Erfinder der modernen Kontaktlinse - 100. Geburtstag von Otto Wichterle
Vor 100 Jahren wurde einer der bedeutendsten tschechischen Wissenschaftler und Erfinder geboren: Otto Wichterle. Sein Leben ist genauso spannend wie das Schicksal seiner berühmten Erfindung: der weichen Kontaktlinsen, die heutzutage Millionen von Menschen weltweit tragen.
Otto Wichterle wurde am 27. Oktober 1913 im mährischen Prostějov / Proßnitz in eine wohlhabende Familie geboren. Sein Vater war Inhaber einer Firma, die seit den 1880er Jahren Landwirtschaftsmaschinen und später auch Autos herstellte. Der Sohn fühlte sich daher dem Maschinenbau eine Zeitlang sehr nah, doch als Studienfach wählte er dann doch lieber Chemie. 1936 promovierte er darin an der Technischen Hochschule in Prag. Danach begann er noch ein Medizinstudium, doch das musste er wegen des Zweiten Weltkriegs abbrechen.
„1939 schlossen die deutschen Nationalsozialisten alle tschechischen Hochschulen, und ich musste schnell eine Beschäftigung finden, ansonsten wäre ich wahrscheinlich in einem KZ gelandet. Die Kriegsjahre verbrachte ich bei der Firma Baťa im mährischen Zlín. Für mich war es eine hervorragende Schule. Die Firma betrieb große Forschungsinstitute, und eines davon, mit rund 400 Mitarbeitern, auch auf dem Gebiet der Chemie. Ich fragte meinen Chef, was ich machen sollte. Seine Antwort lautete: ‚Was Ihnen einfällt.’ Dazu merkte er an, dass ich es der Leitung sagen sollte, würde ich etwas finden, das für die Firma interessant wäre“, so Wichterle.
In Zlín gelangte Wichterle dann auch wirklich zu seiner ersten Erfindung. Mit seinem Team entwickelte er die sogenannten Silon-Fasern. Dies war das tschechoslowakische Nylon, aus dem die ersten nahtlosen Strümpfe und Strumpfhosen für Frauen waren. Die Erfindung wurde aber geheim gehalten und gelangte erst zehn Jahre später in die Produktion.Gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Wichterle zum Prager Institut für chemische Technologie zurück, um sein zweites Doktorat in organischer Chemie zu schreiben. 1949 wurde er dort zum ersten Professor und drei Jahre später zum Dekan ernannt. Von 1952 an widmete er sich dem Studium hydrophiler Gele, die ihr Volumen bei Wasseraufnahme erweiterten. Bereits ein Jahr später beantragte er sein erstes Patent. Doch wie alle anderen Bereiche hatte damals das kommunistische Regime auch diese Institution im Griff. Weil er mit seinen Ansichten ab und zu nicht hinter dem Berg hielt, galt der Professor bald als verdächtig. 1958 wurde ihm gekündigt. Dabei hatte er durchaus mit kommunistischen Ideen geliebäugelt, wie er kurz nach der politischen Wende sagte:
„Ich war nie das Mitglied einer Partei und auch nicht der kommunistischen. Ich muss aber offen sagen, dass mich in den 1930er Jahren, als ich in Prag studierte, die kommunistische Partei sehr interessiert hat. Ich trat vor allem deswegen nicht in diese Partei ein, weil man mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufgenommen hätte. Ich entstammte ja keiner Arbeiterfamilie, sondern eher einer kapitalistischen Familie. Und obwohl wir beinahe in der Insolvenz gelandet wären, war ich kaum berechtigt, Kommunist zu werden. Ihren ungeheuren Wandel erlebte diese Partei erst, nachdem sie die Macht ergriffen hatte. Danach entfernte sie sich immer mehr von ihrer ursprünglichen Ideologie. Ab den 1970er Jahren war sie keine kommunistische Partei mehr, sie hätte sich vielmehr ‚ tschechoslowakische opportunistische Partei’ nennen sollen. Die Partei wurde dominiert von Menschen, denen es um den eigenen Profit ging. Unter diesen Umständen musste ich logischerweise in Konflikt mit dieser Partei geraten.