Die akademische Sommerschule des Europäischen Comeniums in Cheb

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„Das Comenium liegt im Herzen Europas, und Europa liegt dem Comenium am Herzen.“ So will sich die Stiftung Europäisches Comenium verstanden wissen, die der Historiker und Slawist Frank Boldt 1992 im westböhmischen Cheb / Eger gegründet hat. Schon zum 17. Mal wurde diese Woche am Sitz des Europäischen Comeniums, dem ehemaligen Gerberhaus von Cheb, die deutsch-tschechische akademische Sommerschule eröffnet. Auch sie behält bei ihrem Programm Europa im Blick: das Europa von gestern, von heute und von morgen.

Jürgen Siebeck und Ludmila Dittertová
Manche Teilnehmer zieht es immer wieder hierher, so auch die Pragerin Ludmila Dittertová:

„Ich bin schon zum 13. Mal hier. Daraus kann man ersehen, dass ich gerne in diese Sommerschule fahre. Ich bin ihr treu geblieben. Anfangs hat mich die Neugier auf Herrn Doktor Boldt hierher geführt, da er schon medial berühmt war. Außerdem wollte ich Deutsch lernen. Wenn man wie ich Ärztin ist, dann hat man wenig Zeit, sich mit etwas anderem als dem eigenen Fach zu beschäftigen.“

Die Vorträge und Diskussionen über aktuelle Zeitfragen, die Filme und Ausstellungen kommen da als Abwechslung und bereicherndes Bildungserlebnis gerade recht. Auch andere Teilnehmer zieht es immer wieder ins ehemalige Gerberhaus von Cheb, vor die Tore der früheren Kaiserpfalz am Ufer des Flusses Eger.

„Mein Name ist Jürgen Siebeck, ich bin ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission in Brüssel und wohne seit etwa zehn Jahren in Berlin. Ich bin seit vielen Jahren aktiver Teilnehmer dieser akademischen Sommerschule, wobei ich nicht mehr ganz genau weiß, wann ich zum ersten Mal hier war. Die akademische Sommerschule hat mir sehr geholfen bei meinen Bemühungen, eine slawische Sprache sprechen und verstehen zu lernen. Darüber hinaus aber, und das ist das, was mich immer wieder hierher nach Cheb bringt, sind es die Informationen über Böhmen und speziell auch über die Region hier, das Egerland und die angrenzenden Räume.“

Unter allen Sommerkursen, die es in Tschechien gibt, dürfte die akademische Sommerschule des Europäischen Comeniums wohl jene mit der treuesten Klientel sein. Die Konzeption, die ihr der Gründer, Frank Boldt, vor 17 Jahren gab, macht es möglich, auch beim wiederholten Besuch etwas dazuzulernen.

Der gebürtige Berliner, Historiker und Slawist, war Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Bremen gewesen und hatte an der Universität Bremen gelehrt, bevor er sich 1992 in Cheb niederließ und die Stiftung Europäisches Comenium gründete. An den Universitäten in Prag und Pilsen lehrte Frank Boldt außerdem Geschichte. Den Gründer der Stiftung Europäisches Comenium leitete das Bemühen um Völkerverständigung im Sinne von Jan Amos Komenský. Die Stiftungsarbeit richtete er an einem Grundsatz des tschechischen Pädagogen, Theologen und Bischofs der protestantischen Kirche der Böhmischen Brüder aus. „Wir müssen die Sprache des anderen lernen, wenn wir ihm zuhören und ihn begreifen wollen“, hatte Comenius einmal geschrieben. Zuhören, begreifen, und das in der Sprache des andern - diesem Motto folgt auch die alljährliche Sommerschule des Europäischen Comeniums.

Unter Frank Boldt wurde sie zu einem Ort der Begegnung für Akademiker und Nichtakademiker, Künstler und Kunstinteressierte, die sich mit den Themen der deutsch-tschechischen und europäischen Geschichte auseinandersetzen wollen. Dazu gehören auch kontroverse, schmerzliche, offene Themen. Teilnehmerin Ludmila Dittertová:

„Mich interessierten zum Beispiel die Vorträge über die Sudeten, über die Geschichte der Sudetendeutschen und die Aussiedlung. Aber auch Themen wie das Leben in der Ersten Republik, die Juden, Metternich oder die Habsburger. An einigen Vorträgen nahmen unmittelbar Zeitzeugen und Landsleute aus den früheren Zeiten teil, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verglichen haben. Das war wirklich überaus interessant.“

Sind wir trotz aller Wunden ein lebensfähiges, einiges, zukunftsträchtiges Europa, oder sind wir zu Streit, Vergessen und bleibendem Vorurteil verdammt? Diese Frage stand für Frank Boldt im Mittelpunkt seines Schaffens und im Herzen Europas, dort, wo er auch seine Stiftung angesiedelt hatte.

