Sonde in das Unterbewusstsein: Cherubinis „Medea“ im Prager Ständetheater
Eine Neuproduktion von Luigi Cherubinis Oper „Medea“ hatte am Donnerstag im Prager Ständetheater Premiere. Noch während der Generalprobe hat Martina Schneibergová mit dem Musikdirektor des Prager Nationaltheaters, dem Dirigenten Robert Jindra, und Regisseur Roland Schwab gesprochen.
Herr Jindra, Sie haben die Oper „Medea“ von Luigi Cherubini musikalisch einstudiert. War das Ihre Idee, die hierzulande fast unbekannte Oper in Prag aufzuführen?
„Bei uns ist das Stück fast unbekannt, was leider wahr ist. Eigentlich war die Oper fast überall wenig bekannt. Erst die berühmte Sängerin Maria Callas hat gezeigt, dass das Stück wirklich Potenzial hat. Die Musik finde ich sehr dramatisch, es ist fast noch Klassizismus. Ich bin glücklich, dass die Oper nun in unserem Repertoire ist. Sie passt sehr gut zum Ständetheater. Die Musik ist für uns alle ganz neu und zeigt, wie sich Musik nach Mozart weiter entwickelte.“
Die Oper ist klassizistisch. Gibt es darin jedoch nicht schon einen Hauch von Romantik zu spüren?
„Das ist auch meine Meinung. Ich finde, dass die Musik doch schon ein bisschen romantisch ist. Cherubini war aber ,alte Schule‘. Er war sehr konservativ und hatte Probleme mit jungen Komponisten wie beispielsweise Hector Berlioz. Cherubini war der Meinung, die Musik müsse eine richtige Form haben. Aber trotzdem fühle ich in seinem Werk doch das große Potenzial Richtung Romantik.“
Es gibt bereits einige Aufnahmen von „Medea“. Wovon gehen Sie beim Einstudieren des Stücks aus?
„Ich kenne das Stück natürlich von den Aufnahmen, denn meine Wohnung ist voll von Tausenden CDs, und ich mag das Stück schon lange. Zum ersten Mal habe ich es vor etwa 20 Jahren gehört. Es gibt Arien und Duette, aber ich finde auch, dass es dort keine Melodie gibt, die man sich nach der Vorstellung merkt und für sich singen könnte. Trotzdem hat das Werk ein großes Potenzial. Ich habe das Stück zunächst unserem künstlerischen Leiter vorgeschlagen. Er war am Anfang nicht begeistert, muss ich ganz ehrlich sagen. Aber mein Argument war, dass das Stück hierzulande fast 200 Jahre lang nicht gespielt wurde. Es gab nur eine Inszenierung, und zwar 1840. Die Oper bedeutet vor allem etwas Besonderes für die Sängerin, also die Hauptdarstellerin. Nach der Callas haben noch weitere hervorragende Sängerinnen die Partie gesungen. Ich fand, dass das Stück zu unserem Opernhaus passt und dass es die richtige Zeit ist zu zeigen, wie es weiter lebt.“
Wie ist die Zusammenarbeit mit den Solisten?
„Es ist sehr schwer, diese Oper zu besetzen. Die Partie von Medea singen manchmal Sängerinnen, wie zum Beispiel Sondra Radvanovsky, die etwa auch die Turandot singen. Vor Jahren waren das Gwyneth Jones oder Montserrat Caballé, also wirklich fast hochdramatische Soprane. Die richtige Besetzung zu finden, ist nicht einfach, das muss ich sagen.“
Haben Sie Regisseur Roland Schwab vorher gekannt?
„Ja, es war eigentlich auch meine Idee, Roland Schwab nach Prag einzuladen. Ich war total begeistert, als ich ihn zum ersten Mal im Aalto-Theater Essen traf. Wir haben dort ,Pagliacci‘ (Oper von R. Leoncavallo, Anm. d. Red.) einstudiert. Schwab ist unglaublich musikalisch, er spielt Klavier, komponiert auch und versteht die Musik. Er sieht nicht nur das Bühnenbild, sondern fühlt, was die Stimme braucht und wo der Chor wegen dem Klang stehen kann. Schwab ist wirklich ein Wunder für jeden Dirigenten, es ist eine tolle Zusammenarbeit.“
Herr Schwab, was war ausschlaggebend dafür, dass Sie das Angebot akzeptiert haben, die Regie von „Medea“ in Prag zu übernehmen?