“ Seine nächste Arbeitsstelle fand Wichterle an der Akademie der Wissenschaften. Im Institut für makromolekulare Chemie setzte er seine Forschungen zur Verarbeitung von hydrophilen Gelen fort. Gemeinsam mit seinem Assistenten Drahoslav Lím gelang es ihm, das sogenannte polymere Hydrogel, kurz Hema, zu vervollkommnen. Aus diesem Material stellte er einige Jahre später die ersten weichen Kontaktlinsen her, und zwar 1961 in seiner eigenen Küche. Wichterle arbeitete oft auch zu Hause, weil sich der Aufbau eines neuen Gebäudes für das Prager makromolekulare Chemie-Institut hinzog. Aber nicht nur, dass er zu Hause arbeitete: Für die Erfindung der Kontaktlinsen konstruierte der Chemiker kurz vor Weihnachten 1961 eine Apparatur aus dem tschechischen Metallbaukasten für Kinder „Merkur“. Den Antrieb lieferte der Dynamo vom Fahrrad seines Sohnes. In seinen Memoiren schreibt Wichterle:„Nachmittags am 24. Dezember brachte ich die Apparatur in Gang. Im Schleudergussverfahren entstanden die ersten vier Kontaktlinsen. Bis zum Abend und in der Nacht spülte ich sie in Salzwasser. Am nächsten Morgen fuhr ich sofort in die Augenklinik und assistierte, als diese Kontaktlinsen erstmals den Patienten eingesetzt wurden. Unmittelbar danach verfasste ich ein Konzept für eine Patentbewerbung. Am Neujahrstag 1962 hatte ich schon eine andere Apparatur mit 15 Achsen. Die Leistung des kleinen Fahrraddynamos reichte nicht mehr. Deswegen musste ich meinem Plattenspieler die Antriebsmechanik entnehmen.“ In den ersten vier Monaten des Jahres stellte Wichterle gemeinsam mit seiner Ehefrau rund 5000 Kontaktlinsen her.Im Juli 1962 reiste Otto Wichterle nach London, um seine Kontaktlinsen dem bekannten britischen Augenarzt Harold Ridley zu zeigen. Ridley hatte 1949 als erster eine künstliche Linse im Auge eines Patienten implantiert. Den Besuch beschrieb der Tscheche folgendermaßen:
„Er empfing mich sehr kühl. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Firmenvertreter. Ich sagte ihm, dass ich in meinen Augen einen neuen Typ von Kontaktlinsen trug. Ridley schaute mich aus der Nähe an und konnte nicht glauben, dass ich Kontaktlinsen in den Augen hatte. Ich nahm eine der Linsen heraus und zeigte sie ihm. Professor Ridley packte meinen Arm und zog mich in den benachbarten Hörsaal, wo mehrere Augenärzte ihren Patienten harte Kontaktlinsen einsetzten. Ridley unterbrach ihre Arbeit und hieß sie an mich heranzutreten. Auch sie waren überzeugt, dass ich keine Kontaktlinsen in den Augen hatte. Besonders ergriffen von dieser Präsentation zeigte sich Ridleys Stellvertreter, Doktor Ruben, der sich bald als einer der größten Verfechter unserer Kontaktlinsen profilierte.“
Professor Wichterle stellte also als Erster auf der Welt moderne Kontaktlinsen her. Doch die politischen Verhältnisse in der damaligen Tschechoslowakei ermöglichten ihm keine entsprechende Karriere. Wichterle war ein engagierter Bürger und beteiligte stark an der Reformbewegung des Prager Frühlings 1968. Er war einer der Autoren des Manifestes „Zweitausend Worte“ und wurde als parteiloser Abgeordneter sogar in die Föderalversammlung der ČSSR gewählt. Nachdem aber der Prager Frühling durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen unterdrückt wurde, bekam auch er das zu spüren. Zunächst verzichtete er auf sein Abgeordnetenmandat. Zum selben Zeitpunkt musste er die Leitung des Instituts für makromolekulare Chemie aufgeben, immerhin durfte er dort aber als Wissenschaftler weiterarbeiten. Sein