichtet wird, wie es in Deutschland bereits seit 1991 unter der Leitung von Joachim Gauck bzw. Marianne Birthler besteht. Dass derartige Initiativen, die es in der Tschechischen Republik schon vor einigen Jahren gegeben hat, wie Peter Koura meint, bisher tatenlos verhallten, ist nach Meinung vieler Konferenzteilnehmer in Berlin auf den Widerstand innerhalb der politischen Klasse zurückzuführen. Teils hinter vorgehaltener Hand, teils auch öffentlich vertraten Dissidenten wie Josef Masin die Ansicht, dass viele Posten im Staatswesen der jungen Republik weiterhin von ehemaligen Kommunisten besetzt sind, die ein fundamentales Eigeninteresse haben, dass ein derartiges Institut nicht errichtet wird. Ob und in welcher Weise die Akten der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden sollen, rief dann auch im Laufe der Konferenz zuweilen heftige und lautstarke Diskussionen unter den Dissidenten hervor, die teils Emigranten von 1968 bzw. Anhänger der Charta 77 waren oder sogar mit Waffengewalt Widerstand leisteten wie Josef Masin, der 1953 nach gescheiterten Partisanenkämpfen gegen das stalinistische Regime mit einer spektakulären Flucht in die Vereinigten Staaten emigrierte. Senator Jiri Liska machte in seinem Plädoyer daraufhin klar, dass ein Aufarbeitungsinstitut wie die "Gauck-Behörde" in Deutschland auf der Agenda der am vergangenen Freitag bestätigten Regierung Topolanek stehe:

"Unser Ziel ist auf jeden Fall erst einmal die Errichtung eines Institutes des nationalen Gedächtnisses, wie es wahrscheinlich heißen wird. Es soll ein klares Signal sein, dass die jetzigen Politiker die Vergangenheit nicht vergessen, sondern sich damit befassen wollen."

Was eine solche Behörde in einer Gesellschaft bewirken kann, konnten die zahlreichen tschechischen Experten und Dissidenten aus dem direkten Mund von Joachim Gauck und Marianne Birthler erfahren, die beide aus dem protestantischen Milieu kommen und in jungen Jahren gegen das DDR-Regime Widerstand leisteten. Joachim Gauck war nach der Wiedervereinigung bis zum Jahr 2000 "Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", ehe ihm Marianne Birthler nachfolgte. Gauck und Birthler hatten wesentlichen Anteil an der Stasi-Aufarbeitung in Deutschland, die zwar in vielen Fällen eine bittere Wahrheit offen legte, insgesamt aber die breite Unterstützung der deutschen Gesellschaft fand, so Gauck. Im Vordergrund der Konferenz in der tschechischen Botschaft Berlin sollte in erster Linie der Vergleich zwischen der Aufarbeitung der beiden Staaten stehen, auch wenn die offenen Diskussionen dann wie von vielen erwartet in innertschechische Debatten mündete. Marianne Birthler sieht dies allerdings als eine positive Entwicklung für die tschechische Gesellschaft:

"Immer wenn kluge Leute sich streiten, lernt man nicht nur etwas über diese klugen Leute, sondern auch über sich selbst. So ging es mir heute auch. Mir wurde wieder einmal klar, dass wir erst am Anfang der transnationalen Debatte über den europäischen Kommunismus stehen. Ich überlege immer, wie man das intensiver fördern kann, dass wir darüber miteinander diskutieren und in einem zweiten Schritt uns dafür einzusetzen, dass die Geschichte des Kommunismus zum Bestandteil europäischer Geschichte wird, auch wenn man sie von Wien oder London betrachtet. Es sieht oft noch so aus, als ob der Kommunismus draußen vor der Tür passiert wäre - er war aber mitten in Europa. Wenn es irgendwann einmal ein europäisches Institut zur Erforschung des europäischen Kommunismus geben wird, sind wir einen kleinen Schritt vorwärts gekommen."

Vorwärts kommen - das bedeutet eben auch, manchmal zurückzublicken.

"Sören Kirkegaard hat einmal gesagt: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden"

Fotos: Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (www.stiftung-aufarbeitung.de)