Die Perspektive des Anderen: Neue tschechisch-deutsche Publikation zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten
Tschechen und Deutsche sind unmittelbare Nachbarn. Aber wissen sie wirklich, was die Menschen im jeweils anderen Land bewegt? Auf diese Frage könnte nun mit Ja antworten, wer die neue Publikation „Česko. Německo. V kontextu“ (Tschechien. Deutschland. Im Kontext) durchliest. Diese erscheint nicht nur in beiden Sprachen, sondern beleuchtet jedes seiner sieben Themen auch von der tschechischen und der deutschen Seiten.
Kontext, also der größere Zusammenhang, ist wichtig, um Dinge zu begreifen. Das gilt auch für die Beziehung der beiden Nachbarländer Tschechien und Deutschland. Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, haben die Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) Prag und die tschechische Assoziation für internationale Fragen (AMO) nun eine Publikation mit dem Titel „Tschechien. Deutschland. Im Kontext“ herausgegeben. Adéla Jurečková ist die Leiterin des Prager HBS-Büros:
„Dieses Buch ist wichtig, weil wir Deutschen und Tschechen uns nicht immer gegenseitig verstehen. Wir kennen uns zwar und glauben, viel voneinander zu wissen – vor allem auf der tschechischen Seite, weil Deutschland doch mehr im Mittelpunkt steht. Aber wirklich verstehen, wie die Debatten im anderen Land laufen, was den Leuten wichtig ist, wie sie zu ihren Standpunkten kommen, das passiert oft nicht.“
Sie habe einst selbst die Erfahrung gemacht, wie sehr man ohne den Blick nach außen in der eigenen Geschichte gefangen sein kann, gesteht Jurečková ein und gibt eine Anekdote aus ihrer Jugend zum Besten:
„Als ich 16 war und nach Deutschland aufs Gymnasium kam, hing im Internat ein Plakat gegen das Atomkraftwerk Temelín. Ich und auch andere tschechische Austauschschüler, wir haben uns sehr aufgeregt darüber, wie die Deutschen es sich erlauben können, unser Kraftwerk zu kritisieren und dagegen zu protestieren. Das kam aus einem Verständnis heraus, dass der große Nachbar uns nicht unser eigenes Ding machen lasse und nicht genug Vertrauen habe in uns und unsere Fähigkeit, das gut zu managen. Später habe ich in Gesprächen und Debatten mit meinen Freunden und Mitschülern erfahren, wie die Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung verlaufen ist und dass es nicht primär um Tschechien geht, sondern es sich um eine viel grundsätzlichere Position handelt. Das war für mich sehr spannend und inspirierend. Und deshalb habe ich dann auch meine Meinung geändert.“
Und so ist aus Jurečková am Ende doch keine Atomkraftbefürworterin geworden, sondern die heutige Direktorin der Prager Vertretung der Parteistiftung der deutschen Grünen.
