Europäer oder EU-Bürger? Für die Tschechen ist das nicht dasselbe

Die tschechische Gesellschaft ist sich einig: Sie identifiziert sich mit dem Europäertum. Problematischer ist hingegen, in wie weit sich die Menschen hierzulande als Bürger der Europäischen Union fühlen.

Europa ist nicht gleich Europäische Union. Zumindest aus der Sicht der tschechischen Gesellschaft besteht da ein grundlegender Unterschied. Dies hat eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Stem im Auftrag des Tschechischen Rundfunks ergeben.

Sind sie stolz darauf, ein Tscheche, ein Europäer beziehungsweise ein EU-Bürger zu sein? Diese Frage wurde im November vergangenen Jahres mehr als 2000 Menschen hierzulande gestellt. Am meisten positive Antworten gab es bei der tschechischen Identität, und zwar waren es 78,8 Prozent der Befragten. Nur etwas weniger Tschechen sind stolze Europäer – konkret 76,0 Prozent. Hingegen sind nur 46,1 Prozent der Menschen hierzulande auch stolze EU-Bürger.

Laut dem Soziologen Martin Kratochvíl, der sich an der Auswertung der Umfrage beteiligt hat, ist Europa für die Mehrheit der tschechischen Öffentlichkeit nicht negativ konnotiert. Der Begriff beziehe sich aber eher auf den historischen Rahmen und seine geografischen Dimensionen, die Politik bleibe in diesem Fall außen vor, so der Wissenschaftler. Im Fall der EU sei dies jedoch anders:

„Die Europäische Union trägt aus der Sicht vieler tschechischer Bürger einen politischen Inhalt. Das lässt sich spätestens seit der Zeit der Flüchtlingskrise beobachten. Die Tschechen assoziieren die EU mit politischen Entscheidungen.“

Die Migrationskrise war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Damals sank deutlich das Vertrauen der Tschechen in die Fähigkeit der Union, ihre Probleme zu bewältigen. In den vergangenen Jahren hätten auch die Klimapolitik und der Green Deal zu dieser Skepsis beigetragen, so Kratochvíl:

„Für manche ist dies zwar ein Weg in die richtige Richtung, für andere aber etwas Unvorstellbares und Bedrohliches. Und die Einstellung zur EU ist eng verbunden mit der Einstellung zur grünen Transformation.“

Die Ergebnisse der Umfrage und die widersprüchliche Wahrnehmung von Europa und Europäischer Union kommentierte auch der Politologe und Philosoph Daniel Kroupa im Tschechischen Rundfunk:

„Der Widerspruch ergibt sich aus der Art und Weise, wie Politiker hierzulande über die Europäische Union reden, und zwar seit dem EU-Beitritt Tschechiens. Sie sprechen in dem Sinne, als ob die EU irgendwo anders läge als hier. Sie sagen, Brüssel habe angeordnet, anstatt zu sagen, die Mitgliedsstaaten einschließlich Tschechien hätten entschieden. Dabei wurden fast alle Entscheidungen unter der Beteiligung und mit Zustimmung Tschechiens getroffen.“

Zudem verweist Kroupa darauf, dass Politiker hierzulande EU-Richtlinien auch verwenden würden, um ihre eigenen politischen Projekte durchzusetzen.

Die aktuelle Studie zeigt des Weiteren, dass die Tschechen ihre Zugehörigkeit zu Europa unterschiedlich empfinden – je nachdem, in welchem Lebensabschnitt sie sich befinden. Der Soziologe Kratochvíl:

„Den jungen Menschen bis 29 beziehungsweise 35 Jahre liegt die europäische Identität und die Identität im Sinne der Zugehörigkeit zur Europäischen Union eindeutig näher als der Gesellschaft insgesamt oder zumindest den älteren Jahrgängen. Ich spekuliere jetzt ein bisschen, aber sie entspricht bei den Jüngeren vielleicht sogar der tschechischen Identität.“

Am kritischsten steht die Bevölkerungsgruppe im Alter von bis zu zehn Jahren vor dem Renteneinstieg der Europäischen Union gegenüber. Im höheren Rentenalter nimmt die Unterstützung für die EU wieder zu. Nach Ansicht von Soziologen könnte dies daran liegen, dass für die Menschen in diesem Alter politische Fragen an Bedeutung verlieren.

Autor: Markéta Kachlíková | Quellen: iROZHLAS.cz , Český rozhlas
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