„Lust zum Enträtseln“ - Germanist Tvrdík zur Rezeption Dürrenmatts in der ČSSR
Vor 26 Jahren ist mit Friedrich Dürrenmatt die Ikone der Schweizer Literatur gestorben. Genau war dies am 14. Dezember 1990 und nur drei Wochen nach seiner letzten Rede in der Öffentlichkeit, gehalten bei einer Preisverleihung für den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel in der Schweiz. Aus diesem Anlass fand kürzlich „Der Salon Dürrenmatt“ in der Prager Václav-Havel-Bibliothek statt. Mit dabei war Milan Tvrdík, Germanistikprofessor an der Karlsuniversität. Mit ihm ein Interview über seine Beziehung zu Friedrich Dürrenmatts Werk und die Rezeption Schweizer Autoren in der Tschechoslowakei.
„Anfang der 1970er Jahre bin ich erstmals auf sein Werk gestoßen. Es waren seine Kriminalromane aus den Fünfzigern, die ich mit viel Begeisterung gelesen habe. Damals war ich am Gymnasium, und es war eine Entdeckung für mich: die Art des Schreibens dieses hervorragenden Schriftstellers der Schweiz. Angefangen mit seinen Kriminalromanen ‚Der Richter und sein Henker‘, ‚Die Panne‘ und anderen hatte ich zudem in den 1970er Jahren die Möglichkeit, eine der vorerst letzten Aufführungen von Dürrenmatts Stück ‚Die Physiker‘ hierzulande zu sehen. Es war in der Saison 1974/75 am Burian-Theater in Prag. Eine wunderbare Inszenierung. Das brachte mich zum Drama. Als ich dann an der Prager Karlsuniversität Germanistik studierte, stieg mein Interesse für die Schweizer Theaterliteratur. Außer Dürrenmatt wurde auch Max Frisch mein Favorit. So begann meine Vorliebe für die moderne Schweizer Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg.“
„Die Besonderheiten der Schweizer Literatur waren eine Herausforderung für mich.“
Kann man also sagen, dass Dürrenmatt und, allgemein gesagt, Schweizer Literatur beziehungsweise Dramatik die Schwerpunkte Ihres Germanistik-Studiums waren?
„Es war kein Schwerpunkt in dem Sinne. Ich musste natürlich alles in mich aufnehmen, die deutschsprachige Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dazu gehörten aber auch die Schweizer Literatur und ihre Besonderheiten. Ich habe sofort erkannt, dass die Schweizer die Welt nicht unbedingt so gesehen haben wie die westdeutschen und ostdeutschen Autoren jener Zeit. Dieses Schweizerische an sich – die kritische Einstellung zum eigenen Land und darüber hinaus auch die Darstellung der Weltproblematik, was bei Frisch eher politisch, bei Dürrenmatt mehr gleichnishaft ist – war für mich eine große Herausforderung. Ab den 1980er Jahren aber, als ich an der Akademie der Wissenschaften tätig war, ist die Schweizer Literatur in der Tat eines der Hauptgebiete meiner Forschung geworden.“
Das muss in der damaligen Zeit wirklich eine große Entdeckung für einen jungen Mann gewesen sein. Ist Dürrenmatt in ähnlicher Weise auch bei einem Teil ihrer Altersgenossen beziehungsweise Uni-Kommilitonen angekommen?„Wir haben in den frühen Siebzigern studiert, unmittelbar nach der riesengroßen Welle der Begeisterung für Dürrenmatt und Frisch in den 1960er Jahren. Wir haben all die Übersetzungen und Diskussionen, die in den Zeitschriften und Literaturzeitungen geführt wurden, mitverfolgen können. Für uns Germanistik-Studenten wie auch für andere junge Leute war dies ein Muss. Dürrenmatt und die Schweizer Literatur schlechthin waren damals ein Renner, auch für meine Kommilitonen.“
Haben Sie schon das politische Tauwetter der 1960er Jahre hierzulande und den sogenannten Prager Frühling mitverfolgt?„Nein. Umso härter war aber danach der Schlag, was erlaubt und nicht erlaubt war. Im Vergleich mit der Bohemistik, die ich auch studiert habe, ging es in der Germanistik schon etwas lockerer zu. Und vorher, zu meiner Gymnasialzeit, konnten wir alles Mögliche lesen, zum Beispiel Havel oder Škvorecký. Als ich dann Bohemistik an der Uni zu studieren begann, war vieles gestrichen. Es war ‚Ödland‘, was da als Lektüre erlaubt war. Auf dem Gebiet der Germanistik war es in der Tat besser. Es handelte sich eben um eine fremdsprachige Philologie. In der Öffentlichkeit wurde zum Beispiel Heinrich Böll offiziell geächtet, doch die Germanistik-Studenten durften seine Werke ohne weiteres lesen und studieren. Das war ein Privileg.“
Dürrenmatts Stücke sind noch bis 1976 hie und da auf tschechoslowakischen Theaterbühnen aufgeführt worden. Im Januar 1977 erschien das Manifest der Bürgerrechtsinitiative „Charta 77“, darauf wurden einige Unterzeichner verhaftet. Friedrich Dürrenmatt, Heinrich Böll und Günther Grass gehörten zu jenen, die in einem Brief an tschechoslowakische Politiker gegen das Vorgehen protestierten. Welche Konsequenzen hatte dies für das Werk der Schriftsteller?