Seit Frank Boldts überraschendem Tod vor drei Jahren führt Nella Michailovskaja, seine langjährige Lebensgefährtin und Wegbegleiterin, die Stiftung weiter. Geschichte, Versöhnung und Zukunft Europas sind auch für sie die zentralen Herausforderungen, doch sie stellt diese Aufgaben in einen weiteren Rahmen:

Nella Michalovskaja
„Ich selbst will und kann die Stiftungsarbeit nicht genauso gestalten, wie das Frank Boldt getan hat. Es geht in erster Linie darum, den europäischen Gedanken weiterleben zu lassen. Wir versuchen, immer mehr auch die Schiene Theater, Kultur, Kunst und Musik durchzusetzen. Das ist eine neue Komponente unseres Programms. Wir wollen, dass jeder Interessierte, der hierher kommt, etwas findet, was ihn persönlich anspricht. Dass die Stiftung nicht nur auf Geschichte und den engen Fachkreis der Historiker beschränkt ist.“

Das Thema der diesjährigen Sommerschule: „Irrwege, Katastrophen und Krisen, historische Wendepunkte aus der Perspektive der globalen Veränderungen“ wird daher nicht nur unter einem historischen Aspekt, sondern auch vom Blickwinkel der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur behandelt. Nella Michailovskaja:

„Es geht um unterschiedliche Aspekte von Krisen in den einzelnen Lebensbereichen. Man kann nicht sagen, dass ein Bereich des Lebens wichtiger wäre als ein anderer. Aber es kommt zum Beispiel Kristýna Vlachová, die bekannte Dokumentarfilmerin. Sie zeigt ihren neuen Film über Jan Palach. Sie ist medial sehr bekannt. Außerdem hält Jan Beránek von der Greenpeace-Bewegung einen Vortrag. Er reist aus Amsterdam an. Aber ich würde sagen, sehr interessant und aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Punkt ist der Diskussionsabend zum Thema `Das Jahr 1989 in Eger und in Plauen`.“

Fünfunddreißig Teilnehmer sind angereist, um sich in diesem Jahr im ehemaligen Gerberhaus von Cheb dem aktuellen Thema der Krise zu stellen. Sie kommen vorwiegend aus Tschechien und Deutschland, einige aber auch aus Österreich und aus anderen Ländern. Neben Vorträgen, Diskussionen und Filmen besuchen sie vor allem Sprachkurse. Der Sprachvermittlung hat die Stiftung Europäisches Comenium von Beginn an große Bedeutung beigemessen. Hier gab es die ersten Deutsch- und Tschechischkurse nach der Wende, bei denen Deutsche und Tschechen parallel unterrichtet wurden. Anfänger und Fortgeschrittene können aus den nach Schwierigkeitsgraden gefächerten Kursen wählen. 60 Unterrichtsstunden lang drücken die Teilnehmer während der zweiwöchigen Sommerschule die Schulbank. An einigen Nachmittagen gibt es Exkursionen.

ehemaliges Gerberhaus
„Ausflüge gehen diesmal in Tschechien nach Kadaň / Kaaden und nach Kynžvart / Königswart, anlässlich des 150. Todestags von Metternich. Des Weiteren geht es nach Chodová Planá / Kuttenplan, wo vor relativ kurzer Zeit das Grab des Arztes und Literaten Johann Emanuel Veith entdeckt wurde. Wir machen aber auch einen Ganztagsausflug nach Thüringen“, so Nella Michailovskaja.

Bei dem Ausflug nach Thüringen wird der Projektpartner der Sommerschule besucht, die vom Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, der Stadt Cheb und dem Kreis Karlovy Vary / Karlsbad gefördert wird. Projektpartner ist der Johann-Amos-Comenius-Verein in Ebersdorf. Dort lernen die Teilnehmer die Ortsgemeinde Ebersdorf der Herrnhutter Brüdergemeine kennen.

Die Mehrheit der Teilnehmer gehört der mittleren und älteren Generation an. Auch das ein Spezifikum, das diese Sommerschule von anderen unterscheidet. Die Veranstalter suchen daher den Dialog zwischen den Generationen. Ein Schulprojekt wurde vor einigen Jahren als fester Bestandteil in das Programm aufgenommen. Es lässt Gymnasiasten aus Deutschland und Tschechien zu Wort kommen.

„Schüler aus Mecklenburg-Vorpommern, aus der Stadt Röbel, und Schüler der Gymnasien in Aš / Asch und Cheb stellen während der Sommerschule ein Projekt vor. Das Projekt besteht aus einem Dokumentarfilm und einer Ausstellung zu einem bestimmten Thema. Dieses Jahr ist das Thema der Gründer des Europäischen Comeniums. Es lautet: ‚Frank Boldt – ein Europäer’. Und wir lassen uns überraschen! Die tschechischen und deutschen Schüler haben ein ganzes Jahr lang an diesem Projekt gearbeitet.“

Die akademische Sommerschule des Europäischen Comeniums läuft noch bis Ende August. Doch auch für das nächste Jahr haben sie sich Nella Michailovskaja und ihr Team wieder einiges vorgenommen.