Die liebe Familie: Auf der Werteskala der Tschechen nimmt die Familie unumstritten den ersten Platz ein

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Vor einer Woche haben die Spanier in einer Volksabstimmung die EU-Verfassung ratifiziert. In neun weiteren EU-Ländern, darunter auch Tschechien, sind Referenden geplant. Der Weg dahin aber war mühselig und das Zustandekommen dieser Verfassung eine schwere Geburt. Und das nicht zuletzt wegen der Frage, ob in der Präambel ein ausdrücklicher Bezug auf christliche Werte verankert werden soll, versteht sich die Europäische Union doch auch als Wertegemeinschaft. Sandra Dudek hat sich informiert, wie es um die Werthaltungen, die Zukunftserwartungen, aber auch die Sorgen der tschechischen Bevölkerung bestellt ist:

"Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas ...": Mit diesen Worten beginnt nun die Präambel der ersten und bereits von einigen Ländern ratifizierten EU-Verfassung. Ein dezidierter Gottesbezug, wie ihn unter anderem die Polen eingefordert haben, fehlt aber. Nicht zuletzt dadurch wurde ersichtlich, wie schwierig es ist, den kleinsten gemeinsam Nenner für die Interessen von 25 Mitgliedsländern zu finden, vor allem dann, wenn es um Werthaltungen geht. Während der Bezug auf christliche Werte für viele der knapp 460 Millionen EU-Bürger zu den Grundlagen eines gemeinsamen Europas gehört, ist dies für die Tschechen kein Thema. Im Gegenteil: Auf ihrer Werteskala rangiert der religiöse Glaube, nach der Politik, an letzter Stelle, wie eine vom CVVM, dem Meinungsforschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften durchgeführte Umfrage ergeben hat. Dazu Jan Cervenka vom CVVM:

"Die Reihenfolge des politischen und religiösen Lebens ist gut verständlich. Wenn es um die Position der Politik vor dem religiösen Leben geht, dann kann man sagen, dass die tschechische Öffentlichkeit in dieser Hinsicht ziemlich speziell ist, weil die Tschechen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weniger religiös sind. Obwohl ich nicht über die genauen Zahlen verfüge, ist es sehr leicht möglich, dass vor allem in den stark katholisch orientierten Ländern die Stellung der Religion ein bisschen anders sein kann."

Jan Cervenka
In der 2004 durchgeführten Studie wurden über 1000 befragten Tschechinnen und Tschechen sechs Begriffe vorgegeben, die sie nach ihrer Wertigkeit reihen sollten. Neben Religion und Politik waren dies auch Familie, Arbeit, Freizeit sowie Freunde und Bekannte. Und das Ergebnis ist eindeutig, so Jan Cervenka vom Meinungsforschungsinstitut CVVM:

"Sofern es um die Lebensbereiche geht, dann ist für die Mehrheit der Leute eindeutig die Familie der wichtigste Bereich. Mehr als drei Viertel der Befragten haben sie an erster Stelle gereiht."

Für genau 77 Prozent der Befragten steht die Familie auf Platz eins ihrer Werteskala, mit einigem Abstand folgen an zweiter Stelle Freunde und Bekannte. Diese seien freilich vor allem für jüngere Menschen wichtig, wie Cervenka ausführt. Nicht in den sechs Kategorien aufgelistet war der Bereich Gesundheit, der bei einer nicht repräsentativen Straßenbefragung von Radio Prag unter Passanten gleich nach der Familie und häufig in deren Zusammenhang genannt worden ist, wie dies beispielsweise Linda Ruzicková, Friseurin in Mutterschaftsurlaub, stellvertretend formuliert:

"Der größte Wert für mich ist die Familie und dass wir gesund sind und dass wir irgendwie anständig leben können."

Um "anständig leben" zu können, ist für viele auch die Arbeit ein wichtiger Bereich. In der vom CVVM durchgeführten Umfrage wird sie nach Familie und Freunden an dritter Stelle gereiht. Allerdings soll es nicht irgendeine Arbeit sein, so der Personalmanager Jan Bílek:

"Für mich ist es wichtig, dass ich zufrieden bin und wenn Sie fragen, was damit gemeint ist, dann sicherlich, dass man im persönlichen Leben zufrieden ist, das heißt in einer Partnerschaft. Eine wichtige Voraussetzung ist auch, dass ich eine gute Arbeit habe, aus der ich gut gelaunt und nicht deprimiert nach Hause komme. Solange man also Arbeit und einen Rückhalt zu Hause hat, dann glaube ich, dass es nichts gibt, worüber man sich beschweren könnte, sondern dass man das einfach nur genießen sollte."

