Die Welt ist am schönsten vom Hochrad aus

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Anfang November hat der Tschechische Velozipedistenklub (ČKV) zum 17. Mal eine öffentliche Präsentation unter dem Namen „Die Prager Meile“ veranstaltet. Der Verein kann aber auf eine viel ältere Tradition zurückblicken. Gegründet wurde er vor genau 130 Jahren, also zehn Jahre nach der Patentierung des epochal neuen Fahrradmodells von John Starley in England, das als „Hochrad“ in die Geschichte einging. Ebenso wurde 1880 auch die Herstellung des Fahrzeugs in Prag aufgenommen. Wie es dazu kam, erfahren Sie im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte.

Foto: Jitka Mládková
Der 6. November 2010, 10.00 Uhr vormittags: Wie jedes Jahr am ersten Novembersamstag haben im Prager Letná-Park mehrere Dutzend Mitglieder des Tschechischen Velozipedistenklubs ihr traditionelles Stelldichein. Vor Augen mehrerer hundert Zuschauer kreisen rund zwanzig der in historischen Kostümen gekleideten Gentlemen gratiös im Sattel ihrer Hochräder. Mit Eleganz bilden sie dabei raffinierte Formationen. Ihre Paradenummer, der „Velozipedistenreigen“ zur Musik aus Gioacchino Rossinis Oper „Die diebische Elster“ kommt beim Publikum sehr gut an.

Jan Králík
Doch gehen wir aber von Letná in das Prager Stadtviertel Smíchov. Vor 130 Jahren ist dort zum ersten Mal hierzulande das Hochrad aufgetaucht. Mehr dazu Jan Králík, Publizist und Schriftsteller, nicht zuletzt auch leidenschaftlicher Hochradfahrer.

„Verdient gemacht hat sich darum der junge Engländer William Crowl. Er begleitete die Familie seines Onkels nach Prag. Sie waren alle aus unbekannten Gründen bei Jan Kohout untergebracht, einem Fabrikanten von Mühlanlagen und Wirtschaftsmaschinen in Smíchov. Kohouts Söhne waren sofort begeistert von dem Hochrad. Auf ihre Bitte beschloss Papa Kohout, neben seinem eigentlichen Sortiment auch Hochräder herzustellen. So hat es also hierzulande begonnen.“

Foto: Jitka Mládková
Im Unterschied zu seinem Vorgänger mit Holzrädern, dem so genannten Knochenschüttler, war das Hochrad ausschließlich aus Metall, versehen mit Gummireifen und Eisenspeichen. Es war auch wesentlich schneller. Mit einer einzigen Pedaldrehung am Vorderrad, das einen Durchmesser von 1,40 bis 1,50 Metern hatte, konnte man 4,5 bis 5 Meter fahren. Doch ohne erforderliches Geschick, vor allem beim Auf- und Absteigen, war die Fahrt mit hoher Gefahr verbunden. Nicht selten kam es zu Stürzen des Fahrers über das Lenkrad - oft mit fatalen Folgen. Aus der heutigen Sicht eher eine Fehlentwicklung in der Fahrradgeschichte. Trotzdem verbreitete sich der „Bazillus velozipedicus“ schnell über das ganze Land. Warum?

„Die Jugend war begeistert. Bisher konnte man bis dahin ja nur mit der Kutsche und in einigen Regionen eventuell auch mit dem Zug reisen. Das Wunderbare daran war die Bewegungsfreiheit. Das hatte es bis dahin nicht gegeben. Vielleicht können wir uns das heute gar nicht mehr vorstellen, wie sensationell dieses neue Transportmittel damals war. Eine so einfache Konstruktion und dabei hoch effektiv hinsichtlich der Geschwindigkeit, Entfernung und Bequemlichkeit. Daher hat sich das Hochrad so schnell verbreitet.“

Es wurden also neue Horizonte erschlossen. Allerdings nur für Angehörige der gehobenen Kreise, denn der Kauf eines Hochrads war eine kostspielige Angelegenheit. Sein Preis entsprach fünf bis sechs Monatslöhnen eines besser verdienenden Arbeiters. Selbstverständlich waren es auch keine älteren Herren, sondern Sportfans mit Leib und Seele, die sich in das Hochrad vernarrten. Auf den holprigen Straßen zu fahren, war keineswegs leicht! Man musste also Geld, Mut und natürlich auch viel Geschick besitzen. 1880 war Prag weit und breit der einzige Ort in Mitteleuropa, wo Hochräder hergestellt wurden. Vier der insgesamt fünf Brüder Kohout - František, Josef, Petr und Václav - wurden zu leidenschaftlichen Anhängern und Verfechtern des neuen Gefährts. Jan Králík:

„Im Sommer 1880 fuhren sie auf ihren Hochrädern nach Wien und legten die 360 Kilometer lange Strecke in zweieinhalb Tagen zurück. Das war einen Tag schneller als die k.u.k. Postkutsche. Über die Leistung der Kohouts hat auch die Wiener Presse berichtet. Nach ihrer Rückkehr wurden sie wie Helden von vielen Pragern gefeiert. Dies war ein starker Impuls für Kohout Senior, die Serienproduktion von Hochrädern zu starten. Im Herbst 1880 wurde in Prag auch der Tschechische Klub der Velozipedisten gegründet. Am 2. Januar 1881 kam die offizielle Genehmigung von der Polizeidirektion in Prag.“

Foto: Jitka Mládková
Dem Verein in Smíchov folgten bald weitere. 1882 wurde ein Velozipedistenverein im Prager Stadtteil Weinberge (Vinohrady) aus der Taufe gehoben und kurz danach auch einer in der Prager Neustadt. Neue Vereine entstanden auch außerhalb von Prag. Fünf Jahre später gab es in ganz Böhmen rund die 70 tschechische Vereine, deren Mitglieder dem Hochrad frönten. In derselben Zeit widmeten sich in den böhmischen Ländern auch Dutzende deutscher Velozipedistenvereine dieser Sportdisziplin.

