Kadlec: Befürchte Durcheinander wegen vieler EM-Gastgeber trotz Corona

Tschechische Fußballnationalmannschaft

Fast wie geplant auf den Tag genau, aber mit einem Jahr Verspätung wegen der Corona-Pandemie, beginnt an diesem Freitag die Fußball-Europameisterschaft. Einer der 24 Endrunden-Starter ist die tschechische Mannschaft. Deshalb haben wir mit dem ehemaligen Nationalspieler und Bundesligaprofi Michal Kadlec über die Chancen der Schützlinge von Trainer Jaroslav Šilhavý, die EM-Favoriten und die besonderen Rahmenbedingungen dieses Championats gesprochen.

Michal Kadlec | Foto: Swetlana Beketowa,  soccer.ru,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0

Herr Kadlec, am Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft. Bei der Endrunde dabei ist auch die tschechische Mannschaft. Was trauen Sie dem Team zu? Welche Rolle wird es spielen?

„Ich traue der Mannschaft durchaus zu, die Gruppenphase zu überstehen und in die nächste Runde einzuziehen. Ich hoffe natürlich, dass sie es schafft, auch wenn es sein könnte, dass sie im vergangenen Jahr eine bessere Form hatte als dieses Jahr. Aber die Truppe ist schon gut. Im Turnier kommt es jedoch auf die aktuelle Form an, von daher wird man sehen, was die Tschechen zuwege bringen.“

Tschechien trifft in der Gruppe D nacheinander auf Schottland, Vize-Weltmeister Kroatien und auf England. Alle drei Partien finden auf der britischen Insel statt. Ist man da als ständig anreisendes Team nicht nur Außenseiter?

Foto: Michal Kamaryt,  ČTK

„Ich habe es auch so mitbekommen, dass Tschechien und Kroatien zu ihren Begegnungen erst am Spieltag anreisen können. Das ist bestimmt ein Vorteil für Schottland und England. Vielleicht kann sich das noch ändern, aber natürlich ist es ein großer Nachteil, wenn man vor dem Match nicht am Spielort übernachten kann. Ich als Spieler kann mir das eigentlich nicht so gut vorstellen und hoffe immer noch, dass irgendetwas passiert, und zwar dass die Mannschaften schon einen Tag vorher anreisen können und alles einen normalen Ablauf hat.“

Sprechen wir nun mal über die Zusammensetzung des Kaders von Trainer Jaroslav Šilhavý. Wie zufrieden sind Sie mit dem Aufgebot, das aus drei Torhütern, acht Verteidigern, elf Mittelfeldspieler und vier Stürmern besteht?

„Ich traue der Mannschaft durchaus zu, die Gruppenphase zu überstehen und in die nächste Runde einzuziehen. Ich hoffe natürlich, dass sie es schafft, auch wenn es sein könnte, dass sie im vergangenen Jahr eine bessere Form hatte als dieses Jahr.“

„Trainer Šilhavý hat glaube ich schon die besten Fußballer nominiert, die Tschechien gegenwärtig hat. Ein, zwei Namen hätte er gewiss auch austauschen können, doch ich gehe davon aus, dass er die Spieler zuvor eingehend beobachtet hat. Anhand dessen, was von ihm zuletzt zu hören war, ist er noch nicht so mit den Innenverteidigern zufrieden. Im Hinblick auf die Stammformation könnte da vielleicht noch etwas passieren, aber ansonsten sind die Spieler im Kader, mit denen man auch gerechnet hat. Nun müssen wir abwarten, wie sich die Mannschaft bei der Europameisterschaft präsentiert.“

Sie haben die Probleme in der Defensive angesprochen. Im Testspiel gegen Italien hat es eine deftige 0:4-Klatsche gegeben. Hat dieses Spiel gezeigt, dass Tschechien anfällig in der Abwehr ist? Wo sehen Sie generell die Schwachstellen in der tschechischen Mannschaft?

Testspiel gegen Italien | Foto: Antonio Calanni,  ČTK/AP Photo

„Also dieses Spiel hat gezeigt, dass wir in der Abwehr noch Schwächen haben. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sich das rechtzeitig beheben lässt. Bei der EM 2012, als ich für Tschechien spielte, haben wir die erste Partie gegen Russland mit 1:4 verloren. Da haben auch alle gesagt, ´die Abwehr ist nix´. Danach sind wir trotzdem noch Gruppensieger gewonnen und standen dann im Viertelfinale gegen Portugal. Es ist also gut, dass die Pleite gegen Italien in einem Freundschaftsspiel passiert ist und nicht im Auftaktmatch gegen Schottland. So ist noch viel Zeit, daraus zu lernen und die Fehler zu analysieren. Auf den ersten Blick aber ist die Offensive der tschechischen Mannschaft sicher besser als ihre Defensive. Doch wohl jedes Team hat seine Stärken und Schwächen, und bei der EM ist es dann vielleicht genau anders herum, indem die Abwehr hält und wir nicht so viele Tore machen. Von daher sollte man die Pleite gegen Italien einfach abhaken und gegen Schottland bestmöglich starten.“

Von welchen Spielen erwarten Sie demgegenüber Großes bei dieser EM? Wird sich ein Adam Hložek im internationalen Rampenlicht profilieren können? Und müssen sich Tomáš Souček, Vladimír Darida und Vladimír Coufal als Führungsspieler beweisen?

Adam Hložek  (Mitte) | Foto: Michal Kamaryt,  ČTK

„Das wird man sehen. Bei Hložek ist es so, dass er sich im letzten Punktspiel seines Vereins Sparta Prag verletzt hat und zur Halbzeit ausgewechselt wurde. Seitdem hat er noch nicht so viel mit der Nationalmannschaft trainiert, und ich weiß auch nicht, wie sein Gesundheitszustand momentan ist. Ich hoffe natürlich, alles ist gut, denn gerade Hložek war zum Ende der Ligasaison in überragender Form. Mit seinen erst 18 Jahren ist er schon ein Top-Spieler der Liga, und das ist bewundernswert. Ich hoffe daher, dass er rechtzeitig fit wird. Auch wenn er zunächst nicht von Anfang an spielen sollte, so könnte er auch als Joker schon für Furore sorgen. Die anderen drei von Ihnen Genannten sollten in der Tat die Führungskräfte im Team sein. Souček und Coufal haben eine überragende Saison bei West Ham United hinter sich, und Darida, der bei Hertha BSC unter Vertrag steht, ist schon lange dabei. Auch deshalb ist er der Kapitän des Nationalteams. Klar müssen diese Spieler vorangehen, doch auch die anderen müssen Gas geben. Tschechien hat nämlich immer dann sehr gut bei Europameisterschaften abgeschnitten, wenn der Teamgeist stimmte und die Mannschaft als Einheit aufgetreten ist. Von daher hoffe ich, dass es auch diesmal so ist.“

Ihrer Meinung nach wird sich die tschechische Mannschaft in ihrer Gruppe durchsetzen. Das heißt, sie müsste Erster, Zweiter ohne einer der vier besten Gruppendritten werden, um in das Achtelfinale zu gelangen. Wo aber sehen Sie die größten Chancen für Punktgewinne gegen Schottland, Kroatien und England?

„Souček und Coufal haben eine überragende Saison bei West Ham United gespielt, und Darida, der bei Hertha BSC unter Vertrag steht, ist der Kapitän des Nationalteams. Klar müssen diese Spieler vorangehen, doch auch die anderen müssen Gas geben.“

„Es hängt natürlich viel vom ersten Spiel ab. Denn Schottland ist der Gegner, den man schlagen muss, um weiterzukommen. Die zweite Begegnung mit Kroatien ist dann ein Schlüsselspiel, denn eine dieser beiden Mannschaften kommt bestimmt weiter. Favorit der Gruppe ist für mich natürlich England. Dahinter sehe ich die Tschechen schon auf dem zweiten Platz. Doch es ist eine Europameisterschaft, bei der viel passieren kann. Meine Hoffnung dabei ist, dass die Tschechen mich im Positiven überraschen.“

Wen erwarten Sie bei der EM ganz vorn und warum?

