Inga aus dem ukrainischen Charkiw: Zuflucht in Tschechien, unklare Zukunft in der Heimat

Charkiw

Am Samstag jährt sich zum zweiten Mal die Invasion Russlands in die Ukraine zum zweiten Mal. Für viele Geflüchtete, die in Tschechien Hilfe gefunden haben, hat sich die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat nicht erfüllt. Zu ihnen gehört auch Inga. Zusammen mit ihren beiden Söhnen lebt und arbeitet sie in Mariánské Lázně / Marienbad. Ob sie eine Zukunft in der Ukraine hat, weiß sie nicht.

„Für mich sind diese zwei Jahre ein schrecklicher Traum. Die ganze Zeit warte ich darauf, dass ich aufwache – dass alles vorbei ist und das Leben wieder zu dem Augenblick zurückkehrt, bevor der Krieg begonnen hat.“

Inga stammt aus Charkiw, ganz im Osten der Ukraine. Sie ist eine der 383.047 Geflüchteten, die in Tschechien mit einem vorübergehenden Schutzstatus registriert sind (Stand 11. Februar). Wie Inga im Interview für Radio Prag International schildert, ist ihr der Tag des Angriffs auf ihr Heimatland immer noch in genauer Erinnerung:

„Mein Mann und ich wachten auf, und ehrlich gesagt wussten wir nicht, was wir tun oder wohin wir fliehen sollten. Wir leben in Saltivka im Norden von Charkiw, was sehr nah an der Grenze zu Russland ist. Wir beobachteten, wie die Raketen in unsere Richtung flogen, sahen Häuser und Tankstellen brennen. Einen Monat lang blieben wir noch in Charkiw. Die Schrecken dieser Zeit dauern für mich bis heute an. Bei lauten Geräuschen beginne ich immer zu zittern. Denn damals flogen ständig die Raketen über unsere Köpfe hinweg, und dauernd fielen Schüsse.“

Charkiw | Foto: Martin Dorazín,  Tschechischer Rundfunk

Inga hat zwei Söhne. Der jüngere, Ilja, war zum Zeitpunkt des Überfalls neun Jahre alt. Weder er noch sein Bruder hätten damals Angst gezeigt, lobt die Mutter. Charkiw liegt nur 50 Kilometer von der Grenze nach Russland entfernt. Warnsirenen habe es zu Kriegsbeginn noch nicht gegeben, so Inga, und Strom, Gas und Wasser seien abgestellt worden:

„In diesem ersten Monat des Krieges habe ich praktisch nicht geschlafen. Immer habe ich gewartet, ob es Explosionen gibt. Und wenn sie begannen, nahm ich die Kinder und versteckte mich mit ihnen im Flur. Als der Krieg begann, waren draußen minus 20 Grad. Fast sofort wurde uns die Heizung abgestellt, und wir schliefen dick angezogen. Der Tag, als unser Haus getroffen wurde, war die Hölle. Überall um uns herum gab es Explosionen und zersplitterndes Glas. Ich saß mit den Kindern im Treppenhaus, betete und las dem Jüngeren aus dem Buch ‚Der Zauberer der Smaragdenstadt‘ vor.“

An diesem Tag beschlossen Ingas Eltern, dass sie und die Kinder das Land verlassen sollten. Sie selbst seien aber in Charkiw geblieben, fügt die Frau hinzu. Den Angriff auf ihr Wohnhaus bezeichnet sie als einen der schrecklichsten Momente in ihrem Leben:

Geflüchtete aus der Ukraine vor dem Arbeitsamt | Foto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

„Die Explosionen waren sehr nah, und wir hörten, wie die Fenster im Nachbarhaus herausflogen. Dann passierte das auch in unserem Haus, weil das Dach getroffen wurde. Es hat neun Etagen, und es wankte, als wäre es eine Holzhütte. Das ganze Gebäude bewegte sich wie bei einem Erdbeben.“

In Tschechien angekommen, fand Inga eine Unterkunft in Marienbad. Mütter mit Kindern machten vor allem in den ersten Kriegsmonaten den allergrößten Teil der Flüchtlinge aus. Derzeit leben hierzulande fast 181.000 weibliche Geflüchtete ab 18 Jahren sowie 98.000 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. Und weiter berichtet Inga:

„Wir danken der Tschechischen Republik für die Hilfe. In den ersten 150 Tagen wurde uns kostenlos eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Während dieser Zeit ist es mir auch gelungen, eine Arbeit zu finden. Mein älterer Sohn ist schon über 18 und muss für seine eigene Wohnung aufkommen. Er studiert an der Universität von Charkiw. Außerdem geht er arbeiten, denn ich muss meine Miete selbst zahlen und habe für ihn kein Geld übrig. Mein jüngerer Sohn nimmt am Unterricht sowohl an einer ukrainischen als auch an einer tschechischen Schule teil.“

Ob sie und ihre Söhne nur bis Kriegsende in Tschechien bleiben werden oder noch länger, weiß Inga nicht. Die Lage in Charkiw verfolgt sie jedenfalls genau:

Ukrainische Kinder in der Schule in der Tschechischen Republik | Illustrationsfoto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

„Mein Mann ist immer noch in der Ukraine und kann sie nicht verlassen. Ich habe Angst, etwas zu planen. Denn es ist unklar, wann der Krieg endet und wie. Wir wissen nicht, wie die Lage in der Ukraine nach dem Ende des Krieges sein wird. Unsere Wohnung in Charkiw ist unbeschädigt – zumindest bis jetzt, denn erst vor kurzem gab es in unserer Gegend erneut Angriffe, bei denen Menschen starben. Viele Flüchtlinge sind schon wieder nach Charkiw zurückgekehrt, weil die Hilfe für Ukrainer in zahlreichen Ländern langsam eingeschränkt wird. Darum haben die Leute keine Möglichkeit mehr, anderswo zu leben als in ihrem Zuhause. In unserem Wohnhaus sind schon wieder 70 Prozent der Wohnungen belegt.“

Bisher ist Inga froh, dass sie und ihre Söhne Zuflucht in Tschechien gefunden haben und hier in Sicherheit leben können. Eine dauerhafte Rückkehr in die Ukraine erwägt sie derzeit nicht…

„Nicht bevor der Krieg endet. Obwohl es in Charkiw jetzt auch Luftschutzbunker gibt, kann man sich so nah an der Grenze zu Russland absolut nicht sicher fühlen, vor allem nicht mit Kindern. Überall liegen nicht explodierte Granaten, es wurde auch scharfe Streumunition gefunden. Versuchen Sie mal, Kinder davon zu überzeugen, solche Sachen nicht in die Hand zu nehmen. Und in den Wäldern hängen Stromleitungen herunter. Es wäre für mich furchtbar, in so ein Land zurückkehren zu müssen.“

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Autoren: Daniela Honigmann , Alla Větrovcová
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