Gesund in Europa - 1
Bereits umgedacht hat die Gesellschaft beim Thema Asbest. Der Erfolg dieses Umdenkens, der lässt aber oft auf sich warten. Asbest galt lange als der ideale Baustoff - unzerstörbar, schallisolierend und preisgünstig. Doch das Einatmen von Asbestfasern kann Jahrzehnte später Lungen-, Rippenfell- und Brustfellkrebs auslösen. In Frankreich führte Asbest zur größten Gesundheitskatastrophe, die das Land je gesehen hat. Obwohl seit 1997 verboten, fordert er jedes Jahr Tausende Opfer. In vielen Gebäuden in Frankreich lässt sich eine hohe Konzentration an Asbest finden, doch der derzeit größte Skandal ist die nun seit fast 10 Jahren bestehende Baustelle der Fakultät Jussieu im Quartier Latin. Nadine Baier von Radio France Internationale berichtet:
"In Frankreich haben wir jedes Jahr mehr als 3000 Todesfälle wegen Asbest. Das ist die größte Gesundheitskatastrophe in Frankreich. Wir versuchen dieses Problem bereits seit 10 Jahren zu lösen", sagt Michel Parigot.
Eigentlich ist Parigot Mathematiker im Forschungslabor von Jussieu. Aber als 1994 die ersten Krankheitsfälle auf dem Universitätscampus auftraten, musste er etwas tun, sagt er, und gründete das Anti-Asbest-Komitee und später den landesweiten Verein zum Schutz der Asbestopfer. Heute sind 15.000 Menschen Mitglied in diesem Verein, und 8.000 Opfer kommen jedes Jahr hinzu. Im Jahr 2025 wird sich nach Schätzungen die Zahl der Todesfälle wegen Asbest in Frankreich auf 100.000 belaufen.
Schauplatz Quartier Latin, Fakultät Jussieu in Paris: 200.000 Quadratmeter graue Hochhäuserbauten, gläserne Pyramiden, eine typische Universitätsanlage im Stil der sechziger Jahre. 40.000 Studenten und 10.000 Angestellte arbeiten tagtäglich in diesem Gebäude. Es handelt sich hierbei um das größte asbestverseuchte Gebäude in Europa. Ursprünglich sollten die vor zehn Jahren begonnenen Bauarbeiten der Asbestentsorgung dienen, sagt Michel Parigot:
"Das Beispiel von Jussieu ist typisch. Die Entscheidung der Asbestbeseitigung wurde 1996 getroffen. Der Plan, der vom Bildungsminister unterzeichnet worden ist, hat drei Jahre für die Arbeiten vorgesehen. Neun Jahre später sind 25 Prozent fertig, 35 in Arbeit und 45 Prozent immer noch asbestverseucht. Die Gesetze werden einfach nicht angewandt! Die Universitäten in Frankreich hängen direkt von der Regierung ab. Das heißt: Immer wenn alle zwei Jahre ein neuer Minister ins Amt kommt, ist das erste was er tut, mit dem aufzuhören, was sein Vorgänger gemacht hat. Ein Politiker hat es nicht gerne, ein Gebäude zu sanieren bzw. nur Asbest zu entfernen. Denn das kostet Geld, man sieht jedoch nichts. Die Architektur interessiert viel mehr als die öffentliche Gesundheit. Das ist wirklich ein Skandal!"
Auf fast eine Milliarde Euro belaufen sich nun die Kosten dieser Baustelle, nur 10 Prozent gehen in die Asbestbeseitigung. Und nicht nur Jussieu, sondern auch la Tour Montparnasse in Paris, ein 210 Meter hoher Turm mit 56 Etagen, in dem 5000 Angestellte arbeiten, oder die Bibliothek Francois Mitterand sind von Asbest verseucht.
In der Universität gehen Studenten gelassen mit der Baustelle um. Eric Chasserie glaubt nicht, dass er erkrankt:
"Ich bleibe ja nicht so lange hier, vier oder fünf Jahre vielleicht. Aber Studenten in der Forschung bleiben oft viel länger und arbeiten in den asbestverseuchten Forschungslaboren. Ich persönlich hoffe natürlich, dass ich nicht krank werde. Ich denke einfach nicht daran."
Doch in 30 Jahren denkt er vielleicht anders darüber, sagt die 63-jährige Marie Madeleine. 30 Jahre hat sie im Forschungslabor von Jussieu als Mathematikerin gearbeitet. Vor einem Jahr kam die Nachricht: Sie hat die sogenannte Pleuraplaques, eine Veränderung des Brustfells:
"Ich kann es nicht akzeptieren, dass, wenn man schon weiß, dass Asbest tötet, die Arbeiten z.B. in Jussieu so lange dauern - mehr als 10 Jahre! In dieser Zeit können noch mehr Kollegen krank werden, und diejenigen, die vor 30 Jahren verseucht wurden, wissen heute erst, dass sie eine Krankheit haben. Es ist ein Skandal, dass das Asbestproblem von Politik und Verwaltung nicht ernst genommen wird. Wenn man sich betrunken ans Steuer setzt, ist man selbst verantwortlich dafür, und wenn man raucht, hat man das selbst entschieden. Aber Asbest trifft Leute, die nichts getan haben. Ich konnte damals auch nicht wissen, dass ich von Asbest umgeben bin. Ich habe es mir zwar gedacht, aber es war doch unmöglich, aufgrund von Asbest eine Stelle abzulehnen und die Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen."
Immerhin: Es scheint sich etwas zu tun. Zum ersten Mal hat die Pariser Staatsanwaltschaft in dem Fall nun von sich aus Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung eingeleitet.