„Correspondenz Stiepanek“: Prager Ständetheater im Spiegel historischer Quellen

Petra Ježková und Jitka Ludvová ed.: Correspondenz Stiepanek

 „Correspondenz Stiepanek“ ist der Name eines Konvoluts von etwa einhundert Briefen und Dokumenten aus der Sammlung des Nationalmuseums. Es enthält Papiere, die durch die Hände von Johann Nepomuk Stiepanek gingen, einem der drei Ko-Direktoren des Ständetheaters in den Jahren 1824 bis 1834. Die zweisprachige, tschechisch-deutsche Ausgabe entführt den Leser in das Prag der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das auch dank dieses Theaters eine mitteleuropäische Metropole war.

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Wien, den 5. März 1833

Euer Wohlgeboren!

Meine Verhältnisse erlaubten es, Ende dieses Monates auf vier Gastrollen nach Prag zu kommen. Den Rest meines Urlaubes nimmt meine Verheiratung im Monat April in Anspruch. Es würde vielleicht Eurem Wohlgeborenen konvenieren, weil ich mir schmeichle, dass mir und in diesem Falle eine dreimalige Wiederholung des ‚Zampa‘ erlauben dürften. Die Bedingung von meiner Seite wäre, dass mir Euer Wohlgeboren von drei Vorstellungen das Drittel der Einnahme, jedoch mit 100 fl. C. M. garantiert, und von der vierten, meinem Benefiz, die Hälfte der Einnahme, ohne Sicherheit, bewilligten.“

Diesen Brief von Opernsänger Hermann Breiting und etwa einhundert weitere enthält der Band mit dem Titel „Correspondenz Stiepanek“, der vergangenes Jahr in tschechischer und deutscher Sprache vom Prager Kunst- und Theaterinstitut (Institut umění – Divadelní ústav) herausgegeben wurde. Es geht aber nicht nur um die Korrespondenz von Johann Nepomuk Stiepanek  – einer bedeutenden Persönlichkeit der Prager Theaterwelt vor 200 Jahren, von der wir später noch ausführlicher sprechen wollen, sondern um eine Dokumentensammlung von einem breiteren Umfang. Die Musikhistorikerin Jitka Ludvová ist eine der Herausgeber des Bandes:

Antonín Machek: Jan Nepomuk Štěpánek  | Foto: R. Boček,  Nationalmuseum in Prag,  eSbírky,  CC BY 4.0 DEED

„Das Buch hat noch einen Untertitel, und zwar Die Kanzlei des Ständetheaters in Prag 1800 – 1850.  Man kann sich wohl vorstellen, was sich heute in einer Theaterkanzlei befindet. Und etwas Ähnliches lag auch vor 200 Jahren auf dem Tisch: gedruckte Flyer, handschriftliche Theatertexte oder Abschriften der einzelnen Rollen, dann auch verschiedene Rechnungen und Quittungen von Handwerkern, Schneidern und Friseuren. Heute haben wir bloß dank den elektronischen Kommunikationsmitteln weniger Papierdokumente, aber der Inhalt ist derselbe.“

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Die Kanzlei des Ständetheaters in Prag 1800 – 1850

Die Dokumente aus den Jahren 1801-1838 geben einen Einblick in den täglichen Betrieb des Prager Ständetheaters. Diese Bühne wurde 1783 von Graf Nostiz gegründet und 1798 an den Böhmischen Landtag verkauft.

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

„Graf Nostiz wollte deutsches Schauspiel und italienische Oper präsentieren und gelegentlich auch tschechische Vorstellungen. Die italienische Oper wurde 1807 aufgelöst, es sind nur deutsches Schauspiel sowie deutsche Opern geblieben, und einmal im Monat kam eine tschechische Vorstellung dazu. Das Theater hatte zwei professionelle deutsche Ensembles mit Schauspielern und Sängern und noch dazu ein kleines Ballett. Die tschechischen Vorstellungen wurden von Profis aus dem deutschen Ensemble realisiert, die Tschechisch beherrschten, und auch mit Hilfe von tschechischen Amateuren.“

Und worum ging es in den Briefen, die in der Theaterkanzlei eingegangen waren? Über welche Themen tauschte man sich damals aus? Laut Ludvová ist der Themenbereich recht mannigfaltig:

„Eine Gruppe der Korrespondenten waren ausländische Komponisten und Dramatiker, die ihre Werke zur Aufführung in Prag anboten. Die meisten Briefe stammten aber von Schauspielern und Sängern und betreffen ihre Gastspiele. Auch Künstler von österreichischen oder deutschen Bühnen wollten in Prag gastieren. Die Umsetzung eines Gastspiels war oft nicht ganz einfach, und manchmal waren mehrere Briefe notwendig. Es mussten nicht nur ein Termin festgelegt werden, sondern auch verschiedene Details, wie das Kostüm, eine spezielle Perücke oder ein Hut, und manchmal wurde auch der Text des Stückes besprochen.“

