„Winterbuch der Liebe“: Literarisches Spiel einer tschechischen Berlinerin mit Mann und Frau

Dora Kaprálová, 'Winterbuch der Liebe'

„Ein Mann“ könnte das Buch von Dora Kaprálová auch heißen. Ihr „Winterbuch der Liebe“ ist nämlich als Antwort auf „Eine Frau“ von Péter Esterházy entstanden. 1993 schrieb der ungarische Schriftsteller den Text, in dem er unterschiedliche Typen von Frauen besang und erforschte. Zwanzig Jahre später antwortete Kaprálová mit einem Buch über Männer darauf. Einen Winter lang schrieb sie jeden Tag einen kurzen Text über einen Mann, beziehungsweise über Männer überhaupt. Das „Winterbuch der Liebe“ der in Berlin lebenden tschechischen Autorin wurde nun ins Deutsche übersetzt.

Frau Kaprálová, Ihr „Winterbuch der Liebe“ ist im Laufe des Winters 2013 in Berlin entstanden, deswegen auch die Bezeichnung Winterbuch. Wie sind Sie damals auf die Idee gekommen, es zu schreiben?

Dora Kaprálová | Foto: Martin Kozlovský,  Tschechischer Rundfunk

„Ich bin mir nicht sicher, ob es damals viel mit echter Winterzeit zu tun hatte. Aber vielleicht wollte ich mit dem Titel sagen, dass die Liebe in kalten Jahreszeiten intensiver ist, weil alles – auch die Sehnsucht – natürlich viel dringender ist. Die Idee, dieses Buch zu schreiben, ist ganz einfach entstanden: Meine slowakische Freundin und großartige Übersetzerin aus dem Ungarischen ins Slowakische, Renata Deáková, die alle Bücher von Péter Esterházy übertragen hat, gab mir damals ihre Übersetzung von Esterházys Novelle ‚Eine Frau‘ zum Lesen. Und ich war, ehrlich gesagt, ziemlich begeistert und vielleicht auch ein bisschen, aber wirklich nur ein wenig irritiert von Péter Esterházys Buch. Und so dachte ich mir damals: Ich möchte eine Antwort aus der Perspektive einer Frau schreiben. Es war eine verrückte oder auch ein bisschen freche Idee.“

Sie schreiben im Vorwort: „In Liebe PE gewidmet, dessen Buch Eine Frau ich nie zu Ende gelesen habe.“ Warum haben Sie es nicht zu Ende gelesen? Und warum haben Sie trotzdem darauf reagiert? Wie würden Sie diese Vorlage von Esterhazy charakterisieren?

„Um ehrlich zu sein, war das eine große Provokation von meiner Seite. Eine Art spielerische Provokation, aber liebevolle Provokation. Das Buch habe ich natürlich mit großem Genuss bis zu Ende gelesen. Vielleicht war das eine jugendliche Unverschämtheit meinerseits.“

Das Buch ist eigentlich eine Kette von Textminiaturen. Und jeder der Kleintexte – Sie nennen diese Vignetten – beginnt mit dem Satz: „Es gibt einen Mann, er liebt mich.“ Dieser Satz wird dann weiter variiert und entwickelt. Wie sind eigentlich die einzelnen Texte damals entstanden?

Péter Esterházy | Foto: Kristýna  Maková,  Radio Prague International

„Es war wirklich eine Reaktion auf Péters Esterházys Novelle, weil er variierte die Sätze ‚Es gibt eine Frau‘, und ich wollte ihm eine Antwort schreiben. Für mich sind in meinen Schreiben immer der Rhythmus der Literatur und die Melodie der Sprache sehr wichtig. Und ja, ich glaube, dass die Musik für mich in der Literatur bestimmend und sehr wesentlich ist. Deshalb habe ich mit großer Lust dieses Spiel weitergespielt oder mitgespielt mit Péter Esterházy.“

Sie sprechen jetzt vom Spiel. „Das Winterbuch der Liebe“ war Ihr Erstlingswerk in der Belletristik nach mehreren publizistischen oder journalistischen Texten. Und wie ich gelesen habe, haben Sie in jenem Winter jeden Tag einen Text verfasst. Stimmt das so wirklich?

