Hinterhalt im Wald: Theaterwanderung „Fingierte Grenzen“ zeigt perfide StB-Operation um 1950
Ein aufrüttelndes Theaterstück ist den Sommer über an der nordbayerisch-tschechischen Grenze zu erleben. Unter dem Titel „Fingierte Grenzen“ führt es in die Tschechoslowakei um 1950 zurück. Die Handlung dreht sich um ein tückisches Täuschungsmanöver des Geheimdienstes. Durch das Vorgaukeln einer falschen Grenze machte man Tschechoslowaken bei Fluchtversuchen glauben, sie befänden sich bereits im Westen, und lockte sie so in die Falle. Das Stück beruht auf Recherchen der Publizistin Václava Jandečková. Inszeniert hat es der Oberpfälzer Theaterverein Ovigo unter der Leitung von Florian Wein. Aufgeführt wird das Stück als Schauspiel-Wanderung an vier Schauplätzen der Geheimdienstfinte. Auch tschechische Theaterfreunde wirken mit, gespielt wird zweisprachig. Ein Besuch bei einer der Aufführungen.
Allmählich füllt sich der Parkplatz auf einer Wiese hinter dem oberfränkischen Grenzdorf Wildenau mit Autos. Die Staatsgrenze verläuft ein paar hundert Meter weiter quer durch ein Waldstück. Auf der anderen Seite liegt Aš / Asch. Es ist ein nahezu wolkenloser Sonntagnachmittag. Eine Vorahnung nächtlicher Gräueltaten legt sich über die friedliche Stimmung. Das ist die Erwartung, die das Stück „Fingierte Grenzen“ bei den herbeiströmenden Zuschauern weckt. Es behandelt ein teuflisches Verwirrspiel des kommunistischen Geheimdienstes am Beginn des Kalten Krieges. Dieses lief unter dem Decknamen „Aktion Kámen“, „Aktion Grenzstein“, und wurde von April 1948 bis Ende 1951 praktiziert. Schließlich ist alles bereit, die Aufführung kann beginnen. Zwei Gästeführer begrüßen die Zuschauer, die am Waldrand im Halbkreis um sie stehen.
„Herzlich willkommen zu Ovigo, Theaterzeitreise ‚Fingierte Grenzen‘, auf den Spuren der Aktion Kámen. Mein Name ist Manuel, und ich darf Sie heute zur Wanderung zu einer der falschen Grenzen begleiten.“
„Auch von mir ein herzliches Willkommen zu unserer Zeitreise. Mein Name ist Andrea. Wir reisen heute zusammen in die Vergangenheit des tschechisch-bayerischen Grenzgebietes und erkunden Verbrechen, die damals unter strengster Geheimhaltung geschahen. Die Geschichten, um die es heute geht, sind vor rund 70 Jahren in der Tschechoslowakei tatsächlich geschehen.“
Die Grenze bei Wildenau ist einer der Orte, an dem die Aktion Kámen laut den Recherchen der Privatforscherin und Publizistin Václava Jandečková stattfand. Premiere hatte „Fingierte Grenzen“ im Juni an einem anderen historischen Schauplatz, an der Grenze zwischen Bärnau und Tachov / Tachau. Außerdem wird das Stück noch zwischen Waldsassen und Cheb-Svatý Kříž / Eger-Heiligenstadt sowie Stadlern und Bělá nad Radbuzou / Weißensulz gespielt. Aufgabe der Gästeführer ist es, die Zuschauer auf der Schauspiel-Route nach Tschechien und zurück zu begleiten und sie mit Hintergrundwissen zu versorgen. Gleich eingangs wird mit drastischen Worten Spannung aufgebaut.
„Unmittelbar nach dem kommunistischen Staatsstreich im Februar 1948 hat die kommunistische Staatssicherheit StB eine Reihe von Maßnahmen entwickelt, von deren Wirksamkeit selbst die Organisatoren verblüfft sein sollten. Vorgetäuschte Grenzschranken, falsche deutsche Zollhäuser und angebliche amerikanische Offiziere schossen wie Pilze aus dem Boden. Doch was genau passierte eigentlich an diesen falschen Grenzen?“, so Manuel Jurk.
Und Andrea Fischer ergänzt:
„An fingierten Grenzen gaukelte man Flüchtlingen vor, sie befänden sich in einer amerikanischen Besatzungszone, auf deutschem Gebiet. Sie könnten nun frei sprechen. Den totalitären Staat hätten sie ja nun hinter sich gelassen. Endlich sicher! Endlich sicher?“
Wahre Fälle
Die rhetorischen Fragen der Einleitung sind begründet. Denn die Aktion Kámen ist bei Weitem noch nicht systematisch erforscht. Viele Sachverhalte sind unaufgeklärt. Für die Theatermacher von Ovigo ist dies kein Hindernis. Ihr Stück stützt sich auf jene Fälle des geheimdienstlichen Täuschungsmanövers, die Autorin Václava Jandečková rekonstruiert hat. Und beim Theaterspielen darf sich ohnedies die Vorstellungskraft frei entfalten. Bereits beim historisch ältesten Fall stellt das Stück das Muster heraus, nach dem das ruchlose Verwirrspiel gestrickt war. Gästeführer Manuel Jurk führt in die Geschichte ein:
„Die ersten vier Opfer, die Familie des Fabrikanten Jan Prošvic, wurden von Fähnrich Stanislav Liška als falscher Schleuser am 23. April 1948 geführt. Auf Befehl hatte Liška die Familie nach Neumark (tschechisch Všeruby, Anm. d. Red.) transportieren lassen und dann zu Fuß an den falschen Schlagbaum geführt. Die Untergebenen von Liška mussten auf der anderen Seite des Schlagbaums nur noch auf die Familie warten, sie abfangen und zum falschen Zollhaus bringen. Diese erste Operation, der Start der Aktion Kámen, hatte den Decknamen ‚Johnny‘.“
Die Fluchtwilligen wurden demnach noch auf tschechischem Gebiet, dicht an der wirklichen Grenze, von Kräften des Staatssicherheitsdienstes gestellt. Im guten Glauben, dass sie bereits im Westen wären, packten sie bei der anschließenden Befragung ahnungslos aus. Doch diese war ebenfalls fingiert. Damit lieferten die Flüchtlinge dem Staatssicherheitsdienst belastendes Material gegen sich und andere Personen. Danach wurden sie festgenommen. Eine Episode des Fluchtversuchs der Familie Prošvic wird im Stück szenisch dargestellt. Plötzlich sind im Wald Stimmen zu hören, zwischen den Bäumen tauchen zwei Figuren auf. Sie nähern sich einem Schlagbaum, der eigens für das Stück errichtet worden ist. Der Fabrikant Prošvic, im Wintermantel und mit Reisekoffern, folgt dem falschen Schleuser Liška. Prošvic wird von René Milfait in Tschechisch gespielt, mit einigen eingestreuten deutschen Brocken, den Liška spielt der Schriftsteller und Märchenerzähler Oliver Machander in Deutsch.
„Gehen Sie! Wir haben es ja fast geschafft! Da vorne, hinter dieser Schranke, Herr Prošvic, da beginnt Bayern. – Pane praporčíku, zachránil jste mě. Je-li za touto závorou Bavorsko, Bayern, řeknu německým celníkům všechno, co mi radíte. – Gut, Herr Prošvic, jetzt passen Sie mal auf. Es wird schon noch ein Weilchen dauern, ja? Sie werden wahrscheinlich drüben von den Zollbeamten auch in ein Zollhaus geführt werden, ja?“
Zweisprachig wird das ganze Stück hindurch geredet. Damit alle Gäste den Text verstehen können, setzt Ovigo dabei eine Echo-Technik ein. Wichtige Inhalte werden vom Dialogpartner in der jeweils anderen Sprache wiederholt. Die sinnlichen Eindrücke helfen ebenfalls, und tschechische Besucher können Audio-Guides nutzen. An den Plätzen entlang der Wanderroute, auf denen gespielt wird, ist mit einfachen Requisiten ein Szenenbild umrissen: ein Tisch mit Karteikasten und Stempel, eine flatternde US-Fahne oder ein Schlagbaum.