Italienische Fußballnationalmannschaft | Foto: Antonio Calanni,  ČTK/AP Photo

„Ich sagen immer: ‚Deutschland ist eine Turniermannschaft, und immer wenn es darauf ankommt, ist Deutschland auf den Punkt vorbereitet und konzentriert bei der Sache‘. Also muss man mit Deutschland bestimmt rechnen. Nach dem Testspiel Italien gegen Tschechien, was ich gesehen habe, muss man aber auch die Italiener dazuzählen, denn sie haben sehr gut gespielt. Des Weiteren ist mit England zu rechnen, und man wird sehen, was die Spanier noch drauf haben. Und natürlich muss man Weltmeister Frankreich zu den Top-Favoriten zählen. Wenn ich aber wetten sollte, würde ich auf Deutschland setzen.“

Ihre Meinung wird man im tschechischen Nachbarland sicher sehr gern hören, zumal die DEB-Auswahl ihrem langjährigen Trainer Joggi Löw auch ein schönes Abschiedsgeschenk machen will. Nun aber eine andere Frage: Welchen Fußball erwarten Sie bei der Europameisterschaft?

„Zu den Top-Favoriten muss man Italien, England, Spanien und Frankreich zählen. Wenn ich aber wetten sollte, würde ich auf Deutschland setzen.“


„Das kommt natürlich auf die einzelnen Mannschaften an, aber generell ist der heutige Fußball schon offensiver geworden. Man muss jetzt vielmehr laufen, ständig ins Pressing oder Gegenpressing gehen, der Fußball ist viel athletischer geworden. Und das Team steht mehr denn je im Vordergrund, weil alle Abläufe auf dem Spielfeld in einem taktisch ausgeklügelten System vollzogen werden. Aber ich bleibe dabei: Wer die meisten Tore schießt, gewinnt meistens die Europameisterschaft. Ich lasse mich überraschen, ob man auch noch mit einem defensiv ausgerichteten Konzept Erfolg hat. Doch ich glaube, damit hat man heute eher weniger Chancen.“

Jetzt die Frage, die vielleicht die wichtigste ist zu dieser Europameisterschaft: Sind Sie froh darüber, dass zu allen Spielen wieder Zuschauer in die Stadien kommen dürfen?

Foto: Marco Verch,  Flickr,  CC BY 2.0

„Auf jeden Fall. Doch es freut vor allem die Besucher selbst, obwohl es immer noch Einschränkungen gibt. Denn wie ich gelesen habe, können manche Zuschauer nur dahin, die eines anderen Landes wiederum nur woanders hin, denn die Corona-Regelungen in den einzelnen Ländern sind noch sehr unterschiedlich. Für mich aber ist die Europameisterschaft eine Veranstaltung, die eigentlich nur in ein oder zwei Ländern stattfinden sollte, und nicht in so vielen Ländern und Städten wie diesmal. Mich wundert einfach, dass man die EM wegen Corona um ein Jahr verschoben hat, sie dann aber nicht in einem Staat stattfindet, in dem die Beschränkungen wegen der Pandemie nicht mehr so groß sind. Nun aber müssen wir schauen, welche Fans eines Landes in das Land des jeweiligen Spielorts reisen dürfen. Für mich ergibt sich daraus ein gewisses Durcheinander, und deswegen schaue ich mir die EM auch nur im Fernsehen an.“

„Mich wundert, dass man die EM wegen Corona um ein Jahr verschoben hat, sie dann aber nicht in einem Staat stattfindet, in dem die Beschränkungen wegen der Pandemie nicht mehr so groß sind. Nun aber müssen wir schauen, welche Fans eines Landes in das Land des jeweiligen Spielorts reisen dürfen. Für mich ergibt sich daraus ein gewisses Durcheinander.“

Sie hätten sich also gewünscht, dass die Organisation wegen Corona völlig geändert wird. Denn die Idee, die EM einmal über ganz Europa verstreut auszutragen, war ja ursprünglich gar nicht mal so schlecht, oder?

„Es stimmt, die Idee war super. Und wenn die Corona-Pandemie nicht gekommen wäre, hätte ich auch keine Probleme damit gehabt. Doch jetzt hätte man das Turnier nur in ein oder zwei Ländern austragen sollen, in denen es klare Corona-Regeln gibt und in denen die Mannschaften auch wie jetzt überall im Sport in einer sogenannten Bubble untergebracht wären. Zudem ändern sich derzeit die Auflagen in jedem Land von Woche zu Woche, und so wird das ganze Durcheinander nur noch größer.“

Autor: Lothar Martin
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