Ja, das stimmt genau. Ich hatte damals zwei kleine Töchter, und ich hatte nach dem Zähneputzen mit ihnen genau 20 Minuten die Zeit, eine Vignette zu schreiben. Ich hatte keine Ambitionen, ein Buch zu verfassen. Der Prozess war damals ziemlich irrational, ich hatte einfach Spaß an dieser Sache. Ich wollte schreiben und musste schreiben, aber es war wirklich ein völlig kindlicher Prozess. Ich habe das fast ohne Schnitte veröffentlicht. Mittlerweile habe ich fünf weitere Bücher geschrieben, aber nie in so kurzer Zeit. Dieser Prozess war kurz und intensiv.“

Und haben Sie am Ende in die Texte eingegriffen, um sie zu einem logischen Ganzen zu verbinden? Oder ist das Ergebnis tatsächlich so authentisch, wie auch dieser Entstehungsprozess war?

„Tatsächlich so authentisch. Aber wissen Sie was: Ich denke, es hat alles mit dem intuitiven Schreiben zu tun. Solche Situationen werden vielleicht nie wieder kommen, das war diese Debütpoetik. Diese Spontaneität im Kontext meines Schreibens, das war, ich möchte nicht sagen einzigartig, aber es war anders, es war wirklich etwas Lustiges, und deshalb habe ich gute Erinnerungen an diesen Prozess.“

„Es gibt einen Mann, er liebt mich“. Dieser Satz erklingt in dem Buch 50 oder 60 Mal, und es sind aber eigentlich unterschiedliche Männer, die da beschrieben werden. Einmal ist es ein ungarischer Tänzer, dann ein Fleischer in Berlin, ein Angestellter, ein Antiquitätenhändler und auch ein Ehemann. Haben die Männer...

„Ja und nein. Also natürlich schreibe ich, was ich sehe, aber ich kann nicht sagen, dass alles, was ich erlebt habe, auch in das Buch aufgenommen habe und andersherum. Es sind halt Literatur und Spiel mit der Literatur, aber es ist keine Publizistik.“

Eine ergänzende Frage dazu: Welche Rolle spielt Barrichello im Text? Dieser brasilianische Autorennfahrer steht in der tschechischen Ausgabe sogar im Titel des Buches, aber in der deutschen Übersetzung taucht er dort nicht auf…

Dora Kaprálová,  'Zimní kniha o lásce' | Foto: Verlag Druhé město

„Das ist eine lustige Frage. In der ersten tschechischen Ausgabe, 2014 im Archa-Verlag erschienen, war er im Untertitel. Damals war das wichtig für mich, jetzt nicht mehr, aber damals hing es mit einem mystischen Erlebnis zusammen. Ich habe Formel 1 im Fernsehen gesehen, als ich sehr hohes Fieber hatte, fast 41 Grad, und beinahe Halluzinationen bekam. Damals habe ich ein zum ersten und letzten Mal in meinem Leben ein Formel-1-Rennen geschaut. Dort habe ich diesen Barrichello gesehen. Er hat gewonnen, die Flagge geküsst und war so einsam, unglaublich einsam, und gleichzeitig Sieger. Das wollte ich unbedingt in dieses Buch hineintragen, diese Einsamkeit des Siegers.“

Zurück zu Péter Esterházy, der Ihr Buch inspiriert hat: Hat er auch Ihr Buch gelesen? Waren Sie mit ihm dann im Austausch?

„Ja, natürlich. Wir haben uns sogar dreimal getroffen. Zweimal in Budapest, einmal in Berlin. Aber leider war er schon ziemlich krank, und ich habe großes Glück gehabt, dass er das Buch noch lesen konnte. Es war zwischenzeitlich im ungarischen Verlag Typotex erschienen. Dann haben wir noch einmal telefoniert, und wenn ich das sagen darf: Er war ganz begeistert oder zufrieden. Das war unser letztes Gespräch.“

Esterházy war ja ein ungarischer Autor und Jahrgang 1950. War er Ihnen als Schriftsteller zuvor bekannt? War er Ihnen ein Begriff?