Für den falschen Schleuser Liška läuft es in „Fingierte Grenzen“ nicht rund. Denn plötzlich kreuzt Gästeführerin Andrea bei ihm auf. Manuel drückt den Knopf der Zeitreise-Maschine, der Pfeifton versetzt die Gästeführerin und die Zuschauer fiktiv in das Jahr 1948 zurück, und sie geht Liška vehement an. In der folgenden Szene sprechen abwechselnd die Gästeführerin und Fähnrich Liška:
„(Pfeifton der Zeitreise-Maschine) Was machen Sie denn? Das ist hier überhaupt keine Staatsgrenze? – Um Gottes Willen, wo kommen Sie denn her? Sind Sie verrückt, hier herumzulaufen, ha? – Ich habe jetzt zuerst gefragt. Wo haben Sie diesen Mann hingeführt? – Ich stelle hier die Fragen, ja? Sie befinden sich hier in der Grenzzone. Zutritt streng verboten! Wie lange stehen Sie denn überhaupt hier schon herum? – Das tut überhaupt nichts zur Sache! Warum haben Sie diesen Mann betrogen? – Ich? – Ja, Sie! – Das geht Sie ja wohl überhaupt gar nichts an, ja? – Sie benehmen sich wie ein Schwerverbrecher! Sie hätten ihn doch retten können oder zumindest warnen! – Ach, Sie! Sie verstehen das alles überhaupt nicht. Denken Sie etwa, mir liegt nichts an meinem Leben? Ich stand die ganze Zeit unter strengster Kontrolle. Die Staatssicherheit, die hat hier über…, die hat hier überall ihre Leute.“
Moralischer Anspruch
Der moralische Anspruch, der sich in dieser Szene ausdrückt, trägt das Stück. Durch den Wechsel von erzählter Geschichte und nachgestellten Episoden pendelt „Fingierte Grenzen“ zwischen Tatsachenbericht und Fiktion. Fakten und Zitate aus Archivquellen kontrastieren mit effektvollen Schauspielszenen. Viele der Darsteller hat der Theaterverein Ovigo von anderen Gruppen der Region angeworben. So können die über 30 Vorstellungen besetzt werden. Mehrfachbesetzungen und wechselnde Darsteller sind dabei die Regel. Für Ovigo sei das eine Herausforderung gewesen, sagt Maria Oberleitner. Sie ist Florian Wein als Co-Regisseurin der Inszenierung zur Seite gestanden.
„Wir haben bisher nur mit unserem eigenen Ensemble gespielt und jetzt aus ganz vielen Oberpfälzer und oberfränkischen Theatervereinen Leute rekrutiert sowie auch Tschechen, die nun bei uns mitspielen. Die Suche nach den Tschechen hat sich schwer gestaltet. Wir haben sehr viel telefoniert und sehr viele E-Mails geschrieben. Aber jetzt haben wir ein paar sehr begeisterte Leute an Bord, und die Zusammenarbeit macht sehr viel Spaß“, so Oberleitner.
Einer der tschechischen Darsteller ist der bereits erwähnte René Milfait, der unter anderem Jan Prošvic verkörpert. Milfait spielt sonst nicht Theater. Wie auch Autorin Jandečková ist er Vorstandsmitglied der privaten „Gesellschaft zur Erforschung der Verbrechen des Kommunismus“, die ihren Sitz in Plzeň / Pilsen hat. Beruflich befasst sich René Milfait mit Ethik, Menschenrechten und Pädagogik. Beim Stück „Fingierte Grenzen“ mache er aus innerer Überzeugung mit, sagt Milfait:
„Ich glaube, der Mensch muss eine spirituell-ethisch-rechtliche Quelle darstellen. Und man muss die Kunst verstehen und sich in die Rolle hineinversetzen. Außerdem musste ich bis zu meinem 23. Lebensjahr selbst in dem System leben und habe dort auch so Manches erfahren. Beim Wehrdienst gab es zum Beispiel ähnliche Situationen wie in diesem Stück.“
Auch Gästeführer Andrea Fischer und Manuel Jurk können dem Theaterprojekt „Fingierte Grenzen“ viel Positives abgewinnen. Beide gehören der Schauspiel-Gesellschaft Australia in Selb an. Besonders beeindruckt sie…
„…dass hier einmal nicht nur die Deutschen immer so hingestellt werden, wie wenn sie immer die Bösen sind, sondern dass die Tschechen – ihre eigenen Leute – einfach auch nicht besser waren“, so Andrea Fischer.