Nicht nur für Jan Bílek, auch für die anderen befragten Passanten ist die Zufriedenheit ein wichtiger Faktor in ihrem Leben. Und diese Zufriedenheit geht meist mit einem erfüllten Familienleben einher, so Linda Ruzicková, Friseurin in Mutterschaftsurlaub:

"Ich bin sehr zufrieden. Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder, schöne Kinder und einen lieben Ehemann, also bin ich zufrieden."

Diese Aussage spiegelt auch die Allgemeinstimmung der europäischen Bürger wider, die im letzten Eurobarometer erhoben worden ist. Der in den 25 Mitgliedsländern durchgeführten Studie zufolge sind acht von zehn EU-Bürgern mit ihrem gegenwärtigen Leben zufrieden. Anders dagegen sieht es aber mit der Zufriedenheit außerhalb des persönlichen Lebens aus, vor allem der politische Bereich ist für die Tschechen ein Grund zur Ärgernis, wie der evangelische Pfarrer, Blahoslav Hájek, erläutert:

"Ich bin nicht sehr zufrieden, sehr begeistert von unserem politischen Leben, vom Benehmen der Parteien und so weiter. Ich würde mir eine bessere politische Kultur erwarten."

Foto: Europäische Kommission
Aber nicht nur die politische Kultur im eigenen Land gibt in der tschechischen Bevölkerung Anlass zur Skepsis, auch die Institutionen der Europäischen Union stoßen nicht auf uneingeschränktes Vertrauen. Dies könnte, so die Studentin Tereza Pecáková auch seine Gründe haben:

"Ich glaube, dass viele Tschechen wenig Informationen über die EU haben. Ja, ich bin froh, dass wir in der EU sind, aber die Funktionen und die verschiedenen Organe, da bin ich mir nicht sicher, ob das klappt, ob das nicht zu bürokratisch ist. Was die Verfassung betrifft, darüber weiß ich auch fast nichts."

Laut Eurobarometer haben nur rund 50 Prozent der Tschechen Vertrauen in die europäischen Institutionen. Verantwortlich dafür könnte unter anderem das Misstrauen vor dem aufgeblasenen Beamtenapparat sein, wie der evangelische Pfarrer Blahoslav Hájek meint:

"Die Schwierigkeit ist, dass es zu langsam geht, dass es zu bürokratisch ist, aber ich selber weiß nicht, wie es zu lösen ist. Vielleicht ist es eine Notwendigkeit, dass ein großer Vorteil auch einige Nachteile mit sich bringt. Deshalb lasse ich es zu, dass es einige Probleme gibt, aber ich glaube, dass das Positive größer ist als das Negative."

Trotz der grundsätzlich positiven Einstellung, mit der die EU-Bürger und mit ihnen auch die Tschechen in die Zukunft blicken, gibt es aber natürlich auch Ängste und Sorgen. Laut Eurobarometer ist dies in erster Linie die Angst vor Arbeitslosigkeit, die knapp 50 Prozent der EU-Bürger befürchten, sowie die wirtschaftliche Lage, die steigende Kriminalität und der Terrorismus. Die Reihenfolge variiert je nach Lebenssituation, wie die Aussage der zweifachen Mutter Linda Ruzicková bezeugt, wenn man sie draft, wovor sie am meisten Angst hat:

"Wahrscheinlich am meisten vor einem terroristischen Anschlag, ob das jetzt hier in Prag oder irgendwo anders auf dieser Welt ist und dann auch vor diesen Naturkatastrophen, wie zum Beispiel Überschwemmung oder Feuer, einfach diese Dinge, die uns die Natur antut. So, wie wir uns ihr gegenüber verhalten, so gibt sie es uns zurück."

Derzeit sieht also die Werteskala der Tschechinnen und Tschechen so aus, dass die Familie an erster Stelle steht, gefolgt von Freunden, Arbeit, Freizeit, Politik und dem religiösen Glauben. Dies ist unter anderem auch historisch bedingt, wie Jan Cervenka vom Meinungsforschungsinstitut CVVM meint. Und eine Änderung ist durchaus möglich:

"Auf Basis anderer Umfragen, die sich auch mit den Wertorientierungen beschäftigen, kann man sagen, dass es mit der Änderung des Lebensstils im Laufe der 90er Jahre auch zu anderen Änderungen kam. Einige Werte, die früher ausgeprägter waren, sind jetzt im Rückgang begriffen und an der Spitze der Skala haben die hedonistischen Werte zugenommen, wie beispielsweise Geld, Freizeit und Freunde. Diese Veränderungen sind aber langfristig, das ist auf keinen Fall ein plötzlicher Umbruch, eine schnelle Angelegenheit."





Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:



www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union

www.euroskop.cz

www.evropska-unie.cz/eng/

www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online

www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt