"Lebt und arbeitet in Prag": EU-Bürger in Tschechien

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Sie durchforsten die Supermärkte nach ihren Lebensmitteln, treffen sich bei ihren Stammtischen und pflegen ihre Bräuche: Die Rede ist von Expatriates, kurz auch Expats genannt, also Ausländern, die in der Tschechischen Republik nicht nur Arbeit, sondern auch ein Stück Heimat gefunden haben. In der heutigen Ausgabe von "Tschechien in Europa" werfen wir keinen Blick über die Grenzen, sondern betrachten Tschechien aus der Sicht von hier lebenden EU-Bürgern. Sandra Dudek hat eine Österreicherin, eine Deutsche, eine Dänin, einen Schweden und einen Briten über ihre ersten Eindrücke, ihre Ansichten und darüber, was ihnen am meisten fehlt, befragt:

An jedem ersten Dienstagabend im Monat hat Andrea Stankovsky schon etwas vor: Da nämlich findet der Stammtisch der Österreichischen Wirtschaftskammer statt. Als stellvertretende österreichische Handelsdelegierte nimmt sie den Termin gerne wahr, kann sie doch einen Abend lang ungezwungen im Wiener Dialekt sprechen und den Neuankömmlingen Tipps geben. In den elf Jahren, die sie in Prag lebt, hat sie bereits genug Erfahrungen sammeln können. Und obwohl sich schon sehr viel geändert habe, sei das Leben in einem fremden Land zu Beginn eben nie einfach, wie Andrea Stankovsky aus eigener Erfahrung weiss:

"Die Anfangszeit war für mich in jeder Weise sehr anstrengend. Ich will nicht das Wort Schock sagen, aber ich muss sagen, dass der Unterschied zwischen Österreich und Tschechien damals noch sehr krass war Mitte der 90er Jahre und mir damals vor allem bewusst wurde, wie gut es den Österreichern in Österreich geht."

Andrea Stankovsky ist eine von über 250.000 Ausländer, die laut Angaben des Statistikamtes einen längerfristigen oder ständigen Aufenthalt in der Tschechischen Republik haben. Knapp 100.000 sind Bürger der Europäischen Union. Den größten Anteil machen Einwohner aus den neuen EU-Ländern, vor allem aus der Slowakei und Polen, aus. Lediglich rund ein Fünftel der 100.000 EU-Bürger, die in Tschechien leben, stammen aus den alten EU-Ländern. Für viele von ihnen, die in Tschechien eine neue Heimat gefunden haben, ist der Unterschied im Lebensstandard ein Thema. Vor allem dann, wenn sie, so wie der Brite Martin Howlings vor vier Jahren, ihr neues Leben in einem kleinen Dorf beginnen:

"Als ich das erste Mal hierher gekommen bin, war das ein riesiger Kulturschock für mich. Ich komme aus einer Stadt 40 Meilen nördlich von London, die erst 30 Jahre alt ist. Ich war daran gewöhnt, dass alles neu ist. Als ich in die Tschechische Republik gekommen bin, hatte es den Anschein, als ob alles kaputt wäre. Für mich war Tschechien wie ein Schritt in der Zeit zurück. Weil wenn man nicht in Prag, sondern in einer kleinen Stadt außerhalb Prags lebt, dann ist das, als ob die Zeit stehen geblieben wäre."

Mittlerweile lebt der Grafik-Designer Martin Howlings in Prag und betreibt die Website www.expats.at, auf der hier lebende Ausländer Informationen über das Wohnen, Arbeiten und Leben in Tschechien finden. Doch nicht alle Expats hatten einen Kulturschock, wie beispielsweise der Schwede Carl Rüster erläutert, der seit 1991 als Dolmetscher und Journalist in Prag tätig ist:

"Klar waren Unterschiede, aber sie waren nicht so groß, weil mir vorkommt, dass sich Schweden und die Tschechische Republik sehr ähnlich sind. Das war die größte Überraschung. Natürlich gab es zu Beginn der 90er Jahre einige Waren nicht, aber sonst haben sich die Mentalität und der Lebensstil von jenen in Schweden nicht so sehr unterschieden."

Im Gegenteil: Der mit einer Tschechin verheiratete Schwede Carl Rüster sieht viele Gemeinsamkeiten, unter anderem das Faible für Eishockey und die Wochenendhaus-Kultur sei eben nicht nur in Tschechien, sondern auch in Schweden sehr beliebt. Der Einblick in die typisch tschechische Lebensweise aber bleibt vielen Expats verschlossen, vor allem dann, wenn sie unter sich bleiben und nicht Tschechisch lernen. Gerade das aber ist kein einfaches Unterfangen, gehört die tschechische Sprache doch zu den größten Hürden, wie alle fünf befragten EU-Bürger betonen.

"Es ist sehr schwierig, Tschechen kennen zu lernen, sie sind sehr verschlossene Menschen. Erst jetzt beginne ich, Leute kennen zu lernen und ich bin schon eineinhalb Jahre hier. Wenn man nicht die Sprache spricht, ist es wirklich sehr, sehr schwierig."

Ihr Ganztagsjob im Reisebüro lässt der aus Dänemark stammenden Diane Shaw aber auch nicht genügend Zeit, intensiv Tschechisch zu lernen. Überdies benötigt sie die Sprache im beruflichen Alltag nicht, da im Reisebüro ausschließlich Englisch gesprochen wird.

