Die nicht-offizielle Sicht: Tschechische Exilzeitschriften werden digitalisiert

Foto: Archiv des Instituts für das Studium totalitärer Regime

Zu kommunistischen Zeiten haben Exil-Tschechen eine große Zahl unterschiedlicher Zeitungen, Zeitschriften und weitere Schriften herausgegeben. Eines der renommiertesten Periodika hieß „Západ“, auf Deutsch: „Der Westen“. Das Prager Institut für das Studium totalitärer Regime hat nun diese Exilzeitschrift digitalisiert und alle Ausgaben im Internet frei zur Verfügung gestellt. Das hilft auch Schulen beim Unterricht der neuesten tschechischen Geschichte.

Zeitschrift „Západ“  (Foto: Archiv des Instituts für das Studium totalitärer Regime)
Es waren schätzungsweise mehrere Hundert Periodika, die zwischen 1945 und 1989 von Tschechen im Ausland aufgelegt wurden. Die bedeutendsten von ihnen werden in den vergangenen Jahren schrittweise in elektronische Form umgewandelt und damit wiederveröffentlicht. Die Zeitschrift „Západ“ ist die Neueste, die an der Reihe war. Sie erschien von 1979 bis 1991 in Kanada, ihre Leser fand sie aber in der ganzen Welt. Nach Möglichkeit wurden die Exemplare auch in die Tschechoslowakei geschmuggelt. Der Titel „Západ“ sollte darauf verweisen, wohin die Tschechoslowakei eigentlich kulturell gehöre: nämlich nicht ins sozialistische Osteuropa. Miloš Šuchma hat die Zeitschrift gegründet und leitete sie dann als Chefredakteur. Er erinnert sich:

Miloš Šuchma  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
„Ich habe irgendwann 1977 einige meiner Freunde brieflich angesprochen, meistens Universitätsprofessoren, die sehr gut schreiben konnten. Ich schlug ihnen vor, eine Zeitschrift für Exil-Tschechoslowaken und Nachkommen früherer Auswanderer zu gründen, mit einem breiten thematischen Spektrum: von Politik über Theater, Film, Philosophie bis hin zum Sport. Dadurch sollte sich die Revue von rein politischen Exilzeitschriften wie Listy oder Svědectví unterscheiden. Die Reaktion war allseits positiv: Es meldete sich eine ganze Reihe von ausgezeichneten Mitarbeitern, die die Idee toll und neu fanden. Die erste Nummer erschien im Januar 1979 und wurde sehr gut aufgenommen. Uns gelang es, allein durch die Abonnements die Zeitschrift finanziell abzusichern. Das war damals ein großer Erfolg.“

Gerichtsprozess gegen Dissidenten im Wortlaut

Josef Škvorecký | Foto: public domain
Für die Herausgebe von „Západ“ schlossen sich alle in Nordamerika lebenden bedeutenden Exil-Tschechoslowaken zusammen. Die Zeitschrift wurde beim Verlag „68 Publishers“ in Toronto gedruckt. Dieser Verlag, von Josef Škvorecký gegründet und geleitet, gab tschechische und slowakische Bücher heraus, die die kommunistische Zensur verboten hatte. Schriftsteller Škvorecký schrieb selbst auch viele Artikel für die Zeitschrift. Alle Beiträge kamen bei Miloš Šuchma auf den Tisch, der das letzte Wort hatte in der Redaktion.

„Západ“ bot den Lesern unter anderem auch umfangreiche und vor allem unabhängige Nachrichten aus der Tschechoslowakei. In der Februarausgabe 1980 erschien zum Beispiel die komplette Umschrift eines Gerichtsprozesses gegen eine Gruppe von Dissidenten, der im November zuvor in Prag stattgefunden hatte. Die Anklage lautete auf „Unterwanderung der Republik“, die Angeklagten hatten ein „Komitee zum Schutz ungerecht Verfolgter“ gegründet. Damit wollten sie auf die Verstöße gegen Menschenrechte in der ČSSR aufmerksam machen. Solches Engagement galt aber als verboten, und die Angeklagten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Obwohl eigentlich niemand bei der Gerichtsverhandlung Notizen machen durfte, gelangte eine Transkription der Aussagen bis nach Kanada. Für solche Informationsübertragung gab es mehrere Wege.

„Radio Free Europe oder Voice of America lieferten einen sehr guten Nachrichtendienst. Ihre Korrespondenten hatten Überblick über das Geschehen in der Tschechoslowakei und standen in Kontakt mit der Opposition im Land. Sie wurden zwar ständig durch das Regime überwacht, trotzdem konnten sie sich relativ mehr leisten als tschechoslowakische Bürger. Einen diplomatischen Konflikt wegen der möglichen Verfolgung ausländischer Journalisten wollte das Regime nicht riskieren. Darüber hinaus bekamen wir auch Briefe von unseren Freunden, die auf verschiede geheime oder halb geheime Wege an Informationen kamen. Internet gab es damals natürlich noch nicht, aber das Fax, und dies war uns ein guter Helfer. Deswegen waren wir meiner Meinung nach ziemlich gut informiert über die Lage in der Tschechoslowakei“, erläutert Miloš Šuchma.

Ausländische Journalisten helfen mit

Foto: Tschechisches Fernsehen
Das bestätigen auch die Historiker. Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 schwappte eine neue Welle von Exilanten ins Ausland. Sie waren stark daran interessiert, möglichst intensive Kontakte zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten. Der Briefverkehr mit dem kapitalistischen Westen wurde zwar überwacht, normalerweise wurde die Post aber zugestellt. Und wer der Zensur entgehen wollte, konnte den Brief über Freunde aus Ungarn oder Jugoslawien absenden. Auch viele in Prag tätige Diplomaten aus freien Ländern waren bei den grenzüberschreitenden Kontakten behilflich. Darüber hinaus konnte man seit Mitte der 1980er Jahre direkt ins Ausland telefonieren.

Die letzte Ausgabe von „Západ“ erschien 1991
Die letzte Ausgabe von „Západ“ erschien 1991. Die Herausgeber stellen die Exilzeitschrift ein, weil in der Tschechoslowakei wieder die Pressefreiheit eingeführt worden war. Trotzdem hat sich Miloš Šuchma in den vergangenen Jahren für eine Digitalisierung aller 86 Ausgaben seiner Zeitschrift eingesetzt. Die Aufgabe übernahm das Prager Institut für das Studium totalitärer Regime. Auf der Webseite des Instituts findet sich auch eine Liste aller Beiträge und Autoren. Petr Blažek war beim Institut für die Digitalisierung verantwortlich:

„Vor kurzem haben wir auf einem spezialisierten Internetportal ein Interview mit der unlängst verstorbenen Aja Vrzáňová veröffentlicht. Dieses umfangreiche Interview kommt eben aus der Zeitschrift ‚Západ‘, es erschien 1980. Die Doppelweltmeisterin im Eiskunstlauf erzählte dort über die Umstände ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei und über das Leben im Ausland. Für heutige junge Menschen klingt es unglaublich: Ein 18-jähriges Mädchen, das in London zum zweiten Mal den Weltmeistertitel erringt, wird auf Schritt und Tritt von Geheimagenten der Staatspolizei kontrolliert und schikaniert. Um sich von ihnen endlich zu befreien, flüchtet das Mädchen mit seinem Trainer durch einen Nebenausgang aus dem Hotel, um ein Flugzeug nach Paris zu erreichen… Viele Leser reagierten auf das Interview, sie fanden es interessant und haben sich für seine Veröffentlichung bedankt. Auch dies spricht für die hohe Qualität der Zeitschrift. Ohne den Wert anderer Exilperiodika herabsetzen zu wollen, muss man sagen, dieses war wirklich einzigartig. Viele Artikel des Západ haben bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren.“

Beschäftigungsmöglichkeit für Behinderte

Die wichtigsten tschechischen Exilzeitschriften kann übrigens jeder selbst vergleichen. Auch das vom bekannten Schriftsteller und Politiker Pavel Tigrid geleitete „Svědectví“ (das Zeugnis) steht komplett im Internet. Um die Digitalisierung hat sich der ehemalige Dissident Miroslav Svoboda aus Plzeň / Pilsen verdient gemacht. Er hat ein Projekt mit dem passenden Namen „Exodus“ ins Leben gerufen. Das Projekt hat auch eine soziale Dimension, denn behinderte Menschen wurden in die Arbeit eingebunden, so zum Beispiel in die Digitalisierung. Petr Blažek hält große Stücke auf das Engagement von Miroslav Svoboda:

„Herr Svoboda arbeitet vor allem mit der Bibliothek ‚Libri Prohibiti‘ zusammen, die über umfassende Bestände von Exilzeitschriften und Exilbüchern verfügt. Wir haben bereits vor einigen Jahren abgesprochen, die Arbeit aufzuteilen. Während sich das Institut für das Studium totalitärer Regime vor allem mit der Digitalisierung der illegalen Zeitschriften in der Tschechoslowakei beschäftigt hat, übernahm Miroslav Svoboda die Exilperiodika. Das Institutsanliegen mit dem ‚Západ‘ war eigentlich eine Ausnahme von dieser Regel. Sonst ist das Engagement von Herrn Svoboda eine fantastische Sache, dadurch sind bereits einige Exil- und Samisdat-Periodika in elektronische Form umgewandelt worden.“

Petr Blažek  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die meisten Leser der digitalisierten Exil-Zeitschriften sind der Erfahrung von Petr Blažek nach Gymnasiasten, Studenten und Lehrer. Liest man nämlich eine Ausgabe von „Západ“ oder „Svědectví“, erfährt man mehr als bei einem stundenlangen Vortrag. Auch Jugendliche wollen übrigens heute wissen, wie ihre Eltern in Unfreiheit leben konnten – und was sie möglicherweise gegen die Unterdrückung getan haben.