„Ganz Tschechien liest Kindern vor“ – ein Projekt, das sich etabliert

Václav Havel mit Frau Dagmar

Das Fernsehen kann das Kind nicht umarmen. Zum Kuscheln ist es auch nicht geeignet und Fragen beantworten kann es auch nicht. Und trotzdem gibt es immer wieder zu hören und zu lesen, dass Kinder immer mehr Zeit vor der Glotze verbringen. In der Kinderwelt haben heutzutage das Fernsehen, Computer und Internet die Oberhand gewonnen. Das Lesen und Vorlesen ist auf das Nebengleis, falls überhaupt, verdrängt worden. Diesem Trend will seit einigen Jahren das Projekt „Ganz Tschechien liest Kindern vor“ entgegenwirken.

Illustrationsfoto
Der Einbruch elektronischer Medien hat auch in Tschechien wie anderswo seine Konsequenzen. Aus dem realen Leben werden zunehmend alte Gewohnheiten wie etwa die des Lesens und Vorlesens verdrängt, und durch visuelle Reizwelten des Fernsehens und des Internets ersetzt. Es gibt aber immer noch Menschen, die diesen Trend mit viel Skepsis betrachten. Ihm entgegenzuwirken beschloss vor ein paar Jahren eine Gruppe von Enthusiasten, die hierzulande das Projekt „Ganz Tschechien liest Kindern vor“ ins Leben gerufen haben. Zunächst im nordmährischen Ostrava / Ostrau und anschließend auch in weiteren Städten des Landes. Die Idee dieses Projektes ist es, das Vorlesen in jede Familie mit Kindern zurück zu bringen. Hierfür wurde 2006 die gleichnamige Stiftung gegründet. „Seitdem kämpfen wir“, sagt lächelnd ihre Initiatorin und Leiterin Eva Katrušáková:

Eva Katrušáková
„Wir kämpfen darum, dass die Idee des Leserituals mit Kindern bei einer möglichst hohen Zahl von Eltern und Großeltern, aber auch in vielen Schulen, Kindergärten oder auch in Arztpraxen ankommt. Alle, die wir für das Projekt gewinnen können, sollen sich bewusst werden, welchen Einfluss die gemeinsam mit Kindern verbrachte Zeit auf sie hat. Die gemeinsam erlebte Zeit ist nämlich das wichtigste an dem Projekt.“

Das ungewöhnliche Projekt ist hierzulande im Großen und Ganzen auf positive Resonanz gestoßen.

„Die meisten Menschen, an die wir uns wenden, reagieren positiv auf den Hauptgedanken unserer Projektkampagne. Aber es gibt gelegentlich auch Negatives zu hören, was mich dann etwas traurig macht. Es war zum Beispiel sogar eine Redakteurin, die hierzu eine spitze Glosse schrieb. Sie hat offenbar nicht begriffen, worum es geht. In solchen Fällen reagiere ich aber nicht. Im Prinzip macht es keinen Sinn, jemanden von der Bedeutung des Projektes zu überzeugen. Unsere Arbeit ist ohnehin mit so viel Zeitaufwand verbunden. Aber auch mit viel Schönem!“

Jim Trelease
Die Inspiration für das tschechische Leseprojekt fand Eva Katrušáková bei dem Amerikaner Jim Trelease, Autor des Buches „The Read-Aloud Handbook“/ „Das Vorlesen-Handbuch“, und in Polen, wo seine Erkenntnisse schon früher als hierzulande Anwendung fanden.

„40 Jahre seiner pädagogischen Praxis tourte er durch amerikanische Schulen, tauschte sich mit Eltern, Lehrern, Erziehern und Ärzten aus und setzte sich dabei für das den Kindern Vorlesen ein. Ich hatte das Glück, Jim Trelease vor einem Jahr zu begegnen. Er ist wirklich eine charismatische Persönlichkeit. Schon 2001 wurde in Polen das bis heute sehr erfolgreiche Projekt ´Ganz Polen liest Kindern vor´ gestartet.“

Und gerade aus Polen sei der ´Wind´ auch nach Tschechien geweht, sagt Katrušáková, die sich mit den dort gemachten Erfahrungen bekannt machte.