Auch der deutsche Botschafter in Prag, Andreas Künne, lobt das neue Buch über alle Maßen…
„Denn ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir die Perspektive unserer tschechischen Nachbarn verstehen – von ihnen selbst erklärt zu einzelnen Themen. Und dass diese Perspektive dargestellt wird von Menschen, die sich nicht jeden Tag um die deutsch-tschechischen Beziehungen kümmern, sondern um die jeweiligen Themen, die sie hier vorstellen.“
Damit kommt Künne auf das Konzept der Publikation zu sprechen. Jedes der sieben Themen, zu denen etwa Arbeit, Klima und Energiepolitik oder auch Gendergerechtigkeit gehören, wird immer in zwei Artikeln dargestellt – einem von tschechischen und einem von deutschen Autoren. Marie Jelínková von der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Prager Karlsuniversität hat zum Beispiel einen Text für das Kapitel „Identität und Diversität“ geschrieben. Darin betrachtet sie die nationale Identität der Tschechen in Bezug auf die Migrationsfrage. Für das eigene Selbstbildnis sei schließlich auch die Haltung zu neu Ankommenden prägend, erläutert die Wissenschaftlerin:
„Da Tschechien in den Jahren 2015 und folgende fast gar keine Geflüchteten aufnahm, hat es eine Art Label als migrationsfeindliche Nation erhalten. Schaut man sich aber die Statistiken an, nimmt Tschechien schon seit langem eine hohe Zahl an Wirtschaftsmigranten auf. Die Zahl der Einwanderer steigt nach 1993 wirklich sehr steil an. Und noch vor 2022, als etwa eine halbe Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge aufgenommen wurden – was unter den EU-Ländern der höchste Wert umgerechnet auf die Einwohnerzahl ist –, stellten Migranten schon fast sieben Prozent der Bevölkerung.“
Dies sei für Tschechien durchaus ein hoher Wert, fügt Jelínková an. Der zweite Text zum Thema ist ein Interviews mit der deutschen Journalistin Sarah Ulrich mit dem Titel „Zu wenig verweisen wir auf die Realität der Migration in die ostdeutsche Gesellschaft.“ Gefragt, ob sie an diesem Text etwas überrascht habe, antwortet Jelínková:
„Für den tschechischen Leser, der ich ja auch bin, ist der Gedanke interessant, dass es notwendig ist, Beziehungen und Brücken aufzubauen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den neu Ankommenden. Auch in Deutschland müssen immer noch Brücken gebaut werden zwischen West- und Ostdeutschland. Und der Dialog zwischen den dortigen Migrantenvereinen wird jeweils in West- oder in Ostdeutschland geführt, aber kaum gemeinsam. Diese innere Grenze ist für uns Außenstehende schwer zu begreifen.“
Ganz anderes Denken über die EU
Die sieben Themen, die auf den 140 Seiten des Buches behandelt werden, seien für die heutige Debatte sowohl in Tschechien als auch in Deutschland sehr wichtig, betont Adéla Jurečková. Die Auswahl sei gemeinsam mit den Kollegen der Assoziation für internationale Fragen diskutiert worden. Beide herausgebenden Institutionen haben jeweils eine Redakteurin gestellt. Für AMO war Pavlína Janebová mit der Aufgabe betreut:
„Die Themenauswahl ist das Ergebnis eines Brainstormings. Wir wollten uns auf solche Themen konzentrieren, die im Zusammenhang mit den deutsch-tschechischen Beziehungen nicht so häufig erwähnt werden. Da wird sehr oft von der Asymmetrie gesprochen oder auch von den Wirtschaftsbeziehungen. Aber wir wollten uns eher an gesellschaftlichen Themen orientieren. Mit diesem Buch wollen wir niemanden überzeugen, sondern neue Themen für die Diskussion vorstellen und einen neue Art und Weise zu denken.“
Auf eine sehr unterschiedliche Art zu denken sind etwa die Verfasser des Kapitels „Tschechien / Deutschland in der EU“ gestoßen. Co-Autor des deutschen Textes ist Georg McCutcheon, Experte für EU-Angelegenheiten bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin:
„In unserem Kapitel ging es darum, wie in Deutschland die Rolle Deutschlands in der EU wahrgenommen wird. Wir stellten die Fragen, was es für ein Selbstbild über Deutschland in der EU gibt, welche Erwartungen deutsche Bürger an die eigene Politik innerhalb der EU haben und welche Prioritäten sie in Bezug auf die deutsche Europapolitik setzen würden. Ein Beispiel ist, dass in Deutschland eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in bestimmten Bereichen sogenannte Zukunftsinvestitionen auf jeden Fall befürwortet. Dies betrifft etwa Verteidigung, Energiesicherheit oder Inflationsbekämpfung. In diesen Bereichen gilt die Europäische Union als lösungsorientierter Akteur, und dabei möchte eine Mehrheit der Befragten auch, dass Deutschland finanziell, also mit wirtschaftlichen Mitteln, aktiv wird und Investitionen tätigt.“
Die Debatte in Tschechien wiederum hat der AMO-Geschäftsführer Vít Dostál zusammengefasst. Eine seiner Kernaussagen ist dabei, dass die Tschechen zwar Europa mögen, aber nicht die Europäische Union…
„Den Unterschied macht das, was locker mit dem Lebensstil assoziiert wird – das ist eben Europa. Die Tschechen mögen Europa, und dies mehr als Asien, Afrika oder Amerika. Sie halten Europa für eine starke Marke und einen guten Ort zum Leben. Die Europäische Union wird dann schon als eine Institution betrachtet, die in dieses Leben eingreift, es lenkt und auch einschränkt. Darum gibt es dem gegenüber negative Emotionen.“
Negative Assoziationen würde es allerdings auch in Deutschland geben, betont McCutcheon. Dabei bezieht er sich auf das Narrativ des „Zahlmeisters der EU“. Viele Deutsche störe nämlich, dass ihr Land angeblich der Hauptgeldgeber der EU sei. Dies sei eine verkürzte Darstellung, kommentiert der Autor, denn sie übersehe die massiven finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile für Deutschland durch die Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt.
