Die Pilze wachsen wieder - Saisonbeginn für das tschechische Nationalhobby

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"Houby rostou", die Pilze wachsen. Zu Beginn des Sommers hält regelmäßig ein eigenartiges Genre Einzug in die tschechischen Medien: die Pilzberichterstattung. Das Gedeihen der merkwürdigen Sporenpflanzen wird so aufmerksam verfolgt wie sonst allenfalls das Abschneiden der Eishockey-Nationalmannschaft bei internationalen Turnieren - keine Zeitung, die nicht Sammeltipps, Pilzführer und Rezepte bringen würde. Kein Zweifel: Pilze sammeln ist das tschechische Nationalhobby schlechthin. Zum Saisonbeginn traf Thomas Kirschner für das folgende Forum Gesellschaft den Doyen der tschechischen Pilzsammler und -forscher Miroslav Smotlacha.

"Wenn mich jemand fragt, wann ich zum ersten Mal Pilze gesammelt habe, dann sage ich immer ´als ich noch in den Pilzen war´. Den Ausdruck gibt es im Deutschen nicht, aber auf Tschechisch heißt das, als ich noch bei meiner Mutter im Bauch war. Und zwar ist meine Mutter immer mit meinem Vater Pilze sammeln gegangen. Mein Vater konnte 1500 Arten bestimmen, die bei uns vorkommen. 1500 Arten hat er erforscht und beschrieben, und ich war von klein auf dabei",

erzählt der 84-jährige Miroslav Smotlacha. Sein Vater Frantisek hatte 1909 die erste öffentliche Pilzberatungsstelle in Prag und 1921 die Tschechoslowakische mykologische Gesellschaft gegründet. Die Leidenschaft ist auf den Sohn übergegangen: Im kommenden Jahr werden es 50 Jahre sein, die Miroslav Smotlacha ununterbrochen an der Spitze der Mykologischen Gesellschaft steht. Untergebracht ist sie in einigen mit Gerätschaften, Papieren und kuriosen Exponaten vollgestopften Räumen in einem Barockpalais auf der Prager Kleinseite, unmittelbar neben der Wohnung, in der Smotlacha seit 1939 lebt. Seine Leidenschaft schränkt das nicht ein, denn Pilze kann man genauso auch in der Großstadt finden, erläutert Smotlacha.

"Wir haben uns unter anderem zur Aufgabe gestellt, das Auftreten von Pilzen in Prag zu beobachten. Wir wissen zum Beispiel, dass auch auf dem Wenzelsplatz Pilze wachsen! Und das werten wir wissenschaftlich aus und erstellen daraus ein Verzeichnis der Pilze in Prag und Umgebung."

Essen allerdings sollte man die Pilze vom Wenzelsplatz nicht unbedingt. Die meisten Tschechen zieht es daher doch in die Wälder. An schönen Wochenenden sind dort gleich scharenweise Menschen mit Pilzführer, Taschenmesser und tuchbedecktem Körbchen anzutreffen. Pilze sammeln ist das tschechische Nationalhobby schlechthin, und die Tschechen gelten zugleich als die fleißigsten Sammler weltweit.

"Das kann schon sein! Wir haben mit unserer Gesellschaft eine Umfrage gemacht und dabei festgestellt, dass sechs Millionen Tschechen - sechs Millionen! insgesamt sind wir zehn Millionen - dass also sechs Millionen Tschechen wenigstens einmal im Jahr in die Pilze gehen. Daraus lässt sich wohl sehen, dass die Tschechen in der Tat ein besonderes Interesse an Pilzen haben."

23 400 Tonnen Pilze haben die Tschechen einer wissenschaftlichen Studie zufolge im Sommer 2002 gesammelt - das sind 2,3 Kilo je Einwohner. Eine derartige Pilzbegeisterung ist annähernd allenfalls noch bei den slawischen Nachbarn in der Slowakei oder in Polen festzustellen, meint Miroslav Smotlacha.

"Ich würde das so sagen: Die slawischen Nationen überhaupt haben zum Pilze sammeln eine engere Beziehung als zum Beispiel die Angelsachsen und andere. Bei uns hat man schon im Mittelalter Pilze gesammelt, und die grundlegenden Kenntnisse über Pilze gehen auf diese Zeit zurück. Eine große Verbreitung hat das Pilzesammeln hierzulande aber Ende des vorletzten Jahrhunderts erfahren, also noch in Österreich-Ungarn. Damals haben sich Leute zusammengefunden, die die Beschäftigung mit Pilzen propagiert haben, darunter auch mein Vater."