Im April 2008 wurde sie auf einem Galaabend in Warschau mit dem Preis der Stiftung „Ganz Polen liest Kindern vor“ bedacht. Unter den Gästen war auch Jim Trelease. Mit seinem folgenden Kredo kann sie sich voll und ganz identifizieren. Zitat:

„Ungeachtet dessen, wie viel Arbeit man hat, das Wichtigste, was du für die Zukunft deines Kindes machen kannst, ist neben der gezeigten Liebe und den Umarmungen auch das alltägliche Vorlesen und die radikale Reduzierung des Fernsehens.“

Die Devise des Projektes „Tschechien liest Kindern vor“ ist, dass es dabei um vieles mehr als das Lesen selbst geht. Eva Katrušáková:

„Es geht um Emotionen, um den gemeinsamen Zeitvertreib, um das Gefühl des Kindes, dass seine Mutter oder sein Vater gerade jetzt nur ihm allein gehört und dass es geliebt wird. Nichts und niemand kann den Vater oder die Mutter ersetzen, die am Bettenrand sitzen und vorlesen. Das Lesen ist ein unspektakulärer Ausdruck der Elternliebe, die jeder von uns so sehr braucht.“

Václav Havel mit Frau Dagmar
Es ist inzwischen gelungen, eine ganze Reihe bekannter Persönlichkeiten als „Fahnenträger“ zu gewinnen, darunter den ehemaligen Präsidenten Václav Havel als Schirmherrn. Bei einer öffentlichen Präsentation des Teams erinnerte sich Havel an seine Kindheit und die ersten Lektüren so:

„Meine Mutter war eine Intellektuelle, die mich obendrein sehr lieb hatte. Ich bin davon überzeugt, dass sie mir von früh bis abends Märchen vorgelesen hat. Leider habe ich ein löchriges Gedächtnis und kann mich daran überhaupt nicht erinnern.“

Als das erste Buch, das in seinem Gedächtnis bis heute fest verankert sei, nannte Havel den Titel „Broučci“ / „Käferchen“ von Jan Karafiat. Warum ausgerechnet dieses Buch?

„Schwer zu sagen. Vielleicht durch die bedeutende aus der Phänomenologie bekannte Verbundenheit des Eigenen und des Fremden. Die Käferchen halten sich zunächst auch zu Hause auf, fliegen dann wiederum mit ihren Laternen aus und kehren aber wieder heim. Das ist eine der grundlegenden existenziellen Erfahrungen, dass man irgendwo zu Hause, also im Eigenen ist und irgendwo wiederum außerhalb von zu Hause, weit entfernt, in einer anderen Welt.“

Barbora Špotáková
Trotz Unterstützung von Menschen klangvoller Namen, außer Havel zum Beispiel die Olympia-Siegerin im Speerwerfen Barbora Špotáková, der Weltmeisterin im Langlauf, Kateřina Neumannová, betont Eva Katrušáková bei jeder Gelegenheit, das Wichtigste sei das „kleine“ alltägliche Vorlesen zu Hause. Das Zusammensein in der Familie, sich berühren und sich gegenseitig in die Augen schauen. Mit der Stiftung „Ganz Tschechien liest Kindern vor“ arbeiten derzeit rund 100 Freiwillige zusammen, die regelmäßig Kindern in Krankenhäusern oder Kinderheimen vorlesen. Zu den Einrichtungen dieser Art, wo das Vorlesen auf guten Nährboden gestoßen ist, gehört die Urologische Kinderklinik in Ostrava. Wie es dort dazu kam, weiß die Krankenschwester Angelika Remová:

„An mich hat sich eine Lehrerin des hiesigen Konservatoriums gewandt, die bei uns als Begleitung ihres Kindes weilte. Es fiel ihr ein, dass die Lesungen für unsere Patienten, die oft keinen Besuch bekommen, willkommen sein könnten. Es kommen jetzt zu uns jeweils zwei Schüler des Konservatoriums zum Vorlesen, die die Lektüre auf das Alter der Patienten abstimmen. Unsere Station hat zwei Abteilungen – eine für kleine Kinder und eine für Jugendliche.“

Und wie kommt die Lektüre bei den Kindern an?

„Bei den kleinen Kindern sehr gut. Vor allem denjenigen, deren Mütter zu Hause die Gewohnheit des Vorlesens nicht pflegen. Sie wollen immer neue Märchen hören. Bei den Jugendlichen ist es schon ein bisschen problematisch. Manchmal kommen sie zu der Lektüre im Esssaal mit langen Gesichtern und mit Worten wie ´ach, das wird wieder was´. Wenn aber die Geschichte spannend ist, dann hören sie aufmerksam zu.“

Das Vorlesen dauert ungefähr eine halbe bis eine Dreiviertelstunde, je nachdem, wann die kleinen Patienten den Vorleser loslassen wollen. Oft betteln sie um ein weiteres Märchen. Die Kinder malen auch gerne. Beim Zuhören greift manches Kind nach Buntstiften und bringt gleich seine Vorstellungen zu Papier. Die bisherige Umsetzung des Projektes „Ganz Tschechien liest Kindern vor“ schlägt langsam Wurzeln. Wie tief und breit, das wird erst die Zeit zeigen.