„Die Schweizerfamilie“ – erste Oper auf Tschechisch am Ständetheater in Prag 1823
Die Oper „Die Schweizerfamilie“ des österreichischen Komponisten Joseph Weigl war im Jahr 1823 die erste Oper überhaupt, die am Ständetheater in Prag in tschechischer Sprache aufgeführt wurde. Worauf hat man mit der Inszenierung gezielt? War sie ein Publikumserfolg? Und welche Rolle spielte sie in der Geschichte des tschechischen Theaters?
Als Oper bezeichnet man eine in Italien im Barock entstandene musikalische Gattung des Theaters. Im 17. und im 18. Jahrhundert wurden die Opern hauptsächlich auf ein italienisches Libretto komponiert, und zwar auch etwa von Komponisten wie Händel, Gluck und Mozart. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzten sich die ersten Opern in lokalen Sprachen durch, und ausländische Opern wurden übersetzt. In Mittel- und Nordeuropa löste Deutsch teilweise und vorübergehend Italienisch als Opernsprache ab. Das galt auch für Prag, denn die städtischen Eliten in der böhmischen Landesmetropole sprachen Deutsch.
Die meist gespielte deutsche Oper jener Zeit
Mit der Übersetzung und Aufführung einer Oper auf Tschechisch sollte gezeigt und bewiesen werden, dass auch die tschechische Sprache für den Operngesang geeignet ist. Die Wahl fiel auf die Oper „Die Schweizerfamilie“ von Joseph Weigl. Sie ist heute kaum noch bekannt, zu ihrer Entstehungszeit war sie aber recht populär. Der Musikwissenschaftler Milan Pospíšil hat jüngst eine Monographie mit dem Titel „Die Schweizerfamilie in Prag: Die Oper und ihr Libretto“ verfasst. Und er erläutert den Hintergrund:
„Joseph Weigl war ein österreichischer Komponist und Dirigent an der Wende vom 18.zum 19. Jahrhundert. Lange Jahre wirkte er als Theaterkapellmeister an den Wiener Hoftheatern. Weigl komponierte über dreißig Opern, die berühmteste davon ist ‚Die Schweizerfamilie‘. In der Zeit zwischen Mozarts ‚Zauberflöte‘ und ‚Der Freischütz‘ von Carl Maria von Weber war sie die beliebteste und meist gespielte deutsche Oper.“
Die Premiere der ‚Schweizerfamilie‘ fand 1809 in Wien statt. Und die Aufführung in Prag, damals noch in der deutschen Originalsprache, ließ nicht lange auf sich warten.
„Das genaue Datum kennen wir nicht, aber es war im selben Jahr wie die Wiener Uraufführung: irgendwann gegen Ende 1809. Auf jeden Fall war Prag nach Wien die zweite Stadt, in der diese Oper aufgeführt wurde.“
Die wichtigste Bühne in Prag war in jener Zeit das Theater am Obstmarkt in der Prager
Altstadt, das 1783 von Graf Nostiz gegründet wurde. Deutsche Theaterstücke und italienische Opern standen auf dem Programm. Später wechselte die Bühne ihren Besitzer und wurde in Ständetheater umbenannt. Dieses ist vor allem durch die Uraufführung zweier Opern von Wolfgang Amadeus Mozart in die Musikgeschichte eingegangen: 1787 fand dort die Premiere von „Don Giovanni“ statt, vier Jahre später wurde „La clemenza di Tito“ uraufgeführt.
