Gustav Mahler: Von der Böhmisch-Mährischen Höhe in die Welt
Am östlichen Rande des Kreises Vysočina, an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren, liegt die kleine Gemeinde Kaliště / Kalischt. Im dortigen Gasthaus ist der Komponist Gustav Mahler am 7. Juli 1860 zur Welt gekommen. Wie war die Beziehung dieses Kosmopoliten zu seiner Geburtsregion, der Böhmisch-Mährischen Höhe? Und wie haben sich die frühen musikalischen Eindrücke in seinen Kompositionen niedergeschlagen?
Gustav Mahler komponierte neun Symphonien und eine zehnte unvollendete. Außerdem schrieb er Lieder und Liedzyklen. Er war nicht nur einer der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik und Wegbereiter der Moderne, sondern machte auch eine Weltkarriere als Dirigent. Als Operndirigent war er unter anderem in Hamburg und New York tätig. Den Gipfel seiner Karriere erreichte er als erster Kapellmeister und Direktor der Wiener Hofoper in den Jahren 1897 bis 1907. Die Wurzeln des weltberühmten Musikers liegen in der Böhmisch-Mährischen Höhe.
Mahler entstammte einer jüdischen deutschsprachigen Familie. Sein Vater besaß einen Gasthof und eine Weinbrennerei in Kalischt. Kurz nach Gustavs Geburt übersiedelte die Familie nach Jihlava / Iglau, das rund 40 Kilometer entfernt von Kalischt liegt. Die mährische Stadt ist also eigentlich der wahre Ort seiner Kinderjahre, er lebte dort bis zu seinem 15. Geburtstag, ging dort zu seinem ersten Klavierunterricht und kam zum ersten Mal überhaupt mit Musik in Kontakt.
Der Musikwissenschaftler Jiří Štilec ist Professor an der Akademie der musischen Künste in Prag und Gründer der Bürgervereinigung Mahler 2000 – Gustav-Mahler-Gesellschaft. Wie war sein persönlicher Weg zu Mahlers Musik? Radio Prag International hat Štilec direkt in Kalischt dazu befragt:
„Ich habe Musikwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität studiert. Zuvor spielte ich Klavier und Gitarre, und nahm mein Studium dann in den 1970er Jahren auf. An der Universität gab es viele gute Lehrer. Ich erinnere mich vor allem an zwei von ihnen, Professor Vladimír Sommer und Professor Petr Eben. Vladimír Sommer war ein großer Liebhaber von Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch. Unter seinem Einfluss entstand meine Bewunderung für die Musik Mahlers. Und von Vladimír Sommer hörte ich auch von seinem Geburtstort in Kalischt bei Humpolec.“
Seine erste Begegnung mit der Musik Mahlers erfolgte aber bereits früher, in seiner Zeit am Gymnasium Ende der 1960er Jahre. Er habe das Adagietto aus der Fünften Symphonie gehört und gedacht, es sei eine großartige Musik und ein großartiger Komponist, sagt Štilec:
„Hingerissen haben mich die besondere Atmosphäre und zwei weitere Sachen: Mahlers Einfallsreichtum in der Melodik und seine Harmonien, die wirklich sehr eigenartig sind. Und auch sein Kompositionssystem, in dem sich – wie in einem Film – sehr kontrastvolle Stellen abwechseln, hat mich begeistert.“
Kalischt – Mekka für Mahler-Liebhaber
Jiří Štilec hat sich persönlich für die Instandsetzung des Geburtshauses Mahlers eingesetzt und sich dafür stark gemacht, dass dort ein Musikzentrum eingerichtet wird. Er selbst hat nach seinen eigenen Worten im Juli 1995 Kalischt zum ersten Mal besucht und den Gasthof damals in einem sehr erbärmlichen Zustand vorgefunden. Zehn Jahre habe es gedauert, bis der Ort wieder belebt wurde:
„Kalischt ist wichtig, weil es sein Geburtsort ist. Der Geburtsort ist für jede Person und jede Persönlichkeit von großer Bedeutung. Gustav Mahler wurde von dieser Gegend natürlich beeinflusst – aber nicht nur von diesem Dorf und seinen tschechischen Einwohnern, denn er zog ja mit seiner Familie in frühen Kinderjahren nach Iglau. Dort war er von Militärmusik und von Volksmusik, sowohl tschechischer als auch deutscher, umgeben. Und das war von großer Bedeutung für seine Symphonien. Einige Elemente der Militärmusik, militärische Signale, sind darin zu hören. Kalischt ist das Mekka für Menschen, die die Musik von Gustav Mahler lieben, nicht nur für Fachleute, sondern auch für weitere Musikliebhaber. Denn Gustav Mahler ist eine herausragende Persönlichkeit in der Geschichte der klassischen Musik.“