Und Manuel Jurk:
„Vor allem, dass man gar nicht vor Augen hatte, was damals wirklich an den Grenzen passiert ist. Das jetzt so hautnah zu sehen, ist schon sehr interessant. Also ein sehr interessantes Stück, deswegen hat es uns angesprochen, sodass wir uns bereiterklärt haben, durch es zu führen.“
Wie sich Werte zersetzen
Ein anderer Handlungsstrang des Stücks stellt den Fall von Marie Štěrbová dar. Sie war im antikommunistischen Widerstand aktiv. An ihrem Beispiel zeigt das Stück „Fingierte Grenzen“ eindrucksvoll auf, wie zersetzend sich staatlich gutgeheißene Charakterlosigkeit auf menschliche Grundwerte auswirkt. Marie hat volles Vertrauen zu ihrer Freundin Eva. Doch Eva ist ein Spitzel. Sie überredet Marie zu einem Fluchtversuch und treibt sie dem Geheimdienst in die Arme. In der folgenden, leicht gekürzten Episode verschmelzen die Zeitebenen wieder. Marie erklärt sich den Gästeführern, die sie vor Eva gewarnt haben:
„In dieser Welt kann man sich leider nur auf Verwandte oder Freunde verlassen. Am besten, Sie merken sich das auch gleich. Also, ich vertrau‘ meiner Freundin. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Bald werden wir in einer Welt leben, die glücklich und frei ist. Konečně šťastný a svobodný svět. – Na ja, dann bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als Ihnen die Daumen zu drücken. Aber bitte, bitte, seien Sie vorsichtig. – Zweite Ebene (Pfeifton). – Marie Štěrbová tappte in die Falle. Sie schöpfte keinen Verdacht.“
Den Charakter der Štěrbová spielt Martina Saller von Ovigo. Die Geschichten des Stücks würden sie bewegen, sagt die begeisterte Darstellerin:
„Dass diese Schicksale wirklich stattgefunden haben, das ergreift einen schon, und man ist froh, dass diese Zeiten vorbei sind.“
Ihre Partnerin in mehreren Szenen ist Pavla Hošková. Sie spielt die Geheimdienst-Kollaborateurin Eva, und zwar in Tschechisch. Hošková unterrichtet darstellende Kunst in Aš und ist selbst eine erfolgreiche Theatermacherin. Über ihre Motivation sagt die Schauspielerin:
„Mein Großvater hat Flüchtlinge über die Grenze geführt. Und er saß deswegen im Gefängnis. Also interessiert mich das Stück auch aus persönlichen Gründen.“
Nach gut zwei Stunden Wanderung, angereichert mit spannenden Episoden vor der natürlichen Kulisse des Waldes und viel erzähltem Hintergrundwissen, endet die Aufführung wieder beim Ausgangspunkt auf der Wiese bei Wildenau. Co-Regisseurin Maria Oberleitner blickt auf die gewaltigen Anstrengungen des Teams von Ovigo bei der Vorbereitung des Theaterereignisses zurück.
„Die erste Textfassung kam direkt von Václava Jandečková. Die Szenen standen eigentlich schon, aber der Text der Gästeführer wäre sehr lang gewesen. Wir haben dann diese Ebenen eingebaut, auf denen die Schauspieler beispielsweise aus Protokollen von Verhören lebendig erzählen können. Die Zweisprachigkeit umzusetzen, das hat eine Weile gedauert. Wir haben, glaube ich, tatsächlich ein halbes Jahr an dem Manuskript gearbeitet.“
Der Schauspiel-Wanderung hat sich an diesem Sonntagnachmittag auch Daniel Mašlár angeschlossen, der Bürgermeister von Hranice / Roßbach. Er sei erst vor kurzem durch eine Ausstellung von Autorin Jandečková auf die Aktion Kámen aufmerksam geworden, sagt Mašlár. Der große Zuspruch freue ihn…
„Es ist toll, dass die Sache auf diese Art unter die Leute gebracht wird. Die Menschen erschließen sich die Informationen nicht selbst, das geht auch mir so. Daher ist es gut, dass ihnen die Sache hier mit allen Mitteln eingetrichtert wird“, findet Bürgermeister Mašlár.