Eine Grenze, die keine war: Tschechisch-deutsches Theaterprojekt untersucht Operation „Kámen“
Die Operation Kámen war eine der perfidesten Maßnahmen des tschechoslowakischen Geheimdienstes, um Informationen aus Regimegegnern herauszubekommen. Nach 1948 wurden einige Menschen zum Weggang nach Westdeutschland bewegt. Ein Schleuser brachte sie zur grünen Grenze. Nach einem Marsch durch den Wald stießen die Menschen auf ein Grenzhäuschen. Scheinbar standen dort US-amerikanische Beamte. Sie fragten die Flüchtlinge über ihre Tätigkeiten gegen das Regime und ihre Komplizen in der Tschechoslowakei aus. Später jedoch mussten die Menschen feststellen, dass sie Deutschland nie erreicht hatten.
Die Zollstation war lediglich inszeniert worden, und die Menschen wurden in Wirklichkeit von der tschechoslowakischen Staatssicherheit verhört. Die Geheimpolizei nahm die Flüchtlinge fest. In anderen Fällen wurden die Betroffenen aber auch laufen gelassen, oder ihr Antrag auf Aysl wurde von den vermeintlichen US-Amerikanern „abgewiesen“. Sie erfuhren erst viel später, welches Spiel mit ihnen gespielt worden war.
Die Operation Kámen erlebbar macht in diesem Sommer ein Stück des Ovigo-Theaters. Unter dem Titel „Fingierte Grenzen. Auf den Spuren der Aktion ‚Kámen‘“ finden an vier Standorten jeweils acht Theaterwanderungen zu den Originalschauplätzen statt. Florian Wein ist Regisseur des Stückes und gehört zum Vorstand des Ovigo-Theatervereins. Im Interview für Radio Prag International spricht er über die Inszenierung.
Herr Wein, wie ist es dazu gekommen, dass Sie die Operation Kámen in einem Theaterstück verarbeitet haben?
„Das Ganze hat eine sehr lange Vorgeschichte, denn wir hatten vor zwei Jahren die ersten Gedanken dazu. Die Autorin, Václava Jandečková, hat auch einige dokumentarische Bücher zu dem Thema geschrieben. Sie hatte eine Ausstellung über die Aktion Kámen bei uns in der Gegend. Wir kamen ins Gespräch, weil diese Geheimoperation in Deutschland total unbekannt ist, obwohl sie damals direkt vor unserer Nase passierte. Die Originalschauplätze der damaligen Aktion sind teilweise auch heute noch zu sehen. Zuerst wollten wir uns nur informieren. Dann kam die Idee, daraus eine ‚Zeitreise‘ zu machen. So heißen unsere geführten Schauspielwanderungen. Als erstes dachten wir uns, wir planen eine Route und gehen das Ganze dann mit den Zuschauern ab. Dann sind uns noch mehr mögliche Orte in den Sinn gekommen. Aus einem Schauplatz sind zunächst zwei, dann drei und letztlich sogar vier geworden. Irgendwann wurde uns klar, dass wir das Projekt zweisprachig gestalten und mit tschechischen Theaterkollegen zusammenarbeiten wollen. So ist das Projekt immer weiter gewachsen und schließlich zu dem geworden, was es jetzt ist.“
Sie haben gerade schon die Schauplätze erwähnt. Was ist denn noch übrig von den ehemaligen, gefälschten Grenzen?
„Václava Jandečková hat herausgefunden, wo sich die falschen Grenzschranken befanden. Das waren die Orte, an denen die bayerische Grenze gefakt wurde. Es gab dort auch falsche deutsche Zollhäuser. In diesen wurden einige Räume als Büros des amerikanischen Nachrichtendienstes ausgegeben. Es gibt am Grenzübergang Waldsassen / Svatý Kříž ein altes Gebäude, das früher das falsche Zollhaus war. Heute ist es ein Kasino. Eine Theateroute führt direkt dorthin. Es läuft einem eiskalt den Rücken herunter, wenn man an dem Gebäude vorbeiläuft und erfährt, was dort wirklich passiert ist.“
Wie sah die Zusammenarbeit mit Václava Jandečková konkret aus? Sie hat das Stück geschrieben, aber hatten Sie auch während der Arbeit an der Inszenierung miteinander zu tun?
