Ist Prag bei Regenwetter trist? Paul Jeute und sein Buch „Solche Orte“

Blick auf Prag aus Klementinum

Paul Jeute reist viel. Und er macht sich dabei Notizen. Was dem gebürtigen Dresdener alles durch den Kopf geht, wenn er in Mittel- und Osteuropa – also zum Beispiel in Tschechien – unterwegs ist, kann man nun in seinem Buch „Solche Orte. Möglichkeiten einer Reise“ nachlesen. Warum er darin etwa über den Prager Park Židovské péce oder die Kneipe „Zum ausgeschossenen Auge“ im Stadtteil Žižkov schreibt, waren nur einige der Fragen, die wir dem Autor im Interview gestellt hat.

Paul Jeute liest die ersten Sätze seines Buches „Solche Orte“. Sie stimmen ein auf das, was auf fast 130 Seiten folgt: ein beständiges Unterwegssein und Reflektieren über das, was Jeute auf seinen Fahrten durch Mittel- und Osteuropa begegnet. Die führen vor allem immer wieder nach Rumänien, aber auch nach Tschechien, Polen oder in die Slowakei. Immer habe er sich dabei Notizen gemacht und diese nun zu einem Band zusammengefasst, sagt der Autor im Interview mit Radio Prag International:

Paul Jeute,  'Solche Orte' | Foto: Verlag Trottoir noir

„Wenn ich mich mit Leuten unterhalte, dann sagen sie oft, sie wären ja auch schon einmal in der Slowakei oder in Tschechien gewesen. Damit meinen sie aber eigentlich immer Bratislava oder Prag, und bei Rumänien meinen sie Bukarest. Dabei gibt es noch sehr viel mehr. Überall auf der Welt finden sich einfach fantastische, skurrile und interessante oder ganz langweilige und deswegen wieder interessante Orte. Wenn man sich darauf einlässt, kann man dort etwas finden und für sich herausholen. Auch darum geht es in diesem Buch.“

Er habe sich die Zeit für solche Orte genommen, so der 42-Jährige. Die literarische Verarbeitung dieser Reisen ist nicht die erste, die unter Jeutes Namen oder auch seinem Pseudonym Micul Dejun erschienen ist. 2013 etwa kam eine Stadtgeschichte von Bukarest heraus oder 2018 ein Reisebericht aus China. Und wie nun „Solche Orte“ zeigt, kennt sich Jeute auch in Tschechien ganz gut aus. Ein entsprechendes Kapitel wurde von Jiří Olišar sogar für eine Lesung in Zittau ins Tschechische übersetzt.

Authentische Orte oder was man dafür hält

Paul Jeute | Foto: Magdalena Menzinger

Nicht immer ist die Auswahl der im Buch beschriebenen Orte zufällig. Aber egal, ob es sich um das eigentliche Reiseziel oder um Zwischenstopps handelt – die Texte schreibe er in erster Linie für sich selbst, schildert Jeute. Es gehe ihm nicht darum, den Lesern bestimmte Städte oder Länder näherzubringen:

„Mich interessiert viel eher, was mich im Positiven wie im Negativen fasziniert an solchen Orten, die kein Mensch kennt – oder die wiederum alle kennen. Was ist das Interessante an Prag? Oder ist Prag vielleicht, wie es an einer Stelle heißt, bei Regenwetter genauso trist wie jede Großstadt in Europa?“

Das sind wohl zumindest einige Viertel der Stadt tatsächlich. Und Jeute dürfte das wissen, denn er war nicht nur oft zu Besuch in Prag. Vor fast 20 Jahren hat er eine Weile dort studiert und ein Praktikum bei der Prager Zeitung gemacht – einem deutschsprachigen Wochenblatt, das es seit ein paar Jahren leider nicht mehr gibt. Was es aber immer noch gibt, ist die Kneipe „U Vystřelenýho oka“ (Zum ausgeschossenen Auge) im Stadtteil Žižkov. In „Solche Orte“ ist davon zu lesen, wie sich Jeute dort nach Jahren mit einem alten Freund trifft. Das „Auge“ ist eine Institution von Prag und findet öfter Eingang in die Literatur. So kommt etwa auch Jaroslav Rudiš in seinem Buch „Weihnachten in Prag“ nicht daran vorbei. Dazu Jeute:

Illustrationsfoto: Radio Prague International

„Was den Ort so interessant macht? Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, das liegt an Menschen in meinem Alter oder noch etwas älter, die dort waren, als es eine Art authentischer Ort war – oder einer, den man für authentisch hält. Das ‚Auge‘ ist heute ein ganz anderes als noch vor 20 Jahren, als ich dort viel Zeit verbracht habe. Aber das ist ja jeder Ort; sie verändern sich halt. Und es liegt auch an Žižkov. Vor 20 Jahren konnte man sich dort wohlfühlen und einfach sein. Das ‚Auge‘ war eben eine Kneipe, in der es wahnsinnig viel Bier gab, andere alkoholische Getränke und auch ganz gutes Essen. Und man sitzt dort gemeinsam.“

Und noch ein weiterer Teil von Žižkov kommt im Buch „Solche Orte“ zur Sprache: der Park Židovské pece. Zu Deutsch heißt das „Jüdische Öfen“, und der Name ist mitunter auch für die Ansässigen Grund zur Verwunderung. Sein genauer Ursprung ist nicht belegt, aber einer Version zufolge sollen sich in den dortigen Erdhügeln schon im Mittelalter Menschen vor antisemitischen Pogromen versteckt haben. Auch ihn habe der Name neugierig gemacht, schildert Jeute:

„Wenn ich in Prag bin, dann gehe ich öfter an Orte, an denen ich noch nie oder länger nicht mehr war. Oder gerade auch an jene, an denen ich schon häufig war. Denn es ist auch interessant, Orte immer wieder aufzusuchen. Man hat dann so ein Scheingefühl, Teil dieser permanenten Veränderungen sein zu können. Ich habe mal unweit dieses Parks gewohnt. Beim Blick auf den Stadtplan ist mir der Name aufgefallen, und ich bin stutzig geworden. Deswegen musste ich unbedingt einmal dorthin.“

Osteuropa: Komplex einer Bringeschuld

Prag und Tschechien sind im Buch „Solche Orte“ eher Durchgangsstationen auf dem Weg weiter nach Südosten. Vor allem hat Paul Jeute in seinem Leben nämlich schon viel Zeit in Rumänien verbracht – zunächst beim regelmäßigen Sommerurlaub mit den Eltern, später für Studium und Schreibstipendien. Sein Pseudonym Micul Dejun ist ebenfalls Rumänisch und bedeutet Frühstück. Häufig hat er die östlichen Grenzen Deutschlands überquert und ist immer wieder bis zum Schwarzen Meer oder zur Ägäis gelangt. Sieht er angesichts dessen eher Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas?

„Ich glaube, das Verbindende ist hauptsächlich, dass die Menschen östlich der Elbe – da kann man auch Ostdeutschland und die sogenannten neuen Bundesländer hinzuzählen – die Erfahrung dieser ganzen Umbrüche gemacht haben. Dass quasi alles umgekrempelt wird. Dahingehend haben Tschechen, Slowaken, Polen und auch Ostdeutsche viel mehr gemeinsam als womöglich Ostdeutsche mit Westdeutschen. Und was unterscheidet die Länder? Wie überall natürlich die Sprachen und die kulturellen sowie historischen Einflüsse. In Tschechien ist die Welt ganz anders als etwa in Bulgarien. Tschechien hat ja zum Beispiel immer noch keinen Meereszugang.“

Nun sind hierzulande jedoch viele Politiker und gesellschaftliche Akteure bemüht, Tschechiens Zugehörigkeit zum Westen zu betonen. Und das bezieht sich nicht nur auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die seit 2004 besteht und in Rumänien beispielsweise seit 2007. Mit dieser Anlehnung an den Westen – dessen Begrifflichkeit auch unscharf sei, wie Jeute einwirft – mache sich ein unnützer Gegensatz von „Wir und die anderen“ auf, findet der Autor:

„Ich glaube, es gibt in Mittel- oder Osteuropa viele Komplexe, dass man so sein möchte wie der Westen – was meines Erachtens gar nicht vonnöten ist. Damit meine ich aber nicht den Demokratisierungsprozess. Diese Länder, egal wie sie mitunter wählen, sind demokratische Systeme. Man müsste nun mal aufhören zu sagen, man wolle so sein wie der Westen. Es sind schon 30 Jahre, und die Länder sind da längst angekommen. Es gibt diese Komplexe, dass man in so einer Art Bringeschuld sei. Wenn man diese ablegen würde, könnte man den Blick darauf fokussieren, ob man womöglich auf dem Weg ist, die Demokratie wieder abzuschütteln – so wie einige Akteure das vielleicht vorhaben.“

Vielmehr müsse für die Errungenschaften seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und den Erhalt der Demokratie gekämpft werden, fügt Jeute hinzu.

Paul Jeute in der Slowakei | Foto: Archiv von Paul Jeute

Städte werden immer gleicher

Am liebsten sei er mit dem Zug unterwegs, schildert Paul Jeute weiter. In „Solche Orte“ macht er sich von Sachsen aus aber auch einmal zu Fuß nach Tschechien auf. Das Gehen habe genau die richtige Geschwindigkeit, um Beobachtungen anzustellen, sagt der Autor dazu. Nicht immer ging es für ihn aber in Richtung Südosten. Frühere Reiseerfahrungen fasst Jeute in seinem aktuellen Buch in der Erkenntnis zusammen, dass Paris, London und New York heute einfach nicht mehr zu seiner Welt gehörten…

Foto: Paul Jeute

„Bis Anfang der Nuller Jahre bin ich gern und häufig in Orten wie Paris gewesen. Ich war auch einmal in New York. Als ich dann später vor allem Mittel- und Osteuropa besuchte, habe ich gemerkt, dass es – und das meine ich ernst – selbst auf einem Marktplatz in Humpolec spannender sein kann als am Eiffelturm in Paris. Die Städte sehen sich immer ähnlicher. Das liegt an diesen Ladenketten, die überall sind. Das Fast Food schmeckt gleich, man kauft überall die gleichen Klamotten und Möbel. Alles wird immer ähnlicher und dadurch ein bisschen langweiliger. Deswegen kann Humpolec spannender sein als New York oder Paris. Dort gibt es manchmal noch irgendetwas, das noch nicht ganz so gleichgemacht ist.“

Bleibt noch die Frage, wo in Tschechien Paul Jeute noch gern einmal mehr Zeit verbringen würde. Seine Antwort:

„Ich habe keine Bucket List, nach der man irgendwo einmal gewesen sein muss. Aber ich würde gern einmal nach Ostrava. Und vielleicht auch ein paar Tage in der Gegend von Znojmo verbringen, weil der Wein da ganz gut ist. Ansonsten hätte ich gern mal ein oder zwei Wochen Zeit im Riesengebirge und im Isergebirge, das wäre schon toll.“

„Solche Orte. Möglichkeiten einer Reise“ ist das Trottoir Noir Skizzenbuch #23 und hat 128 Seiten. Es kostet 12 Euro.

Znojmo | Foto: Magdalena Hrozínková,  Radio Prague International
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