„Das Nostitzsche Nationaltheater wurde 1798 vom Böhmischen Landtag gekauft, undseitdem trug es den Namen ‚Königliches Ständetheater‘. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in diesem Haus Schauspiele und Opern in deutscher Sprache gespielt. Die italienische Operngesellschaft, der wir die Entstehung von Mozarts Opern ‚Don Giovanni‘ und ‚La clemenza di Tito‘ verdanken, wurde 1807 aufgelöst. Theatervorstellungen in tschechischer Sprache fanden nur unregelmäßig an Sonntagnachmittagen statt. Die Zusammenstellung des Repertoires oblag der Ständischen Theater-Aufsichtskommission, das letzte Wort bei den neu aufgeführten Werken hatte aber freilich die Theaterzensur.“
Tschechisch hat sich als Opernsprache bewiesen
Die Premiere der „Schweizerfamilie“ auf Tschechisch fand 1823 statt. Für das Repertoire des Ständetheaters bedeutete dies einen Umbruch:
„Es ging darum zu beweisen, dass das Tschechische geeignet war, in einer Oper gesungen zu werden, und dass es in der Lage ist, sich von dem vorherrschenden Deutsch zu emanzipieren. Für die patriotisch gesinnten Tschechen war es wichtig, in das Projekt einer künftigen tschechischen Kultur, die der damals vorherrschenden deutschsprachigen Bildung gleichkommen sollte, auch die prestigeträchtige Oper zu integrieren.“
Das Libretto für „Die Schweizerfamilie“ von Ignaz Franz Castelli war eigentlich eine Adaption einer französischen Vorlage – des Vaudevilles ‚Pauvre Jacques‘, merkt Milan Pospíšil an:
„Das Thema des Vaudevilles und der Oper ist die Geschichte eines getrennten Liebespaares. Diese spielte eigentlich Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Herrschaftsgut von Madame Élisabeth, der Schwester des französischen Königs. Die Autoren des Vaudevilles übertrugen die Handlung nach Deutschland.“
Und was erzählt also die Oper? Wallstein, ein reicher deutscher Graf, hat während eines Aufenthaltes in den Schweizer Alpen einen Bergunfall. Zufällig wird er vom Bauern Richard Boll gerettet. Zum Dank bietet Wallstein ihm ein sorgenfreies Leben in Deutschland an. Dafür lässt der Graf dessen Schweizer Heimat auf seinem deutschen Landgut nachbilden und holt den Bauern samt Familie zu sich. Doch das neue Leben macht Richards Tochter Emmeline nicht glücklich. Sie hat in der Schweiz ihren Geliebten Jacob, und nachdem sie von ihm getrennt ist, wird sie schwer melancholisch und leidet unter Wahnvorstellungen. Der Graf ahnt ihre heimliche Beziehung zu dem Hirten und lässt diesen aus der Schweiz auf sein Gut bestellen. Nach einigen unterhaltsamen Verwechslungsszenen finden die beiden Liebenden schließlich zueinander.
Schweiz in Deutschland, Schweiz in Böhmen
Soweit die Handlung der Oper. Und warum wurde eben „Die Schweizerfamilie“ für die Übersetzung ins Tschechische ausgewählt?
„Erstens stand ‚Die Schweizerfamilie‘ bereits auf dem Spielplan des Ständetheaters. Es war ein bewährtes und populäres Stück. Zweitens waren die gesanglichen Anforderungen an die Solorollen (mit Ausnahme der Emmeline) eher mäßig. Dies war sehr wichtig, zumal die Aufführung auch auf die Beteiligung von Amateuren angewiesen war.“
Es war nämlich problematisch, tschechischsprachige Sänger in Prag zu finden, die in der Lage waren, die Rollen zu verkörpern:
„Wie gesagt, es war eine Mischung aus Profis und Laien. Einige starteten mit dieser Aufführung ihre künftige künstlerische Laufbahn, zum Beispiel der Jurastudent František Škroup, der die Oper mit Solisten und Chor einstudierte und selbst eine Rolle sang. Damit begann Škroups Zusammenarbeit mit dem Ständetheater, er war dort dann viele Jahre als Dirigent und Komponist tätig. Und was am wichtigsten ist: Mit der damals 16-jährigen Sängerin Katharine Comet erhielt die tschechische Oper – das Ensemble und das Publikum – eine Primadonna. Das war eine unverzichtbare Institution, damit die Oper eine vollwertige künstlerische und gesellschaftliche Funktion erhielt.“
Mit der Übersetzung des Librettos wurde Simeon Karel Macháček beauftragt. Er war ein tschechischer Gymnasialprofessor, Dichter, Dramatiker und Übersetzer. Macháček hat unter anderem Werke von Goethe, Schiller und antiken Autoren übertragen, er übersetzte aber eben auch Opernlibretti. Auf diese Weise machte er sich um die Einführung vieler Opern in die tschechische Kulturlandschaft verdient. Der Musikwissenschaftler erläutert, wie der Übersetzer in seiner „Rodina švejcarská“ mit der Handlung des Stücks umging:
„Macháček verlegte die Handlung von Deutschland nach Böhmen und tschechisierte die Namen. Anstelle des deutschen Grafen Wallstein tritt hier der böhmische Graf mit dem tschechischen Namen Valohradský auf. Interessanterweise benannte er den Schweizer Jacob ‚Vára‘. Wir wissen nicht, wie er auf diesen Namen kam. Wahrscheinlich wollte er vermeiden, dass der Name auf einen Konsonanten endet. In einem solchen Fall hätte der Vokativ im Tschechischen eine Silbe mehr, was beim Unterlegen des Wortes unter die Noten problematisch geworden wäre. Ansonsten übersetzte Macháček Castellis Libretto so getreu wie möglich.“
Macháčeks Übersetzung galt allgemein als gelungen, betont der Musikhistoriker:
„Es wurde hervorgehoben, dass sich gerade dank der Übersetzung von Macháček die Fähigkeit des Tschechischen zeigte, als Sprache für den Operngesang geeignet zu sein und sich darin sogar mit dem Italienischen messen konnte.“
Und auch die Inszenierung am Ständetheater erhielt positive Kritiken. Milan Pospíšil:
„Es war ein eindeutiger Erfolg. Aufgrund des großen Interesses wurde die Aufführung bald wiederholt. Der Adressat der Aufführung waren die patriotisch gesinnten Tschechen, mit Persönlichkeiten wie dem Sprachwissenschaftler Josef Jungmann, dem Historiker František Palacký oder dem Dichter František Ladislav Čelakovský an der Spitze. Die Nachricht vom Erfolg der Aufführung verbreitete sich durch die Presse und Brief-Korrespondenzen über die Grenzen Prags hinaus.“
Auf dem Weg zur ersten tschechischen Oper
Mit der Aufführung wurde der Weg geebnet für tschechischsprachige Operninszenierungen am Ständetheater in Prag:
„Kurz darauf folgten Aufführungen weiterer Opern in tschechischer Übersetzung: Cherubinis ‚Der Wasserträger‘, Webers ‚Der Freischütz‘, Rossinis ‚Der Barbier von Sevilla‘ und Mozarts ‚Don Giovanni‘. Mit der Vorstellung der ‚Schweizerfamilie‘ begann eine mehr oder weniger kontinuierliche Reihe tschechischer Opernaufführungen am Ständetheater, bis nach und nach auch ein selbstständiges tschechisches Opernensemble entstand. Und es gab zudem Bemühungen um eine original tschechische Opernproduktion, angefangen mit dem Singspiel ‚Der Drahtbinder‘ von František Škroup im Jahr 1826.“
„Die Schweizerfamilie“ selbst war nach wie vor sehr beliebt und blieb lange Jahre im Programm des Ständetheaters:
„‚Die Schweizerfamilie‘ wurde in Prag bis 1848 gespielt, also nach der Erstaufführung in der Stadt fast noch 40 Jahre lang. Nach meinen Recherchen gab es mindestens 72 Vorstellungen, darunter neun in tschechischer Sprache.“
Danach verschwand „Die Schweizerfamilie“ von der Bühne in Prag. Doch die Oper wurde hierzulande noch einmal im 20. Jahrhundert einstudiert. Ihre Aufführungsgeschichte endet im Tschechoslowakischen Rundfunk im Jahr 1938. Der Musikwissenschaftler Milan Pospíšil zu den Umständen, unter denen es dazu kam:
„Die Oper ‚Die Schweizerfamilie‘ wurde dank der Musikredakteurin Anna Hostomská aufgeführt. Die Motivation dazu verrät der Titel ihres Artikels in der Wochenzeitung Radiojournal: ‚Wo führt der direkte Weg zur ersten tschechischen Oper?‘ Die Tatsache, dass es einige Wochen später zum Münchner Abkommen kam, lässt vermuten, dass die Ausstrahlung der Oper eine tiefere Bedeutung hatte. Zu der Zeit, als die Tschechoslowakische Republik durch den Nationalsozialismus bedroht war, sollte dieses Stück an die Koexistenz und Verbindung der tschechischen und deutschen Kultur in der Geschichte und Gegenwart des Landes erinnern.“
Die zweisprachige Monographie von Milan Pospíšil „Švýcarská rodina v Praze / Die Schweizerfamilie in Prag“ liegt auf Tschechisch und auf Deutsch vor. Das Buch befasst sich mit den deutschen und tschechischen Aufführungen, den einheimischen und gastierenden Künstlern, der Presserezeption in Prag, Wien, Dresden und Leipzig sowie der Reaktion auf die tschechische Aufführung in der Korrespondenz der tschechischen Patrioten. Zudem enthält es das deutsche und das tschechische Libretto. Der Band wurde vom Verlag Institut umění – Divadelní ústav in seiner Editionsreihe Nota bene herausgegeben und ist erhältlich unter https://prospero.idu.cz/publikace/svycarska-rodina-v-praze-die-schweizerfamilie-in-prag/.