„Ein Jahrzehnt lang wurde Dürrenmatt hierzulande überhaupt nicht gespielt.“
„Nach 1977 folgte ein Jahrzehnt, in dem Dürrenmatt hierzulande überhaupt nicht gespielt wurde. Obwohl es auch bestimmte Anzeichen eines ‚Tauwetters‘ gab, kehrte er erst in der Theatersaison 1987/88 auf die Bühne zurück – in den letzten Jahren des Kommunismus also. Zu jener Zeit wurde er dann oft in regionalen Theaterhäusern sowie in Prag aufgeführt. Diese Wiederbelebung kam überraschend und hat sich dann nach der Wende von 1989 fortgesetzt.“
Hat vielleicht das kommunistische Regime letztlich etwas an Dürrenmatt gefunden, was ihm sozusagen ins Konzept passte?„Ich würde eher sagen, dass Dürrenmatt als Dramatiker oder Schriftsteller nicht mehr störte. Für das tschechoslowakische Regime waren seine politischen Stellungnahmen zur Tschechoslowakei im Jahr 1968 inakzeptabel gewesen. Das war das Einzige, was man ihm vorgeworfen hatte. In den 70ern und 80ern erschien hierzulande einige seiner Werke in Buchform, doch sie wurden nicht gespielt. Dürrenmatt war also nicht offiziell verboten. Er war in dieser Hinsicht besser dran als zum Beispiel Böll oder Grass.“
Nach der politischen Wende von 1989 hat auch das tschechische Theater eine Wende erlebt. Wie war es danach mit den Inszenierungen von Dürrenmatts dramatischem Werk?
„In den ersten Jahren hat man sich besonders der zeitgenössischen Dramatik gewidmet, darunter auch berühmten Stücken von Friedrich Dürrenmatt. Doch dies geschah nicht mehr so häufig wie noch in den 1960er Jahren. Die damalige Welle war abgeflaut. Bis heute gibt es noch hie und eine Inszenierung. Dank der Übersetzungen von Dürrenmatts sieben Stücken, die nach dem Jahr 2000 im Prager ‚Divadelní ustav‘ (Institut für Theaterwesen, Anm. d. Red.) erschienen sind, kam es zu einer Welle von Aufführungen vor allem auf kleineren Bühnen. Mittlerweile gilt er als Klassiker, der ab und zu gespielt wird.“Was meinen Sie: Erwartet „Dürrenmatt“ beziehungsweise das tschechische Theater auf ein Revival des Dramatikers?
„Ich weiß es nicht. Seine Stücke sind zwar humorvoll, spielerisch, aber für die heutige Wahrnehmung etwas schwierig. Die Frage ist, ob die Menschen heute noch diese Lust haben, zu enträtseln oder zu entziffern, was auf der Bühne geschieht. Früher war solch intellektuelle Beschäftigung gefragt. In unserer postmodernen Zeit ist der Zwang zum Nachdenken und die Aufforderung zum Nachdenken nicht mehr so ‚in‘.“