Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts
Vor genau 62 Jahren ist der schrecklichste aller Kriege der Weltgeschichte zu Ende gegangen. Nach so vielen Jahren möchte man gerne glauben, dass sich etwas Ähnliches nicht mehr wiederholen wird. Die Hoffnung darauf besteht zumindest so lange, wie die Erinnerung an das Unheil wach ist und damit als eine Warnung für die Zukunft lebendig bleibt. Von Lebensgeschichten, die der Krieg schrieb, gibt es eine Unmenge, egal zu welcher Seite man gehörte. Hören Sie nun den ersten Teil einer tschechisch-deutschen, genauer sudetendeutsch-tschechoslowakischen Familiengeschichte in der nun folgenden Sendereihe "Heute am Mikrophon". Jitka Mladkova sprach mit Karl-Heinz Philipp, Professor an der Universität Hamburg:
"Ich bin am 13. Februar 1941 in Weißkirchlitz geboren. Der Ort heißt auf Tschechisch Novosedlice. Damals war er sudetendeutsch und hieß Weißkirchlitz. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter stammt aus einer Gärtnereifamilie. Sie hatte einen deutschen Vater und eine deutsche Mutter. Auch mein Vater hatte zum Teil tschechische Vorfahren. Unseren Namen hat man ursprünglich mit einem "F" am Anfang geschrieben. Er stammt aus sv. Mari in Sumava, also aus St. Magdalenen im Böhmerwald. Es war eine tschechische Familie. Ihren Namen schrieb sie F-i-l-i-p. Dann ist aber ein Josef Filip nach Haida / Novy Bor ausgewandert. Er war Schneider und hat dort eine Tschechin geheiratet. Beide wollten aber unbedingt Deutsche werden und haben ihren Namen mit "Ph" am Anfang geschrieben."
Warum wollten sie eigentlich unbedingt "Deutsche" werden?
"Weil es sozial gesehen besser war."
In welchem Sinne?
"Als Deutsche ist es den Menschen dort besser gegangen. Sie kamen aus einem kleinen Bauerndörfchen als Häusler und haben in Haida ihr Glück gesucht. Ihren Sohn tauften sie auf den Namen Wilhelm. Also nach dem deutschen Kaiser. Das war verrückt!"
War das vielleicht ein Ausdruck dessen, dass Deutsche bevorzugt wurden, wenn Ihr Vorfahre - wie Sie sagen - unbedingt deutsch werden wollte?
"Ja, das war ein Privileg. Die Honoratioren waren dort deutsch. Das war im 19. Jahrhundert und dieser Josef sprach ein wenig Deutsch, aber hauptsächlich Tschechisch."
Ist es also der Familie Philipp gelungen, zu den deutschen Honoratioren aufzuwachsen?
"Ja. Ihr Sohn Wilhelm Philipp hatte einen Sohn namens Julius Philipp, und der ist von Haida nach Weißkirchlitz gegangen, wurde Kaufmann und ist dort zu den Honoratioren aufgestiegen. Er war stellvertretender Bürgermeister und Orts-Schulinspektor und gehörte zu den angesehenen Leuten. Das war mein Urgroßvater und der hat seinen Namen wieder umgeschrieben, weil er bereits als Deutscher etabliert war. Statt "Ph" hat er ein "F" als Anfangsbuchstaben geschrieben."
Ist es vielleicht auch als ein Ausdruck seiner Verbundenheit mit dem tschechischen Element zu deuten?
"Ja, schon. Aber ganz zum Tschechischen zurück hat mein Großvater gefunden. Als Student an der Lehrerbildungsanstalt in Aussig / Usti nad Labem hat er Tschechisch gelernt, aber auch beim tschechoslowakischen Militär. Da hat er eine kleine Karriere gemacht und ist Unterleutnant geworden. Er war Reserveoffizier der Tschechoslowakischen Armee. Seine allererste Freundin und Geliebte war Tschechin. Eine Anuschka aus Lany."Hat er sie auch geheiratet?
"Nein. Er hat sie nicht geheiratet, weil damals schon die nationalen Schwierigkeiten aufgetreten sind. Seine Familie, meine Großeltern also, die haben ihn davon abgehalten. Das ist der Unterschied zwischen den Generationen meiner Vorfahren und der meines Vaters. Die Ersteren waren Tschechen und Deutsche und haben untereinander geheiratet. Da gab es noch eine offene Gesellschaft in der tschechoslowakischen Zeit. In der Hitler-Zeit, der sudetendeutschen Zeit, war es vorbei."
Wie wurden Sie persönlich in Ihrer Familie und namentlich von Ihren Eltern erzogen?
"Ich wurde deutsch erzogen. Von der Seite meines Vaters her waren da Deutsche gewesen, die fühlten sich deutschnational. Das hing mit dem Lebenslauf meines deutschen Großvaters zusammen. Er war wehrpflichtger k.u.k. Soldat und war stationiert bei Wien. Er hat sehr gelitten unter seinen tschechischen Kameraden. Ein Teil von ihnen ist übergalaufen zum Gegner. Es waren ungefähr zehn Prozent, rund 100.000 Soldaten, die zum russischen, französischen und italienishen Heer überliefen. Im Ort Weißkirchlitz gab es dann zwei Gruppen: die siegreichen ´Prager´, also tschechische Soldaten, und die besiegten ´Wiener´. Zu den besiegten Wienern gehörte mein Opa Heinrich Philipp. Und er wurde deswegen erniedrigt. In 1918, am Ende des 1. Weltkrieges, gab es dort eine Besatzung. Das tschechische Infanterieregiment hatte in Teplitz (Teplice) eine Besatzung, und die hat Dörfer und Städte besetzt."
Sie gingen in dem Ort Novosedlice auch zur Schule?
"Nein. Nur in den Kindergarten, etwa eineinhalb Jahre bis Mai 1945. Dann kamen am 8. Mai die Russen und ich musste den Kindergarten verlassen. Meine erste Schule war in Hessen nach der Vertreibung."
Stichwort Vertreibung: Welche Erinnerungen haben Sie an jene Zeit?
"Ich habe intensive Erinnerungen, obwohl ich damals so klein war. Ich kann mich auch daran erinnern, als die Russen kamen. Anfang Mai hat mein Großvater ein Loch gegraben, in dem er die deutsche Offizeirsuniform meines Vaters und auch sein eigenes Jagdgewehr vergraben hat."
Wo befand sich Ihr Vater zu diesem Zeitpunkt?
"Mein Vater war im Krieg. Er war zunächst tschechoslowakischer und dann auch deutscher Offizier. Damals war er in Esztergom in Nordungarn, wo er noch am 1. Januar 1945 eingesetzt wurde."
Ihr Vater war zunächst tschechoslowakischer Bürger und dann deutscher Offizier einer Armee, die gegen die Tschechoslowakei kämpfte. Wie war seine Gesinnung?
"Es war im September 1938, als er nach zwei Jahren als Unterleutnant aus der tschechoslowakischen Armee zurückkam. Er war in der Slowakei, wo er 100 Leute unter sich hatte. Dann kam die Sudetenkrise. Was sollte gemacht werden? Es war ein Hin und Her zwischen der Loyalität zum tschechoslowakischen Staat und dem Henlein-Freikorps! Was sollte er tun? Er hat dann hauptsächlich mit seinem Vater beratschlagt, der einerseit stolz war auf seinen Sohn als Offizier im tschechoslowakischen Heer, aber ein tschechoslowakischer Leutnant hat ihn auch in einer Übergangsstation sehr schlecht behandelt, als Wehrmann in Weisskirchlitz. Also die Familie hat darauf gedrungen, dass er auf die deutsche Seite geht."
Sie sind mit ihrer Familie gleich nach dem Krieg 1945 vertrieben worden?
"In 1945 noch nicht, dann aber in 1946. 1945 ist unsere Familie enteignet worden. Man han den Großeltern die Gärtnerei weggenommen. Es war die allgemeine Enteignung. Im Januar 1946 hat meine Mutter vom Narodni vybor (Ortsnationalausschuss) in Weisskirchlitz noch das Angebot bekommen, bleiben zu dürfen. Es war aber kein faires Angebot, denn sie war schon enteignet. Das Haus ist ihr schon genommen worden. Meine Mutter musste eine weiße Binde mit einem Stempel tragen und ich habe mir als Kind auch eine weiße Binde erbettelt."
Den 2. Teil des Gesprächs mit Prof. Karl-Heinz Philipp, bringen wir heute in zwei Wochen.