„Wir waren während der letzten zwei Jahre ständig in Kontakt. Zuerst haben wir uns Gedanken gemacht, wie das Stück aussehen könnte. Dann konnten wir Václava Jandečková dazu überreden, uns ein Stück zu schreiben. Sie ist ja eigentlich keine Autorin von Theatertexten, es hat aber dennoch sehr gut funktioniert. Sie hat das Drama verfasst und wir haben den Text dann übersetzen lassen. Wir mussten im Laufe der Zeit auch immer wieder Sachen anpassen. Die Gegebenheiten verlangten mitunter, dass wir eine Szene umschreiben mussten. Wir haben aber nicht nur Szenen gekürzt, sondern etwa auch festgestellt, dass in manchen Szenen noch ein männlicher Schauspieler gebraucht wird – oder anderswo sogar weniger Schauspieler, weil es logistisch sonst nicht zu meistern wäre. Man muss bedenken, dass jeder Schauspieler mehrere Rollen spielt. Alle Personen müssen irgendwie von A nach B kommen. Václava Jandečková hat uns auch bei den Kostümen geholfen. Die sollten authentisch und historisch korrekt sein. Sie hat sehr detailliert nachgeforscht und verschiedene Aufzeichnungen und Bilder aufgetrieben. Das war eine riesengroße Arbeit, die für uns extrem hilfreich war, weil wir nie ein Theaterstück zu dieser Zeit oder diesem Thema gemacht haben.“
Ist es das erste tschechisch-deutsche Stück, das Sie inszenieren, oder gab es so etwas schon einmal?
„Wir wollten so etwas schon seit langem machen, weil wir oft mit Produktionen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet unterwegs sind, aber noch gar keinen Kontakt zu unseren Theaterkollegen auf der anderen Seite der Grenze hatten. Das ist sehr schade. Man lebt ja so nah beieinander! Und jetzt hatten wir die Chance mit diesem spannenden Thema.“
Sie haben gesagt, dass das Stück auf Deutsch und auf Tschechisch gespielt wird. Wie sieht das konkret aus?
„Beide Sprachen kommen in dem Stück vor. Einige einleitende Worte des Gästeführers gibt es nur auf Deutsch. Die tschechischsprachigen Besucher bekommen dabei einen Audioguide an die Hand, um alles eins zu eins zu verstehen. Die Schauspielszenen sind für alle verständlich – auch wenn man nur Deutsch oder Tschechisch kann. Es werden etwa gewisse Schlüsselwörter in der anderen Sprache wiederholt. Das funktioniert wie in einem Film, wenn eine Figur telefoniert und der Schauspieler gewisse Inhalte des gedachten Gesprächspartners wiedergibt. Es klingt nicht gestellt, man weiß aber, was der andere gesagt hat. Ein wichtiges Mittel beim Theater ist natürlich auch das Schauspiel. Man muss nicht immer alles verstehen, um mitzubekommen, was in einer Figur gerade emotional vorgeht.“
Wie haben denn die Proben vor Ort ausgesehen? Es ist sicher recht kompliziert, mit einer Schauspielgruppe an vier verschiedene Orte zu reisen, diese zu erkunden und dort zu proben?