„Ja, ich habe fast alles von ihm gelesen. Ich bin bis jetzt bewegt von seinem Buch ‚Die Hilfsverben des Herzens‘, aber auch von anderen Werken wie ‚Hrabals Buch‘ oder ‚Harmonia Celestis‘. Ich schätze ihn sehr. Er war ein großartiger mitteleuropäischer Schriftsteller.“

Kommen wir jetzt zur Gegenwart. Zehn Jahre nach der Erstausgabe in Tschechien erscheint Ihr „Winterbuch der Liebe“ nun in deutscher Sprache im Verlag Mikrotext. Mit welchen Gefühlen sind Sie nun zu den Texten zurückgekehrt?

„Das war für mich auf jeden Fall eine Freude, und ich habe mich nach zehn Jahren nicht für dieses Buch geschämt – das hat mich ein bisschen überrascht. Ich habe eine Beziehung zu diesem Buch wie zum ersten Baby. Und dieses Baby ist jetzt erwachsen. Es ist eine Mischung aus Zurückhaltung und großer Liebe, würde ich sagen.“

Ihre Erzählmethode basiert sehr stark auf einem Spiel mit der Sprache. Sind Sie mit der Übersetzung zufrieden? Und denken Sie, dass es gelungen ist, alle Feinheiten und Witze, die Sie verwendet haben, zu übertragen?

„Generell bin ich mit der Übersetzung von Natascha von Kopp sehr zufrieden. Aber es ist kein einfacher Text zur Übersetzung. Es gibt viele Kleinigkeiten, aber ich bin sehr zufrieden. Es hat einen Rhythmus, der sehr nahe am Original liegt. Ich denke, dass Natascha von Kopp wirklich ein sehr gutes Gefühl für die Sprache hat. Und sie kennt mein Tschechisch sehr gut, weil wir auch befreundet sind. Und sie hat übrigens auch mein Horror-Kinderbuch ‚Herr Niemand‘ übersetzt. Übrigens lese ich auch sehr gerne meine Texte auf Deutsch. Ich sollte es nicht laut sagen, aber ich muss gestehen, dass es meine Sprachtherapie ist.“

Erwarten Sie, dass die Rezeption in Deutschland anders ausfallen könnte als die in Tschechien vor zehn Jahren?

„Ja, ich glaube schon, obwohl es noch zu früh ist, um eine Vorhersage zu treffen. Vor zehn Jahren bekam dieses Buch in Tschechien sehr große Resonanz. Es lief auch im Radio als eine inszenierte Lesung. Die Regisseurin Kamila Polívková wollte damals im Theater in Weimar eine Dramatisierung machen, aber das hat nicht geklappt. Also vielleicht jetzt.“

Denken Sie, dass sich die Gesellschaft inzwischen weiterentwickelt und verändert hat? In dem Buch geht es um die Liebe, um die Beziehung zwischen Mann und Frau, um die Rollen von Frau und Mann. Ist das heute anders als vor zehn Jahren?

„Ich hoffe schon und würde sagen sicher. Ich habe es damals übrigens als unbewusste Feministin geschrieben. Und gerade heute ist in ‚Der Freitag‘ eine erste Rezension erschienen. Die Journalistin schrieb, dass die Autorin eine Feministin sei, aber über den Feminismus auch Scherze machen könne. Und das freut mich sehr. Aber ansonsten befürchte ich, dass die Gesellschaft mit ihrer Radikalisierung leider wieder in den extremen Konservatismus zurückfallen wird, was für Frauen keine gute Nachricht ist. Aber auch natürlich nicht für Männer. Es ist also für niemanden ist eine gute Nachricht. Deshalb glaube ich, dass wir weiter solche Bücher schreiben sollten.“

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