„Zum einen hat die Stadt gelockt, die ja berühmt ist für die drei wunderbaren Theater. Besonders das Ständetheater ist ja weltberühmt für die Uraufführung von ,Don Giovanni‘. Dann war die Oper selbst aber auch ein sehr reizvolles Werk, das man nicht oft als Regisseur angeboten bekommt – eine echte Rarität. Vom Orchester her ist es ein relativ intimes Stück. Das ist kein großes Orchester, es passt wunderbar genau in den Orchestergraben des Ständetheaters hinein. Es ist ein Stück, das trotz Chornummern etwas von einem Kammerspiel hat. Und hier gibt es einen wunderbaren Fokus vom Ständetheater. Also es waren verschiedene Gründe, und ich bin glücklich, mit ,Medea‘ genau hier im Stavovské divadlo zu sein.“
Sie haben einmal erwähnt, diese Oper sei eine Sonde in das Unterbewusstsein…
„Ja, genau, und das ist die große Tat von Cherubini. Es gibt zwar viele Deutsche, die Richard Wagner überhaupt nicht mögen. Aber ich bin ganz bei ihm zu Hause – bei diesem sehr psychologischen Regisseur, wo das Orchester eine sprechende Psyche ist. Und hier haben wir viele Jahrzehnte vorher auch schon dieses wissende Orchester: leitmotivisch wie Wagner, und das ganz geschickt mit Unterbewusstseinsmotiven arbeitet. Es ist ein sehr psychologisches Stück, und das psychologische Unterbewusstsein wird von der Gesellschaft immer verdrängt. Wir sehen es immer mehr anwachsen in dieser Partitur, bis es die ganzen Protagonisten in den Orkus zieht. Das ist spannend, und in der Form habe ich das so noch bei keinem Werk zeitlich vor ,Medea‘ festgestellt. Dieser schleichende Prozess und die Schuld, die immer mehr durchsickert in die Köpfe. Immer weniger funktionieren dann die Schutzwälle gegen den Ballast der Schuld, das ist echt spannend.“
Cherubini war nach Paris gekommen, und kurz danach brach die Revolution aus. Diese Oper entstand Ende des 18. Jahrhunderts. Finden Sie, dass sie von dem revolutionären Geschehen beeinflusst worden ist?
„Das ist eine komplexe Frage. In diesen direkten Zusammenhang habe ich das noch nicht gestellt, und es ist natürlich totale Spekulation. Schwer zu sagen. Der Einfluss ist jedenfalls nicht so direkt wie bei Mozarts ‚Figaro‘, bei dem man sagen kann, dass sich gesellschaftlich etwas öffnet. Aber dass Herrschende angezählt werden und dass Kreon merkt, auf welchem dünnen Eis sich ein Herrscher bewegt – das kann durchaus ein Nachwirken der Revolution sein.“
Wie erklären Sie sich, dass diese Oper sehr selten aufgeführt wird?
„Musikalisch gibt es nicht die Ohrwürmer, die ein Publikum von Verdi oder von Mozart kennt. Es ist sehr fein und filigran gearbeitet – eine höchste Ausformung eines Kunstwillens, der nicht so populär rüberkommt wie bei anderen Komponisten. Bei seinen Aufführungen hat es das Werk immer schwer gehabt, bis es richtig populär wurde mit Maria Callas und einer italienischen Rezitativfassung. Das hat lange gedauert.“
Finden Sie, dass die Zuschauer die Aktualität dieser Oper erkennen? Denn Streitigkeiten wegen Kindern gibt es immer wieder…
„Ja, genau. Leider werden Scheidungen und Ehezerwürfnisse auf dem Rücken von Kindern ausgetragen. Bis wir in den Zeitungen eben immer mal wieder die monströsen Fälle lesen, bei denen jemandem bewusst geschadet werden sollte durch die Eliminierung der Nachkommen. Das gibt es immer wieder, und es ist ein absolut zeitlos aktueller Stoff.“
Sie schreiben selber Drehbücher, sind ein großer Filmfan und auch Musiker. Das muss ein Vorteil für einen Theaterregisseur sein…
„Gerade ist David Lynch gestorben. Er war der große Visionär, der das Unterbewusste auf die Leinwand gebracht hat. Jemand wie er ist natürlich ein Pate für ein Stück wie ,Medea‘. Und der Raum, finde ich, hat durchaus Ähnlichkeiten zu David Lynch: Die Gesellschaft, die am Abgrund gebaut ist. Die filmische Inspiration ist für mich ganz wichtig, wenn man eine Oper optisch in Filmsphären rücken kann. Mich interessieren dabei immer die Traumwelten und die Albtraumwelten. Das ist auch wieder typisch David Lynch.“
Bewundern Sie noch weitere Filmregisseure?
„Es sind immer die Klassiker, und zwar diese drei: Andrei Tarkowski, Federico Fellini und David Lynch. Sie sind für mich und meine Arbeit wichtig.“
Die zweite Premiere von „Medea“ findet im Prager Ständetheater an diesem Samstag, den 25. Januar, statt. Die Vorstellung beginnt um 19 Uhr. Es gibt noch Restkarten. Das Stück wird in dieser Spielzeit noch am 31. Januar sowie am 9., 19. und 22. Februar aufgeführt.