In der Blütezeit des Hochrads waren es vor allem die Kohouts, die sich europaweit einen Namen machten. Das geschah natürlich auf den Gefährten, die ihr Vater herstellte und die in der Ableitung vom Familiennamen „Kohoutovky“ hießen:

„1885 brach Josef Kohout von Prag aus über Deutschland und Frankreich nach England auf. Nach seiner Ankunft in London wurde sein Hochrad im berühmten Crystal Palace ausgestellt. Auf einem Schild stand dort geschrieben: ´Try it like him, if you can!´ (Versuche es wie er, falls du kannst). Bei Kohouts Rückfahrt steckte der Velozipedistenklub Meißen eine Strecke zwischen Meißen, Dresden und Leipzig für den tschechischen Sportaktiven ab. Die 400 Kilometer lange Strecke legte Josef Kohout in 24 Stunden zurück. Nur mit einer Flasche Tee in der Tasche, wohlgemerkt. Damit hat er damals einen Europarekord aufgestellt.“

Der Rekord blieb Jahrzehnte lang unübertroffen. Doch schon drei Jahre davor, im Juni 1882, nahmen die zwei ältesten Kohout-Söhne an der österreichischen Meisterschaft im Hochradrennen teil. In Wien wurde dabei eine Meile gefahren. Mit 3 Minuten 41,4 Sekunden siegte Josef vor seinem Bruder František und dem deutschen Meister T. H. S. Walker. Im Juli desselben Jahres berichtete der Veranstalter der Meisterschaft, die österreichische Zeitschrift „Die Allgemeine Sport Zeitung“, über die Prager Firma Kohout als einzigen Hochradhersteller in der Donaumonarchie. Heute geht man davon aus, dass die Firma Kohout insgesamt 900 bis 1000 Hochräder hergestellt hatte. Nur 60 davon sind bisher gefunden worden. Oft in erbärmlichem Zustand, doch trotzdem kostbar.

Im Jahr 1900 feierte der Tschechische Velozipedistenklub im großen Stil und mehrere Tage lang sein 20. Vereinsjubiläum, allerdings ohne Hochräder. Jan Králík:

„Im Jahr 1900 waren Hochräder schon vergessen und lagen längst verstaubt auf Dachböden oder in Rumpelkammern. Alle Innovationen, die das Hochrad im Lauf der Zeit erlebt hatte, ereigneten sich zwischen den Jahren 1880 und 1890. Spätestens 1893 wurde die Produktion dieser Räder beendet. Doch schon davor hatte man eine Zeitlang daran gearbeitet, ein sichereres Fahrrad zu entwerfen. Zunächst war es 1885 das so genannte sichere Niederfahrrad, Safety-Bicycle: Seine Räder waren gleich groß und das Hinterrad hatte einen Kettenantrieb. Nach der Erfindung des luftgefüllten Reifens 1888 durch den schottischen Reifenpionier John Boyd Dunlop änderte sich dann alles.“

Foto: Marius Tidemann,  www.flickr.com
Die Blütezeit des Hochrads war also kurz. Das beliebte Fahrzeug wurde bald auch hierzulande durch das viel sicherere Niederrad von den Straßen verdrängt. Ihm gehörte die Zukunft, wie die nachfolgende Entwicklung bewiesen hat. In der Zwischenkriegszeit gab es in der Tschechoslowakei mindestens sieben oder acht bedeutende Fabriken, die massenweise Fahrräder herstellten, darunter auch für den Export. Der Prager Velozipedistenklub blieb jedoch bestehen und pflegte weiter die Kunst des Hochradfahrens bis in die 1950er Jahre. Wie so vieles damals passte aber auch dieser Verein dem kommunistischen Regime nicht ins Konzept. Bald wurden die Velozipedisten in zentral beaufsichtigte Turnvereine eingegliedert und waren damit fast nicht mehr existent. Zu ihrer „Wiederauferstehung“ kam es nach der Wende 1989. Zu den wenigen Hochradfans, die an der Wiege des erneuerten Velozipedistenklubs in Prag standen, gehörte auch Jan Králík:

Foto: Jitka Mládková
„1993 haben wir ein internationales Treffen von Hochfahrradsammlern in Prag veranstaltet. Es kamen rund 350 Leute aus der ganzen Welt. Das war ein echtes Dreitage-Holdrio mit Hochfahrrädern. Als es dann vorbei war, haben wir uns gesagt: Donnerwetter, wir müssen etwas machen. Und so haben wir im selben Jahr den Tschechischen Klub der Velozipedisten wieder ins Leben gerufen.“

Bald schlossen sich neue Interessenten an, die sich für den alten Drahtesel begeisterten. Man hört oft, die Welt sei am schönsten vom Pferdesattel aus. Doch Jan Králik entgegnet: „Die mögen noch nie auf dem Hochrad gesessen haben.“