Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts (Teil 2)

Karlheinz Filipp

"Kleine Menschen in der großen Geschichte" - so betitelte Karlheinz Filipp, Professor an der Universität Hamburg sein Buch, in dem er über das Leben in seiner sudetendeutschen Familie in der ehemaligen Vorkriegstschechoslowakei erzählt. In der "kleinen" Familiengeschichte im Ort Weißkirchen / Novosedlice ist auch das enthalten, was das 20. Jahrhundert mit sich brachte. Jitka Mladkova hat sich mit dem Buchautor unterhalten. Den ersten Teil des Gesprächs haben Sie bereits vor zwei Wochen in unserer Sendereihe "Heute am Mikrophon" hören oder im Internet lesen können. Die Zeitzäsur waren der Zweite Weltkrieg und der anschließende "odsun" - die Abschiebung, "transfer", die Vertreibung also. Auch die Familie Filipp musste weg. Wie ging es ihr danach? Prof. Karlheinz Filipp erzählt weiter:

"Das hing mit der Außenseiterposition, in die ich als Flüchtlingskind hineingetrieben wurde, zusammen. Wir sind nach Hessen gekommen, in ein Bauerndorf. Wie allen Vertriebenen ging es auch uns sehr schlecht. Dort wurden wir mit allen möglichen Schimpfnamen versehen. Wir waren die Zigeuner, die Dahergelaufenen und ähnliches mehr."

Wie lange hat es gedauert? Wann hat sich das Blatt gewendet?

"Meine Mutter hatte sich als junge Witwe sehr durchschlagen müssen. Wir haben auf den Feldern bei Bauern gearbeitet. Mit Mühen habe ich später das Gymnasium besucht. Wir waren bettelarm, aber eines war mir bewusst: Wenn etwas hilft, dann ist es die Schule, die Bildung!"

Sie sind dann an die Universität gegangen.

"Ja, ich war an der Uni in Frankfurt am Main, habe zunächst Geschichte und das danach auch auf Lehramt studiert. Mit 25 Jahren war ich schon Doktor."

War es erst im Laufe des Studiums an der Uni, als sie über die Geschichte Ihres Herkunftslandes etwas mehr erfahren haben?

"Das war weniger über das Studium. Das ging über die Familie. Als wir in Hessen waren, haben wir immer über "daheim" gesprochen. Daheim war Böhmen und bis in die 50er Jahre hinein war noch die Hoffnung von meinem Opa: Ja, es geht wieder nach Hause! Es gab eine Spannung innerhalb der Familie. Meine Mutter war halb tschechisch und sie wurde von der deutschen Filipp- Familie stiefmütterlich, also nicht gut, behandelt."

Sie waren wahrscheinlich innerlich zerrissen. Kann man das so sagen?

"Ja, genau. Für meine Filipp-Großeltern war ich eine Ersatzperson für den im Krieg gefallenen Sohn. Man hat mich meiner Mutter emotional weggenommen. Ich war auf der Suche nach meinem tschechischen Großvater. Meine Filipp-Verwandten haben ihn verleugnet, einfach tot gesagt. 1964 kam für mich der Durchbruch, als wir zu Weihnachten nach Prag eingeladen wurden. Da wurde der Tscheche in mir geweckt. Ich habe dann das Tschechische in mir gesucht und in meinem Buch heißt es "Suche des tschechischen Vaters und Großvaters in uns."

Ich kann mir kaum vorstellen, dass allein der einzige Besuch dazu beigetragen hatte, dass Sie sich auch als Tscheche gefühlt haben.

"Ich habe dann die tschechische Verwandtschaft sehr häufig besucht. Ein Sohn von diesem Prager Familienteil ist im Jahr 1968 nach der sowjetischen Okkupation der Tschechoslowakei zu uns gekommen. In Prag habe ich auch die Danuschka, meine Sandkastenfreundin von Weißkirchlitz, eigentlich meine allererste Freundin, gesehen. Ich bin dann meistens nach Prag zu den Verwandten und zu der Familie Nedbal gefahren, die früher bei uns im Haus als Mieter wohnten. Die haben uns auch vor Partisanen oder der revolutionären Garde, wie man sie damals nannte, in Schutz genommen. Die sind im Mai 1945 gekommen und Herr Nedbal hat gesagt: ´Hier wohnen nur gute Deutsche!´"

Sie haben offenbar Ihre tschechisch-deutsche Identität gefunden. Wann kam für Sie die Beruhigung?

