„Männer im Abseits“: Fußball in der Prager Literatur
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien hat begonnen, und die Fans fiebern wieder mit ihren Teams. Allgemein ist ja England als Wiege des Spiels um den runden Lederball bekannt, und auch die Fankultur der Insel ist durch den Roman „Fever Pitch“ von Nick Hornby berühmt geworden. Dass aber auch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit der Ball rollte und die Fans verrückt nach ihren Mannschaften waren, ist kaum bekannt – und das obwohl bereits damals Schriftsteller der Fankultur literarische Denkmäler setzten. Stefan Zwicker ist Sporthistoriker an der Universität Bonn. Für Radio Prag spricht er über die tschechoslowakische Fußball-Literatur.
„Bei der deutschsprachigen Literatur hat es sich um Egon Erwin Kisch gehandelt, der bekanntlich gebürtiger Prager war und bis zum Ersten Weltkrieg auch in Prag gelebt hat. In den späteren Jahren war er vor allem in Berlin aktiv. Kisch war sowohl aktiver Fußballer als auch Schiedsrichter und hat in seinen Feuilletons und Reportagen immer wieder Hinweise auf den Fußball eingebaut. Ein weiterer deutschsprachiger Autor ist Friedrich Torberg, eigentlich in Wien geboren, der aber in der Zwischenkriegszeit lange in Prag gelebt hat. Bei den tschechischen Autoren sind vor allem Eduard Bass und Karel Poláček zu erwähnen. Ich habe mich vor allem auf die Zeit der Monarchie und die Zwischenkriegszeit konzentriert. Ein weiterer wichtiger tschechischer Autor, der sich ebenfalls mit Fußball beschäftigt hat, ist Ota Pavel. Pavel schrieb jedoch mehr in der Nachkriegszeit über Fußball.“
Wie muss man sich einen solchen Roman über Fußball aus dieser Zeit vorstellen, welche Inhalte wurden behandelt?
„Es ist sehr interessant und leider außerhalb des tschechischen Raums relativ unbekannt, dass es in der Zwischenkriegszeit zwei renommierte tschechische Autoren gab, die dem Fußball jeweils einen eigenen Roman gewidmet haben. 1922 veröffentlichte Eduard Bass seinen Roman ‚Klapzubova jedenáctka‘ / ‚Klapperzahns Wunderelf‘. Es ist ein wunderschöner Roman, der zwischen den Genres Jugendbuch, Zeit- und Sportroman changiert. In diesem Roman lassen sich viele Anspielungen auf die damalige politische und kulturelle Situation finden. Der Roman wurde in Märchenform verfasst. Inhaltlich geht es um eine Art Wunderelf, die aus elf Brüdern besteht. Ihr Vater Klapzuba / Klapperzahn, ein böhmischer Bauer, trainiert seine elf Söhne im Fußball. Die Wunderelf wird zur weltbesten Mannschaft ihrer Zeit. Es ist ein hochinteressantes Märchen über die damalige Zeit und die Rolle des Fußballs. Der zweite Roman, ‚Muži v ofsajdu‘ / ‚Männer im Abseits‘, mit dem Untertitel ‚Aus dem Leben der Clubanhänger‘, stammt aus dem Jahr 1930 und wurde von Karel Poláček geschrieben. Poláček schildert in seinem Roman, wie der Fußball das Leben verschiedener Fußballanhänger bestimmt, aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten mit verschiedenen ethnischen Hintergründen. Anhand der Fußballfans, der verschiedenen Fußball-Clubs und der unterschiedlichen Herkunft, seien es Tschechen, Deutsche oder Juden, entwirft Poláček dabei ein Panorama der damaligen Prager Gesellschaft. Dabei zeigt er, wie die Prager Fußballfans vereinigt werden, weil ihr Hauptlebensinhalt der Fußball und die Vereine sind, denen ihr Herz gehört und deren Spiele sie verfolgen.“Waren das vergleichbare Werke, wie man sie heute kennt, zum Beispiel von Nick Hornby?
„Wenn man Menschen befragt, die sich gleichermaßen mit Fußball und Literatur befassen, wird wahrscheinlich erst einmal der Name Nick Hornby fallen. Sein Roman ‚Fever pitch‘ erschien Anfang der 1990er Jahre. Wer sich jedoch in der deutschen Literatur ein wenig auskennt, dem wird vielleicht der Name Friedrich Christian Delius mit seinem autobiographischen Roman ‚Der Tag, an dem ich Weltmeister wurde‘ ein Begriff sein. Vielleicht fallen dem ein oder anderen noch die Namen Ror Wolf oder Wolfgang Harig ein. Beide haben sich eher auf der experimentellen und künstlerischen Ebene mit Fußball beschäftigt. Es ist eigentlich schade, dass außerhalb des tschechischen Sprachraumes Karel Poláčeks Roman von 1930 kaum bekannt ist - weil er eben in diesem Buch das Phänomen beschreibt, wie der Fußball das ganze Leben bestimmen kann. Und dass Menschen, Anhänger eines Clubs, wie der Untertitel ‚Aus dem Leben der Clubanhänger‘ bereits ankündigt, im Fußball das bestimmende Element ihres Lebens sehen.“Fußball war ja in den 1920er Jahren ein relativ moderner Sport. Wie verbreitet war er denn überhaupt in der Ersten Tschechoslowakischen Republik?
„Damals zählte die Tschechoslowakei zu den Fußballgroßmächten. 1920 stand die Tschechoslowakei im Endspiel der Olympischen Spiele, 1934 wurde sie bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien Vizeweltmeister. Es gilt jedoch allgemein als gesichert, dass wenn der Schiedsrichter nicht auf der Seite der Gastgeber gestanden hätte, der Weltmeister eigentlich Tschechoslowakei hätte heißen müssen. Die Prager Clubs ‚Slavia‘ und ‚Sparta‘ gewannen mehrfach den Mitropa Cup, den Vorläufer der heutigen Europa-Cup-Wettbewerbe. Man kann sagen, dass Fußball damals ein Massensport war. Anders als zum Beispiel heute, spielte damals Eishockey keine Rolle, weil es noch keine Kunsteisbahnen gab und somit viel mehr eine Randsportart war. Fußball war der Sport, der die Massen anzog. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Mitteleuropa der Acht-Stunden-Tag eingeführt, was dazu führte, dass ein Großteil der Bevölkerung wesentlich mehr Freizeit hatte, als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das wiederum hatte zur Folge, dass man sich zum Beispiel in den Arbeiterkreisen mehr dem Sport widmen konnte. Das hieß konkret: Viele entschlossen sich, selbst einem Club beizutreten, was die Anzahl der Fußball-Clubs in der Zwischenkriegszeit massiv in die Höhe trieb. Des Weiteren war ein ebenso massiver Anstieg der Zuschauerzahlen in den Stadien zu vermerken. In den 1920er und 1930er Jahren liegen die Zuschauerzahlen fast immer im fünfstelligen Bereich, das ist zu dieser Zeit fast schon die Regel und nicht mehr die Ausnahme, wie in der Zeit davor.“In welcher Sprachgruppe war denn der Fußball beliebter, bei der deutschen oder bei der tschechischen? Ich frage, weil ja in Böhmen und Mähren fast jegliche kulturelle und sportliche Aktivität nach Sprache beziehungsweise Nation getrennt war…
„In der Ersten Republik und auch davor, zu Zeiten der Monarchie, bestand in den Böhmischen Ländern ein sehr entwickeltes Vereinsleben, ob das nun Sportvereine, Gesangsvereine oder Genossenschaften waren. In diesem zivilgesellschaftlichen Aspekt waren die böhmischen Länder den anderen sehr weit voraus. Die Vereine und das Vereinswesen, auch im Sport, waren nach nationalen Gesichtspunkten getrennt. Es gab zwar einen Dachverband, die tschechoslowakische Fußballassoziation, aber darunter gab es einen tschechoslowakischen Fußballverband, einen deutschen Fußballverband in der Tschechoslowakei, einen ungarischen Fußballverband, der natürlich in der Slowakei aktiv war, einen polnischen und einen jüdischen Fußballverband. Der Fußball war aber in allen verschiedenen nationalen Gruppen der beliebteste Sport. Das steht im Gegensatz zu den Turnern, ob es jetzt die tschechischen Sokoln waren oder die Deutschen, die im deutschen Turnverband organisiert waren. Die Turner waren betont national, sie waren relativ restriktiv. Sie haben immer darauf geachtet, sich möglichst von den anderen Ethnien fernzuhalten. Im Fußball gab es aber ein Zusammenleben. Man hat gegeneinander gespielt. Die Profi-Liga war gesamtstaatlich und übernational. Auch wenn einzelne Ligen ausgetragen wurden, die nach den Verbänden organisiert waren, war es vollkommen normal und absoluter Usus, dass ein tschechisches Team gegen ein deutsches Team, sagen wir in einer Stadt wie Reichenberg / Liberec oder Teplitz-Schönau / Teplice-Šanov, antrat. Es wurden also regelmäßig Freundschaftsspiele zwischen deutschen und tschechischen Teams ausgetragen. Man kann sagen, dass im Bereich des Fußballs das Zusammenleben durchaus gut funktioniert hat. Es war auch so, dass in der tschechoslowakischen Nationalmannschaft sowohl Tschechen als auch Deutsche, also Deutsch-Böhmen, Ungarn, Slowaken und andere miteinander gespielt haben.“
Da liegt die Frage nahe: Wie erfolgreich waren denn Bücher bzw. Literatur über Fußball damals?
„Die Autoren, die ich hier erwähnt habe, sowohl Bass als auch Poláček, waren viel gelesene und durchaus renommierte Autoren. Eduard Bass war beispielsweise Chefredakteur der ‚Lidové noviny‘, also der führenden tschechischen Zeitung der Ersten Republik. Er war ein Freund der Brüder Čapek. Josef Čapek hat auch sein Buch ‚Klapzubova jedenáctka‘ illustriert. Das Buch ‚Männer im Abseits‘ von Karel Poláček erschien zuerst als Fortsetzungsroman, sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch in Prager Zeitungen. Dann wurde es auch relativ zeitnah mit einem sehr bekannten Darsteller seiner Zeit, Hugo Haas, verfilmt. Diese beiden Bücher hatten eine große Breitenwirkung und gehören eigentlich zu den Klassikern der Literatur der Zeit der Ersten Republik. Wir haben hier den Fall, dass sich der Erfolg der Bücher und ihre Anerkennung durch Literaturkritiker keineswegs ausschlossen. Es waren Autoren, die durchaus zur ersten Klasse der damaligen tschechischen Literatur gehörten.“Sind die Werke denn ins Deutsche übersetzt worden, beziehungsweise gibt es laufende Forschungen zu dieser speziellen Literatur?
„Das Buch ‚Klapperzahns Wunderelf‘ von Eduard Bass wurde von mir 2008 in einer neuen deutschen Fassung herausgegeben, mittlerweile gibt es auch schon eine zweite Auflage. Poláčeks Buch ist zurzeit meines Wissens nach nicht lieferbar. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn man dieses Buch wieder herausgeben würde, nicht nur weil es kulturhistorisch und literarisch ein Edelstein ist. Am besten wäre eine Neuausgabe in einer kommentierten Fassung, so wie ich das bei Bass´ ‚Klapperzahns Wunderelf‘ getan habe. Poláček zählt in der tschechischen Literatur zu den wichtigsten Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Deutschland ist er leider relativ wenig bekannt. Poláček war im Übrigen auch Opfer des Holocaust, er wurde nach Theresienstadt deportiert, kam dann nach Auschwitz und wurde im Januar 1945 auf dem Bahnhof Gleiwitz ermordet. Es wäre wünschenswert, wenn das Buch von Poláček, nicht nur aus literarischen, sondern auch aus historischen Gründen, dem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht würde.“