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Die Form der Briefe ist sehr höflich. Verfasser sind oft prominente Persönlichkeiten, die aber nicht zögerten, ihre Schützlinge oder sich selbst zu loben. Sie bitten um ein Engagement, einen Gastauftritt, kümmern sich um die Höhe der Gage oder darum, dass ihre Urheberrechte nicht verletzt werden. Manchmal seien die Besprechungen auch komplizierter und der Austausch intensiver geworden, sagt die Historikerin:

„Es sollte zum Beispiel ein Drama von Shakespeare gegeben werden. Werke von Dramatikern wie ihm standen schon damals in verschiedenen Übersetzungen zur Verfügung. Eine Version wurde üblicherweise am Wiener Hoftheater gespielt und eine andere etwa auf der Hofbühne in München. Das Prager Theater spielte meistens die Wiener Fassung, aber nicht immer und nicht ohne eigene Korrekturen. Deswegen war es notwendig, im Voraus viele Einzelheiten schriftlich zu besprechen.“

Ständetheater | Foto: Filip Jandourek,  Tschechischer Rundfunk

Euer Wohlgeboren! Hochverehrter Freund!

Es gebe aber auch andere, etwa private Briefinhalte, fährt Jitka Ludvová fort:

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

„Ein Kollege aus Prag etwa, der im Ausland gastierte, bat darum, dass man eine wichtige Information an seine Frau in Prag ausrichtete. Es wandte sich aber auch ein ausländischer Journalist mit einem Empfehlungsbrief an Štěpánek und wollte durch dessen Hilfe den Kontakt zu anderen bedeutenden Persönlichkeiten gewinnen. Es gab wirklich viele Themen.“

Das Ständetheater stand damals in regem Kontakt mit dem Ausland. Die Aufmerksamkeit war groß, denn Prag hatte den Ruf einer kunstbegeisterten Stadt.

„Das Ständetheater ist heute – und war schon damals – vorzugsweise in Zusammenhang mit Wolfgang Amadeus Mozart und seiner Oper ‚Don Giovanni‘ bekannt. Ihre Premiere fand in Prag 1787 statt, nur vier Jahre nach der Eröffnung dieses Theaters. Die spätere Geschichte des Hauses wurde durch seinen Standort im Zentrum Europas mitbestimmt. Prag liegt auf dem langen Weg von Hamburg nach Wien, der über Leipzig, Berlin und Karlsbad führt. Das war die übliche Strecke der Gastspiele von bekannten Theaterkünstlern, und so hat Prag aus dieser geographischen Situation profitiert.“

Die Sammlung mit dem Titel „Correspondenz Stiepanek“ beginnt erst mit dem Jahr 1801. Einen Mozart-Brief kann man darin also kaum erwarten. Man findet darin aber etwa einen Brief von dem deutschen Komponisten Carl Maria von Weber vom 7. Juni 1824, in dem er sich bei Stiepanek für die Übersetzung seiner Oper „Freischütz“ ins Tschechische bedankt.

Wohlgeborener Herr!

Empfangen Sie meinen besten Dank für die Zusendung des böhmischen ‚Freischütz‘, der gewiss bei Ihnen in den treuesten besten Händen war und dessen Übertragung in die böhmische Sprache mich nur ehren kann. Ich habe mich bei Ihnen noch wegen der Nichtbeantwortung Ihres geehrten Briefes vom 27. März zu entschuldigen. Gestehe Ihnen aber aufrichtig, dass ich in Verlegenheit war, was ich Ihnen schreiben sollte. Einem vereine alter zu ehrender Freunde wollte ich nicht genau eine abschlägige Antwort erteilen, und von der anderen Seite ist es doch auch wunderlich, dass gegen ein Honorar zwei Parteien die Besitzer des Werkes sein sollen, indem ich Herrn von Holbein nicht wehren kann, die Oper, wo er Direktion selbst hat, aufführen zu lassen…

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Johann Nepomuk Stiepanek

Die Archivalien-Sammlung wurde nach Johann Nepomuk Stiepanek benannt. Dieser Mann war eine bedeutende Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts in Prag – er war als Theaterdirektor, Regisseur, Schauspieler, Dramaturg, Übersetzer, Schriftsteller, Herausgeber und Publizist tätig. Jitka Ludvová:

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

„Johann Nepomuk Stiepanek oder auch Štěpánek stammte aus der kleinen ostböhmischen Stadt Chrudim. Er wurde 1783 in einer deutschen Familie geboren. Sein Vater war Seidenmeister und Eigentümer eines Hauses in Chrudim. Johann studierte am Gymnasium in der ostböhmischen Stadt Litomyšl und dann ganz kurz an der Universität in Prag. Vor der Jahrhundertwende begann der napoleonische Krieg, und Johann meldete sich – wie etwa 20.000 andere junge Männer auch – in die Legion des österreichischen Erzherzogs Karl. Nach drrei Jahren wurde die Legion aufgelöst, aber Štěpánek kehrte nicht mehr zurück zu seiner Familie nach Chrudim, sondern blieb in Prag.“

In Prag brach der junge Mann auf seinen Weg zum Theater auf…

„Er war 20 Jahre alt. Während seines Studiums hat Stiepanek seine Kenntnisse der tschechischen Sprache ziemlich perfektioniert, und in Prag knüpfte er verschiedene gesellschaftliche Kontakte. Unter seinen Bekannten waren auch deutsche und tschechische Theaterleute – und so hat sich Stiepanek dem Theater zugewendet. Am Ständetheater wurde er zuerst Kassierer, aber er wirkte auch als Dramatiker, Regisseur und Übersetzer, Und nach 1824 war er zehn Jahre lang, also praktisch bis zum Ende seines Lebens, Mitdirektor dieser Prager Bühne. Er verwaltete das Ständetheater zusammen mit dem Schauspieler Ferdinand Polawsky und dem Sänger Joseph Kainz.“

Europäisches Theater in Prag

Johann Nepomuk Stiepanek hat ein großes Werk hinterlassen:

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

„Er schrieb oder übersetzte etwa einhundert Theaterstücke, und dazu einige Opernlibretti. Das Wichtigste aber war, dass er während seines langjährigen Wirkens in Prag hier das Fenster für das europäische Theaterwesen geöffnet hat. Als Co-Direktor brachte Stiepanek in deutschsprachigen Vorstellungen die gesamte europäische dramatische Literatur nach Prag. Das war sehr wichtig – nicht nur für das Publikum, sondern auch für die tschechischen Schauspieler: Sie hatten die Gelegenheit, erstklassige Leistungen zu sehen und zu hören. Somit wurde das Theater zu einer wirklichen Bildungsstätte, und zwar für Künstler beider Sprachen. Besonders wichtig war es für die Entwicklung des tschechischen Theaters, weil dieses Vorbild eine starke Motivation für die einheimischen Künstler war. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten die Tschechen schon das Niveau der deutschen Bühnen.“

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Der Archivbestand unter dem Titel „Correspondenz Stiepanek“ wird heute in der Musikabteilung des Nationalmuseums in Prag aufbewahrt. Wie war aber das Schicksal der Sammlung im 19. und 20. Jahrhundert? Wer hat sich dafür eingesetzt, dass die Sammlung erhalten geblieben ist?

„Die Sammlung ging einen abenteuerlichen Weg. Zuerst blieb sie in der Familie Stiepanek. Dann wurde sie nacheinander von zwei renommierten Prager Sammlern gekauft. Der zweite Inhaber hat sie im Jahre 1908 nach Berlin gebracht und versteigert. In der Auktion erhielt der bekannte Textilunternehmer Richard Morawetz den größten Teil der Sammlung. Er lebte in Nordböhmen und sammelte alte Bücher, Autographe, Porzellan, Theaterzettel, Konzertprogramme und andere Sachen. Im Jahre 1938 kam das Münchner Abkommen, und die Familie Morawetzmusste flüchten, weil sie jüdisch war. Die Familie ging nach Kanada, aber alle ihre Sammlungen blieben in Prag. Glücklicherweise entgingen sie mit Hilfe mutiger Menschen und damaliger tschechischer Institutionen zunächst der Konfiskation. Allerdings wurden die geretteten Sammlungen später vom kommunistischen tschechoslowakischen Staat leider doch noch konfisziert. Nach 1989 bekam die Familie Morawetz sie aber durch die Restitution wieder zurück, und heute liegt diese Stiepanek-Sammlung in der Musikabteilung des Nationalmuseums in Prag.“

Correspondenz Stiepanek | Foto repro: Petra Ježková – Jitka Ludvová ed.,  'Correspondenz Stiepanek'/ Institut umění – Divadelní ústav

Die Edition ist das Werk eines Autorenkollektivs. Neben Jitka Ludvová haben sich Petra Ježková, Dalibor Tureček, Václav Maidl und weitere daran beteiligt. Der tschechisch-deutsche Band „Correspondenz Stiepanek. Die Kanzlei des Ständetheaters in Prag 1800–1850“ enthält neben den Archivmaterialien auch Studien über das Schicksal der Sammlung, über Johann Nepomuk Stiepanek und über die Bedeutung von Briefen als historische Quelle. Das Buch ist in der Editionsreihe Nota bene im Verlag Institut umění – Divadelní ústav erschienen und erhältlich unter https://prospero.idu.cz/publikace/correspondenz-stiepanek-3/.

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