Der zweite große Verdienst der Gustav Mahler Gesellschaft ist neben der Rekonstruktion des Geburtshauses die Gründung des Musikfestivals „Musik der Tausenden – Mahler Jihlava“. Es findet alljährlich von Mai bis Juli in Iglau und an anderen Orten der Böhmisch-Mährischen Höhe, der Vysočina, aber auch Niederösterreichs statt:
„Im Fokus steht der Komponist Gustav Mahler. Er selbst ist sehr bekannt, so etwas wie ein Markenzeichen, ein hervorragender Komponist wie etwa Brahms, Strauss und andere. Nicht jeder weiß aber wohl, dass Gustav Mahler die ersten 15 Jahre seines Lebens eben hier verbrachte. 15 Jahre sind eine lange Zeit. Wir machen auf diese Etappe seines Lebens aufmerksam und verweisen darauf, wie die Musik von Gustav Mahler mit dieser Gegend verknüpft ist. Das ist der Hauptgrund, warum wir seit 2002 das Gustav Mahler Festival in Iglau und in der Region Vysočina veranstalten.“
Iglau – die Stadt der Kinderjahre Mahlers
Wie schon gesagt, war die deutschsprachige Familie Mahler jüdischen Glaubens. Gustav konvertierte 1897 zum Katholizismus und ließ sich gemeinsam mit seinen beiden Schwestern Justine und Emma in der Hamburger St. Ansgar-Kirche taufen:
„Seine Frau, Alma Mahler, schreibt in ihren Erinnerungen, dass ihm einige Ideen des Katholizismus, des katholischen Mystizismus, sehr nah waren. Aber er hatte dafür einen praktischen Grund. Er konvertierte in Hamburg zum Katholizismus, vor seiner Ernennung zum Leiter der Wiener Oper. Als Jude hätte er diese Stelle nicht bekommen können. Diese Religion stand ihm nah, aber die praktischen Gründe waren entscheidend.“
Mahler kam zwar in einer tschechischsprachigen Gemeinde in Böhmen zur Welt, Iglau war aber deutschsprachig. Manche Musikwissenschaftler diskutieren darüber, ob Mahler nur Deutsch oder auch etwas Tschechisch gesprochen habe, schildert Štilec:
„In jedem Fall sprach er Deutsch, seine Erziehung war eine deutsche. Zu seinen Tschechisch-Kenntnissen gibt es zwei Belege. Der erste bezieht sich auf die Oper Jenufa, deren Klavierauszug er von Leoš Janáček erhielt. In seiner Antwort an Janáček schrieb Mahler, er sei nicht imstande, die Sprache zu beurteilen, weil er kein Tschechisch spreche.“
In die Welt
Der zweite Beleg stammt vom Komponisten Josef Bohuslav Foerster, einem Freund Mahlers, mit dem er viel Zeit in Hamburg verbrachte. Er erinnerte sich in seinen Memoiren an einen Moment, den Štilec hervorhebt:
„Als Mahler den Klavierauszug zur Verkauften Braut erhalten habe, habe er die Übersetzung ins Deutsche korrigiert und gesagt, die vorliegende Übersetzung sei nicht gut, so Foerster. Das bedeutet, dass er wohl etwas Tschechisch verstand.“
Und wie war Mahlers Beziehung zu tschechischen Komponisten?
„Gustav Mahler hat am meisten Bedřich Smetana bewundert und aufgeführt –drei Opern von ihm und auch manche weitere Kompositionen. Interessant ist, dass Mahler bei mehr Opern von Smetana als von Verdi hinter dem Pult stand. Er dirigierte auch einige Werke von Antonín Dvořák, aber nicht so oft wie Smetana. Es gab Verhandlungen über die Aufführung von Rusalka an der Wiener Oper, aber nachdem Dvořák ablehnte, kam die Inszenierung zu Mahlers Zeiten nicht zustande.“
Mit 15 Jahren ging Mahler von Iglau zum Konservatorium nach Wien. In der österreichischen Hauptstadt verbrachte er mit Unterbrechungen die längste Zeit seines Lebens.
„Wien ist sehr mit ihm verbunden. Aber auch Hamburg und New York sind sehr wichtig. Und auch einige weitere Orte wie Prag, wo er eine Spielzeit tätig war. In Prag fand 1908 auch die Weltpremiere seiner Siebten Symphonie statt.“
Gustav Mahler sei ein kosmopolitischer Musiker gewesen, der von vielen Elementen beeinflusst worden sei, sagt der Musikwissenschaftler:
„Wie schon gesagt, war die Militärmusik sehr wichtig, die Volksmusik, die Wiener Einflüsse – viele Elemente kamen zusammen und vereinigten sich in seinen Symphonien. Es gab manchmal Vorwürfe gegen ihn, dass es zu viele waren. Aber eben dies macht die Musik von Gustav Mahler einzigartig und besonders.“
In Mahlers Geburtshaus in Kalischt findet sich heute eine Pension mit einem Restaurant. Im dortigen Saal werden gelegentlich Konzerte veranstaltet.
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