In Tschechien würde man dennoch deutlich anders über die EU denken als in Deutschland, antwortet McCutcheon auf die Frage, was er aus dem tschechischen Text an Neuem erfahren habe:
„Überraschend war, dass es in Deutschland und in Tschechien doch wirklich eine grundlegend divergente Erzählung über die EU gibt. In Tschechien ist die Geschichte der EU ganz stark geprägt von Nachahmen, Aufholen, Imitieren und ‚so tun, als ob man gewisse Werte akzeptiert‘. In Deutschland ist es trotz aller negativen Schlagzeilen, die zum Teil auftauchen, absolut eine Geschichte von wirtschaftlichem Erfolg.“
Vít Dostál hat dann auch einen Tipp für die tschechischen Politiker, wie das Image der EU in der Bevölkerung verbessert werden könnte:
„Eine gute Marketingstrategie wäre, mehr über Europa und die europäische Zusammenarbeit zu sprechen. Denn das wünschen sich die Tschechinnen und Tschechen. Dies wäre besser, als über die EU als exogenes Element zu reden. Meiner Meinung nach kann auch gut auf die Erfolge Tschechiens in der Europäischen Union verwiesen werden – also auf positive Beispiele, in denen Tschechien etwa mit anderen Ländern zusammen etwas durchgesetzt hat. Es sollte mehr über Geschichten als über Zahlen gesprochen werden. Daran ließe sich zeigen, dass die EU als eine institutionalisierte Form der Zusammenarbeit einen Sinn hat.“
Mehr über Geschichten als über Zahlen sprechen
Sinn habe es für die tschechisch-deutsche Verständigung jedenfalls auch, das Buch „Tschechien. Deutschland. Im Kontext“ zu lesen, meint Adéla Jurečková. Die Heinrich-Böll-Stiftung Prag und die Assoziation für internationale Fragen würden mit der Publikation eine breite Öffentlichkeit ansprechen, unterstreicht die Direktorin:
„Das Buch richtete sich grundsätzlich an jeden und jede, die interessiert sind. Das meint eben nicht nur den Kreis jener Menschen, die sich sowieso schon mit den deutsch-tschechischen Beziehungen beschäftigen. Sondern vielleicht Menschen, die an den einzelnen Themen in ihrem eigenen Land interessiert sind, aber nicht genau wissen, wie die Debatte im anderen Land läuft.“
Aber auch Leute vom Fach würden im Buch fündig, meint Botschafter Andreas Künne. Hat er selbst aber auch noch etwas Überraschendes auf den Seiten gefunden?
„Eigentlich nicht, nein. Ich fand einige Dinge wunderbar zusammengefasst. Und manchmal dachte ich beim Lesen, genauso hätte ich es auch gerne schon einmal gesagt.“
Dir Publikation steht, bisher allerdings nur in tschechischer Sprache, zum Herunterladen zur Verfügung: https://cz.boell.org/cs/cesko-nemecko-v-kontextu
Demnächst wird es auch die deutsche Ausgabe geben.