"Ich war sehr erleichtert und habe mich sehr gefreut, als die Tschechoslowakei in 1989 ein freier Staat wurde und dieses Husak-Regime und der Sozialismus weg waren."

Stichwort Novosedlice: Sie haben auch in der Zeit des kommunistischen Regimes die Tschechoslowakei besucht, dann natürlich auch nach der Wende. Sagen Sie mir bitte etwas über Ihre Beziehung zu Ihrem Geburtsort.

"Am 27. Dezember 1964 bin ich von Prag ganz allein nach Novosedlice gefahren. Ich war dort auf dem Friedhof, schaute mir die Gräber an. Dann war ich bei den Nedbals und wurde dort sehr herzlich empfangen."

Das war also ein Besuch bei Familie Nedbal, wie könnte man aber allgemein Ihre Visite in dem Ort bezeichnen? Wie wurden Sie dort angesehen?

"Das war schwierig, Ich war doch aus dem Westen, ein Fremdling. Ich war nicht gut angesehen gewesen. Viele hatten noch Angst vor mir. Ich war aber in der Schule oder beim Bürgermeister eingeladen. Das war schon 1964 und auch 1968. Dann kam aber die Okkupation und man hat mich nur heimlich empfangen. Frau Nedbalova war sehr religiös und Herr Nedbal war wiederum im Gemeinderat als Mitglied der kommunistischen Partei. Also politisch habe ich mich mit Herrn Nedbal nicht so sehr verstanden, aber sonst sind wir gut miteinander ausgekommen. Der hat immer gerne Ziehharmonika gespielt und wir haben getanzt."

Wie war die Einstellung der Familie Nedbal zum Thema "Vetreibung"?

"In 1989 habe ich habe ich gemerkt, dass das sozialistische Eis weg ist, aber darunter liegt die deutsch-tschechische Problematik."

Was haben Sie eigentlich kurz nach der Wende erwartet, was hierzulande geschehen wird?

"Vaclav Havel hat mit seinem Wort zur Vertreibung die Hand ausgestreckt. Aber irgendwie ging es dann nicht mehr. Wissen Sie, zwischen Berlin und Prag hatte man sich geeinigt und dann gab es die deutsch-tschechische Deklaration!"

Mit der tschechisch-deutschen Versöhnungsdeklaration sind Sie also nicht zufrieden, oder sogar nicht einverstanden?

"Richtig. Das habe ich auch offiziell bekannt gemacht und zwar habe ich dazu mehrere Artikel für die deutsche Zeitung "Das Parlament" geschrieben. Man kann vieles nicht ausklammern - das Historisch-politische sowie das Rechtliche kann man nicht einfach ausklammern."

In welchem Sinne sollte Ihrer Meinung nach die Vergangenheit in das Dokument einbezogen werden?

"Mir geht es also nicht um die finanzielle Entschädigung. Es geht mir darum, dass man redlich über die Vergangenheit spricht und die Deutschen nicht nur als Täter zeigt. Mann sollte die gegenseitige Verstrickung sehen und da muss man schon auch in die Vergangenheit schauen. Wir waren nicht nur Nachbarn, sondern gemeinsam in einer "Familie". Das Schreckliche, das mich so traurig macht, ist, dass diese Symbiose, das Zusammensein, künstlich getrennt wurde."

Wie sehen Sie im Jahr 2007 der Zukunft der tschechisch-deutschen Beziehungen entgegen?

Es geht auch um die alte sudetendeutsch-tschechische Beziehung, und da muss noch einiges gemacht werden. Ich bin gemäßigt optimistisch. Es geht langsam voran."