„Ja, das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Wir sind eigentlich noch ganz am Anfang, auch wenn am 4. Juni schon die Premiere ist. Wir gehen sukzessive vor. Angefangen haben wir mit Bärnau als erstem Standort. Parallel mussten wir schon in Selb proben, damit die Darsteller dort genügend Durchgänge haben. Die Premiere in Selb findet am 19. Juni statt. Schon bald danach folgen die Vorstellungen in Waldsassen und Stadlern. Wir können uns nicht vierteilen und müssen das Stück gestaffelt proben. Verschiedene Schauspieler sind für die einzelnen Szenen eingeteilt. Leider schaffen wir es nicht, chronologisch zu proben. Aber wir haben uns ein Golfauto geleistet! Das bringt uns von einem Ort zum anderen. Wir würden sonst sehr viel Zeit auf der Route verlieren. Es ist für uns wichtig, immer am Originalschauplatz zu proben, wo dann auch die Vorstellung stattfinden wird.“
Das ist eine lustige Vorstellung, wie sie – vielleicht noch kostümiert – mit dem Golfcart durchs Grenzgebiet fahren…
„Ja! Teilweise sind bis zu acht Leute an Bord. Sie sitzen drin oder auf dem Mobil, oder sie hängen sich daran. Das klappt aber sehr gut! Das Fahrzeug ist elektrobetrieben und fährt über Stock und Stein. Es hat uns schon treue Dienste geleistet.“
Worin unterscheidet sich „Fingierte Grenzen“ von andern Ovigo-Produktionen?
„Für uns ist dieses Stück etwas komplett Neues – vor allem wegen der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit. Die funktioniert sehr gut. Das haben wir uns zwar erhofft, aber nicht wirklich daran geglaubt. Das Schönste bei solchen Projekten ist, mit wieviel Herzblut die Leute bei der Sache sind, wodurch die Geschichten zum Leben erwachen. Aus einem reinen Text werden Personen mit Emotionen. Das ist zwar prinzipiell bei jedem gelungenen Theaterstück so, bei ‚Fingierte Grenzen‘ aber noch mehr, denn es handelt sich um echte Geschichten. Teilweise leben die Opfer noch. Auch die Angehörigen sind uns sehr dankbar, dass wir das Thema aufgreifen.“
Kommen die Opfer oder Angehörigen auch bei den Vorstellungen vorbei?
„Ja, sie haben sich teilweise schon angemeldet. Ein Mann etwa, ein Opfer von damals, hat uns mitgeteilt, dass er es zumindest versuchen möchte. Es könne aber sein, dass ihn das Stück emotional zu sehr mitnimmt und er während der Vorstellung gehen muss. Grundsätzlich sind wir sehr dankbar, dass wir das Ganze machen. Bei unserem offiziellen Auftaktevent im Badehaus Maiersreuth in der Nähe der Grenze wird auch die Tochter eines Opfers anwesend sein. Wir spielen in einer Szene nach, wie ihr Vater vom Regime hereingelegt wurde, und sind schon sehr gespannt auf ihre Reaktionen. Für uns ist das etwas komplett Neues – bisher hatten wir die echten Akteure der Stücke nie mit dabei.“
Das Staatsschauspiel Dresden hatte ja bereits ein Stück zu dem Thema. Das Ganze vor Ort zu machen, ist aber natürlich noch einmal etwas Anderes…
„Ursprünglich war unsere Idee, die Inszenierung aus Dresden zu nutzen. Die Idee zu wandern, hatten wir da noch nicht. Es war aber ein Ein-Personen-Stück und eher für die Bedürfnisse des Staatsschauspiels zugeschnitten. Für uns ist es ideal, das Stück an den Schauplätzen zu spielen, da das Ovigo-Theater ja direkt in der Nähe ist. Deswegen sind wir sehr bald dieser neuen Idee nachgegangen, und damit sind wir auch sehr glücklich.“
Für die Vorführung von „Fingierte Grenzen. Auf den Spuren der Aktion ‚Kámen‘“ sind noch wenige Restkarten erhältlich. Die Inszenierung wird an den vier Standorten zwischen dem 4. Juni und dem 4. September gezeigt. Die Wanderstrecken, die im Rahmen der Vorführung zurückgelegt werden, sind zwei bis vier Kilometer lang und nicht barrierefrei. Weitere Informationen zum Ticketkauf, den Terminen sowie den Wanderrouten finden sich auf der Webseite der Schauspieltruppe unter www.ovigo-theater.de.