politisches Engagement hat er allerdings nie bereut:„Im Interesse der Demokratie ist es meiner Meinung nach eine Pflicht, sich auch als Bürger im öffentlichen Leben zu engagieren. Beim Manifest ‚2000 Worte’ haben wir vielleicht etwas naiv geglaubt, dass es gelingen könnte, den 1968 hierzulande eingeschlagenen Demokratisierungskurs am Leben zu halten. Es ging uns um eine Verbesserung der Dinge, aber auch darum, auf das Negative aufmerksam zu machen. Die Bedeutung des Reformkurses wurde langsam sichtbar, doch nach ein paar Monaten wurde sie durch die sowjetische Okkupation abgebrochen.“
Das kommunistische Regime hatte Otto Wichterle aber auch zuvor viele Hindernisse in den Weg gelegt. In den 1960er Jahren zeigten insbesondere US-amerikanische Firmen großes Interesse an Wichterles Patenten, doch der Erfinder selbst durfte weder über den Verkauf entscheiden, noch sah er eine müde Krone. Der tschechoslowakische Staat verkaufte die Patentrechte 1964 für etwa 330.000 US-Dollar an einen unternehmungslustigen Amerikaner, dieser verkaufte sie ein Jahr später für eine Million Dollar weiter. Lizenzinhaber wurde die Firma Bausch & Lomb, erst 1971 genehmigten die US-amerikanischen Behörden die Marktzulassung von hydrogelen HEMA-Kontaktlinsen. Quasi über Nacht stieg damit der Wert der Firmenaktien auf das Dreifache. Doch auch weitere Firmen betrieben - allerdings ohne Lizenzverträge - einen Handel mit den Kontaktlinsen. Deswegen kam es Ende der 1970er Jahre zu einem Prozess vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Und da bekam der tschechoslowakische Staat noch einmal die Möglichkeit, an den Patentrechten beteiligt zu werden. Doch für drei Millionen Dollar verzichtete er darauf. Dies war ein Spottpreis angesichts der Gelder, die die Lizenzverträge in den nachfolgenden Jahren in die Staatskasse hätten spülen können. Auch Otto Wichterle wurde von dem amerikanischen Gericht angehört. Denn einige am Verfahren beteiligten Firmen hatten in Frage gestellt, dass er der Erfinder der Linsen gewesen sei. Die Firma Bausch & Lomb gewann aber den Prozess und zählt heutzutage zu den Branchenführern bei Kontaktlinsen. Nach der politischen Wende in der Tschechoslowakei wurde Wichterle gefragt, ob es für ihn nicht schade gewesen sei, jahrelang auf seine wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit zu verzichten, und ob er deswegen nicht an eine Emigration gedacht habe. Hier seine Antwort:„Schade? Ich hätte zum Beispiel auch mit 30 Jahren schon an Krebs sterben können. So kann man die Dinge nicht sehen. An eine Emigration habe ich selbstverständlich gedacht. Als es im August zur Besetzung der Tschechoslowakei durch die Staaten des Warschauer Paktes kam, war ich gerade bei einem wissenschaftlichen Kongress in Kanada. Damals war ich zur Emigration entschlossen, allerdings nur im Fall, dass eine Todesstrafe auf mich gewartet hätte. Als aber klar wurde, dass mir zu Hause höchstens eine Gefängnisstrafe drohte, trat ich sofort die Heimreise an. Natürlich war ich mir dessen bewusst, dass es Schluss sein dürfte mit meinem öffentlichen Engagement und mit meiner leitenden Position in der Akademie der Wissenschaften. Doch das kann man überleben. Und wie Sie sehen, bin ich immer noch am Leben.“
1990 wurde Otto Wichterle zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gewählt. Als er das Amt drei Jahre später aufgab, blieb er aber Ehrenpräsident. Außerdem wurde er mit einer ganzen Reihe bedeutender Auszeichnungen und Preise im In- und Ausland bedacht. Am 18. August 1998 starb Otto Wichterle im Alter von 84 Jahren.