„Merkur“-Baukasten und Fahrraddynamo: Wie Otto Wichterle die erste weiche Kontaktlinse herstellte
Der Zufall hat Otto Wichterle mehrfach im Leben geholfen. Bei der Erfindung von Poly-Hema zum Beispiel. Bis aus diesem Material dann die ersten weichen Kontaktlinsen entstanden, brauchte es aber noch mehrere Jahre geduldigen Experimentierens. Seine vorzüglichen Kenntnisse im Bereich der hydrophilen Gele verband der Chemiker Wichterle mit einer guten Portion Erfindungsreichtums. Und so kam es, dass er sich dank einer selbstgebauten Zentrifuge um die wichtigste tschechische Erfindung des 20. Jahrhunderts verdient gemacht hat.
Kontaktlinsen, die direkt auf die Hornhaut des Auges aufgesetzt werden, gab es schon zu Ende des 19. Jahrhunderts. Damals wurden sie aus Glas und als Maßanfertigung für den betreffenden Patienten hergestellt. Damit hatte sich die Augenheilkunde schon einige Schritte weiterentwickelt seit den Versuchen Leonardo Da Vincis. Dieser hat 400 Jahre zuvor noch vorgeschlagen, das Auge zur Stärkung der Sehkraft in ein Wasserglas zu tauchen.
Wasser spielte dann auch eine wichtige Rolle für den Meilenstein, den der Tscheche Otto Wichterle in der Geschichte der Sehhilfen setzte. Der Chemiker hat nämlich vor 60 Jahren die weichen Kontaktlinsen aus Hydrogel erfunden. Damals waren die kleinen Haftschalen bereits weltweit bekannt. Sie wurden zwar nicht mehr regulär aus Glas hergestellt, waren aber trotzdem weiterhin von fester Form. Jiří Michálek ist stellvertretender Leiter des Instituts für Makromolekulare Chemie an der tschechischen Akademie der Wissenschaften:
„Ab Mitte der 1930er Jahre setzten sich Linsen aus Polymethylmethacrylat durch. Das ermöglichte eine industrielle Herstellung und ihre Verbreitung auf dem Weltmarkt. Heute sind die harten Kontaktlinsen also nicht mehr aus Glas, sondern aus Polymethylmethacrylat, und sie werden nur noch sehr selten eingesetzt.“
Dafür nutzt man jetzt umso mehr Linsen aus anpassbarem Hydrogel. Und genau das ist der Verdienst Otto Wichterles. Geboren wurde er am 27. Oktober 1913 im mährischen Prostějov / Proßnitz. 1936 promovierte er in Chemie. Den Abschluss eines anschließenden Medizinstudiums verhinderte der Terror der deutschen Besatzer während des sogenannten „Protektorats Böhmen und Mähren“, wie Wichterle selbst später berichtete:
„1939 schlossen die deutschen Nationalsozialisten alle tschechischen Hochschulen, und ich musste schnell eine Beschäftigung finden. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich in einem KZ gelandet. Die Kriegsjahre verbrachte ich bei der Firma Baťa im mährischen Zlín. Für mich war es eine hervorragende Schule. Die Firma betrieb große Forschungsinstitute, und eines davon, mit rund 400 Mitarbeitern, auch auf dem Gebiet der Chemie. Ich fragte meinen Chef, was ich machen sollte. Seine Antwort lautete: ‚Was Ihnen einfällt.’ Dazu merkte er an, dass ich es der Leitung sagen sollte, würde ich etwas finden, das für die Firma interessant wäre.“
In diesem Umfeld entwickelte Wichterle tatsächlich seine erste Erfindung: eine künstliche Polyamidfaser, die er Silon nannte. Daraus wurden in der Tschechoslowakei später Feinstrumpfhosen – umgangssprachlich „silonky“ – hergestellt, in Anlehnung an die begehrten Nylon-Produkte aus dem Westen.
Kontaktlinsen mit Metallbestandteilen
Nach dem Krieg ging Wichterle nach Prag zurück und war weiter im Bereich der makromolekularen organischen Chemie tätig. Als Dekan des Instituts für chemische Technologie spezialisierte er sich auf das Studium und die Verarbeitung hydrophiler Gele. Zu dieser Zeit, genauer 1952, machte der Wissenschaftler eine wichtige Bekanntschaft. Während einer Zugfahrt von Olomouc / Olmütz nach Prag kam er ins Gespräch mit einem Mitreisenden. Dessen Lektüre einer Fachzeitschrift für Augenheilkunde hatte Wichterles Aufmerksamkeit geweckt. Eine Anzeige für künstliche Augäpfel ließ den Chemiker darüber sinnieren, dass Kunststoff das geeignetste Material für ein solches Implantat wäre. Wie es der Zufall wollte, war sein Gesprächspartner Sekretär der Kommission zum Einsatz von Kunststoffen in der Medizin. Dieser Doktor Pur sorgte im Weiteren für Unterstützung und gute Kontakte bei Wichterles Forschungen.
Was ein neues, anpassungsfähigeres Material für Kontaktlinsen anging, habe Wichterle eng mit seinem Assistenten Drahoslav Lím zusammengearbeitet, so Michálek:
„Die Sehhilfen hatten damals sogar aus Metallbestandteile wie zum Beispiel verschiedene Legierungen von Titan. Wichterle und Lím suchten passendere Materialien auf Polymer-Basis, die mit Wasser durchtränkt und deswegen weich wären. Diese Vision konnte Wichterle umsetzen. Ich habe später mit ihm zusammengearbeitet an der Weiterentwicklung neuer Hydrogelmaterialien mit noch höherem Wasseranteil. Sie sollten auch eine bessere Sauerstoffdurchlässigkeit bieten.“
Genau diese Durchlässigkeit war der Knackpunkt der neuen Kontaktlinsen. Wichterle nahm an, dass sie der feuchten Umgebung des Augapfels nicht schaden und so gut verträglich sein würden. Der Legende nach kamen die beiden Wissenschaftler auf die richtige Materialzusammensetzung, nachdem Lím eine unfertige Gelmischung über Nacht im Wasser liegen ließ. Woran er am nächsten Morgen eigentlich weiterarbeiten wollte, war zum gänzlich durchsichtigen, flexiblen Prototypen geworden. Ein weiterer Zufall half also nach, dass am 23. April 1955 das polymere Hydrogel namens Poly-Hema patentiert wurde.
Begeisterung bei britischen Fachleuten
Nur ihre Form wollten die kleinen Haftschalen noch nicht behalten. Wichterle, der 1958 als politisch unliebsam aus dem Institut entlassen wurde, führte seine Experimente unablässig weiter. Das zum einen an seiner neuen Arbeitsstätte, dem gerade gegründeten Institut für Makromolekularchemie an der Akademie der Wissenschaften, und zum anderen in seiner Wohnung. Aus einem Metall-Baukasten für Kinder der damals populären Marke „Merkur“ baute er eine Art Zentrifuge, in der das Hydrogel im Schleudergussverfahren in die gewünschte Form einer Linse gebracht wurde. Für den gleichmäßigen Antrieb setzte er einen Fahrraddynamo ein. Weihnachten 1961 stellte der Chemiker auf diese Weise die ersten vier Kontaktlinsen her, die ihre Form beibehielten.
Das Konzept für ein weiteres Patent war schnell geschrieben. Bis Neujahr hatte Wichterle zudem eine größere Vorrichtung fertiggestellt, anhand derer er gemeinsam mit seiner Ehefrau die Bedingungen für eine Serienherstellung entwickelte. Nach vier Monaten war ein Vorrat von etwa 5500 Hydrogellinsen angelegt. Am Rande eines internationalen Kongresses in London führte der Chemiker aus Tschechien seine Erfindung im Juli 1963 dem namhaften Augenarzt Harold Ridley vor. In seinen „Vzpomínky“ (Erinnerungen) beschrieb Wichterle die Begegnung, Zitat:
„Er empfing mich sehr kühl. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Firmenvertreter. Ich sagte ihm, dass ich in meinen Augen einen neuen Typ von Kontaktlinsen trage. Ridley schaute mich aus der Nähe an und konnte nicht glauben, dass ich Kontaktlinsen in den Augen hatte. Ich nahm eine der Linsen heraus und zeigte sie ihm. Professor Ridley packte meinen Arm und zog mich in den benachbarten Hörsaal, wo mehrere Augenärzte ihren Patienten harte Kontaktlinsen einsetzten. Ridley unterbrach ihre Arbeit und hieß sie, an mich heranzutreten. Auch sie waren überzeugt, dass ich keine Kontaktlinsen in den Augen hatte.“
Wichterle fand vor allem in Ridleys Stellvertreter Montague Ruben einen leidenschaftlichen Unterstützer, der für die Verbreitung der weichen Linsen sorgte.
Linsen mit eingebauter Kamera
Heute sind die flexiblen Haftschalen aus dem Segment der Sehhilfen nicht mehr wegzudenken. Das Material wurde und wird immer weiterentwickelt. Inzwischen wird meist mit Silikon-Hydrogel gearbeitet. Hinzu kommen Fragen des Designs oder des Tragekomforts. Das sei aber mittlerweile eher eine kommerzielle Angelegenheit und beschäftige die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen großer Konzerne, sagt Michálek. An Wichterles früherer Wirkungsstätte, dem Institut für Makromolekulare Chemie, ginge die Arbeit in seinem Sinne aber weiter:
„Wir führen das Erbe von Wichterle in anderer Hinsicht fort. Als die Hydrogele erstmals auf den Labortischen auftauchten, war es sein Ziel, sie für die breite Medizin zugänglich zu machen. Das reichte von Kontaktlinsen über Intraokularlinsen bis hin zu verschiedenen Implantaten im gesamten menschlichen Körper. Heute arbeiten wir an Implantaten, in denen das Hydrogel-Polymer aktiv arbeitet. Etwa bei Gewebeerweiterungen, wenn es also nötig ist, ein Stück Gewebe nachzuzüchten. Wir konzentrieren uns auf die Anwendung von Hydrogelen eben deshalb, weil sie dem inneren Aufbau unseres Körpers so ähnlich sind.“
Kontaktlinsen dienen heute nicht mehr nur zur Korrektur von Sehschwächen. Sie können ebenso eine Schutzfunktion oder kosmetische Zwecke haben. Und auch wenn Otto Wichterle noch große Visionen für die Zukunft dieser Sehhilfen hatte, kann bezweifelt werden, dass ihm dabei Kontaktlinsen mit eingebauter Kamera in den Sinn kamen. Aber selbst diese gibt es bereits.
Otto Wichterle starb am 18. August 1998 in Stražisko, ganz in der Nähe seines Geburtsortes. Für Jiří Michálek hat er nicht nur eine wichtige Erfindung hinterlassen:
„Der persönliche Kontakt zu Wichterle war immer eine gute Schule für das Leben. Ich persönlich schöpfe bis heute daraus. Seine Voraussagen, was alles dank dieser Materialien möglich sein wird, haben sich noch gar nicht alle erfüllt.“