Die Deutschen, so zeigen Untersuchungen, gehen genauso gern und häufig in den Wald wie die Tschechen - Pilze aber sammeln sie bei weitem nicht so viele. Die Vermutung, dass es womöglich in Deutschland weniger Pilze gibt, weist der Pilzexperte Smotlacha allerdings von sich:

"In Deutschland gibt es genauso viele Pilze, und außerdem auch noch einige andere als in Tschechien. Aber ich habe einmal mit deutschen Pilzforschern gesprochen, und die haben mir gesagt: Wissen Sie, wir sagen lieber, dass es viele giftige Pilze gibt, damit uns die Leute nicht den Wald zertrampeln. - Das ist schlau, nicht wahr?!"

Für Vorbehalte gegenüber Pilze sorgt gelegentlich auch ihre Eigenschaft, Umweltgifte in sich anzureichern. Vom Pilze sammeln in der Stadt hält Smotlacha daher wenig, und auch zu Straßen sollte man genügend Abstand halten. Gerade im stark belasteten Nordböhmen sind Pilze aber auch ein Anzeiger dafür, dass sich die Umweltsituation in den tschechischen Wäldern allmählich bessert: Arten, die der saure Regen vertrieben hatte, kehren in den letzten Jahren wieder zurück. Vor radioaktiver Belastung muss sich dagegen in Tschechien kein Pilzliebhaber fürchten -

"auch nicht nach Tschernobyl. In Tschechien waren wir vom radioaktiven Niederschlag nur wenig betroffen, im Unterschied zu Österreich und Italien. Da war das Verbot, Pilze zu sammeln, durchaus berechtigt, denn da hat es geregnet und mit dem Regen ist die Radioaktivität in die Erde gelangt."

"Muchomurky bile", das sind zu Deutsch die gelben Knollenblätterpilze. Das Lied der Underground-Band Garaz leitet zu einer ganz anderen Gruppe der Pilzsammler über. Denn auch die tschechischen Jugendlichen wissen, dass man aus Pilzen nicht nur Omelettes machen kann. So genannte Glückspilze oder Magic mushrooms sind billige, aber höchst gefährliche Drogen, die auch in Tschechien an jeder Ecke wachsen, hierzulande als "lysohlavky", als Kahlkopf-Pilze bekannt.

"Wir kennen selbstverständlich die Kahlkopf-Arten, aber unter den Kommunisten gab es ein direktes Verbot, darüber zu sprechen, und das haben wir auch unterstützt. In Zeiten des Internets lässt sich so etwas natürlich nicht mehr verheimlichen, aber wir warnen ganz ausdrücklich davor, diese Pilze zu essen, denn niemand kann sagen, wie hoch der Anteil der Giftstoffe in einem Pilz ist. Es gab in Tschechien einige Fälle, dass Leute nach dem Genuss solcher Pilze vom Haus gesprungen sind und sich dabei umgebracht haben, weil sie geglaubt haben, sie können fliegen. Wir warnen die jungen Menschen ganz ausdrücklich davor!"

Unter herkömmlichen Sammlern kommen verhängnisvolle Fehlgriffe in Tschechien demgegenüber nur äußerst selten vor - auch ein Verdienst der Aufklärungsarbeit der Mykologischen Gesellschaft, der Miroslav Smotlacha nun seit fast 50 Jahren vorsteht.

"Tödliche Vergiftungen gibt es in Tschechien kaum noch, im Unterschied etwa zu der Ukraine und Russland. Das liegt daran, dass sich die Menschen in Tschechien mit Pilzen sehr gut auskennen, so dass meistens allenfalls leichtere Vergiftungen vorkommen - und außerdem sind die tschechischen Ärzte weltbekannt dafür, das sie Pilzvergiftungen gut behandeln können."

Ausgelernt hat man auf dem Gebiet der Pilze aber nie. Wer behaupte, dass er über Pilze komplett Bescheid wisse, der verstehe von Pilzen wirklich nur "Pilze", also überhaupt nichts, sagt Miroslav Smotlacha mit einer tschechischen Redewendung. Selbst nach 84 Jahren mit und zwischen Pilzen trifft Smotlacha immer noch auf Neues.

"Überraschungen gibt es ständig. Das glauben Sie vielleicht nicht, aber wir stoßen immer wieder auf Pilze, die wir hier zum ersten Mal finden."

Ein guter Grund für die tschechischen Zeitungen, auch weiterhin regelmäßig zum Sommerbeginn ihre Pilzberichterstattung aufzunehmen.