Englisch ist auch die Hauptsprache, in der die Deutsche Katrin Köhler ihren Beruf als Yogalehrerin ausübt. Außerdem hält sie manche Kurse auf Deutsch und immer mehr auch auf Tschechisch. Die Sprache hat sie zu lernen begonnen, als sie ihren heutigen Mann kennen gelernt hat. Seit acht Jahren lebt sie mit ihm in Prag, die beiden Töchter wachsen natürlich zweisprachig auf. Mit der Gründung einer Familie habe sie hier Heimat gefunden und fühle sich in die Gesellschaft integriert, wie Katrin Köhler meint:

"Was mir hier sehr gut gefällt in Prag ist zum Beispiel, dass der Stadtteil, in dem wir leben, fast ein bisschen dörflichen Charakter hat. Es gibt einfach sehr herzliche nachbarschaftliche Verhältnisse, man ist bekannt, die Kinder sind bekannt. Das gefällt mir sehr gut, das kann ich mir zum Beispiel in einer deutschen Großstadt wenig vorstellen."

Auch der Schwede Carl Rüster, der mit seiner tschechischen Frau ebenfalls zwei Kinder hat, fühlt sich in Tschechien nicht nur integriert, sondern auch wohl, denn:

"Die Tschechen sind, sofern man Tschechisch spricht, sehr kommunikativ, sehr witzig, das gefällt mir besonders gut, und sie sind sehr friedlich. Das heißt, man kann hier in Prag überall herumgehen und es ist ruhig und es gibt keine Bedrohungen."

Einen typischen Tschechen charakterisiert Carl Rüster als:

"mäßig rassistisch, sehr witzig, sehr kommunikativ, in der Arbeit sehr strikt, was Titeln usw. betrifft, aber im persönlichen Leben sehr offen und kommunikativ."

Auf den ersten Eindruck scheinen die Tschechen eher verschlossen zu sein, darin sind sich die befragten EU-Bürger einig. Doch dies habe sich in den letzten Jahren sehr geändert, wie die Österreicherin Andrea Stankovsky beobachten konnte:

"Grundsätzlich glaube ich, dass sie sich schon auch, abgesehen von meinem subjektiven Erleben, geändert haben, dass sie offener geworden sind, aufgeschlossener geworden sind dem Fremden gegenüber und dem ganzen Leben in einem kapitalistischen System."

Prager Metro heute
Ein gewisses Misstrauen Fremden gegenüber ist sicherlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass vor 1989 kaum Ausländer in Tschechien gelebt haben. Selbst 15 Jahre nach der Revolution ist der Ausländeranteil mit knapp zwei Prozent vergleichsweise niedrig. In Deutschland sind zum Beispiel acht Prozent der Einwohner Ausländer, in Schweden sogar 20 Prozent.

Wer als Ausländer in Tschechien lebt, ist natürlich mit verschiedenen Dingen konfrontiert, die verwundern oder auch verärgern. Das meist Genannte fasst die Deutsche Katrin Köhler stellvertretend zusammen:

"Und was mir am allerwenigsten gefällt hier ist die globale Unfreundlichkeit der Leute und die Unzuverlässigkeit. Die Freundlichkeit der Menschen auf der Straße, dass einen jemand anschaut und anlächelt, das fehlt mir sehr."

Außerdem werden die Autoritätshörigkeit und die Korrumpierbarkeit als negative Eigenschaften angeführt. Negativ sehen die beiden befragten Männer auch die Geschlechterrollen in Tschechien. Dazu der Schwede Carl Rüster:

"Der Feminismus hat in der Tschechischen Republik ein ziemlich schlechten Ruf, was ich nicht ganz verstehe, weil die tschechischen Frauen diesbezüglich etwas aufzuholen haben, wenn ich das mit Schweden vergleiche."

Und der Brite Martin Howlings meint dazu:

"Die Gleichstellung der Geschlechter in Großbritannien ist ziemlich gut, glaube ich, und hier gibt es sehr spezifische Rollen: Die Frauen bleiben zu Hause, machen die Hausarbeit, bereiten das Essen vor und der Vater geht in die Arbeit. Es scheint eine viel größere Teilung in den Geschlechterrollen in der Tschechischen Republik zu geben. Ich war nicht wirklich daran gewöhnt."

Doch dies habe auch Vorteile, so Martin Howlings weiter:

"Aber es funktioniert auch so, in vielen Dingen, weil sie sich dann sehr an ihre Traditionen halten, an viele Traditionen, zum Beispiel Weihnachten."

Und was vermissen die Expats am meisten? Der Schwede Carl Rüster das Meer, die Österreicherin Andrea Stankovsky das Angebot an Freizeitaktivitäten und die Dänin Diane Shaw:

"Dänische Kekse. Es gibt hier keine wirklich guten Kekse, sie sind ziemlich langweilig. Sonst vermisse ich nicht so viel. Meine Freunde und meine Familie, das ist das einzige, was ich vermisse."

Viele Expats haben diese Sehnsucht gestillt, indem sie eine eigene Familie in Tschechien gegründet und Freunde gefunden haben. Und von ihren Heimaturlauben nehmen sie auch immer den einen oder anderen Leckerbissen mit.





Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:



www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union

www.euroskop.cz

www.evropska-unie.cz/eng/

www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online

www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt