Martin Smid - Der angebliche Tote des Jahres 1989
Anlässlich des tschechischen Staatsfeiertags am 17. November wollen wir heute einen Rückblick machen auf die große Studentendemonstration, die an jenem Tag vor genau vierzehn Jahren die sogenannte Samtene Revolution ins Rollen gebracht und das Ende des kommunistischen Regimes eingeläutet hatte. Rundum waren die Machthaber des ehemaligen Ostblocks bereits gestürzt oder ins Wanken geraten. Erst eine Woche zuvor war die Berliner Mauer gefallen. In Prag waren nun die Studenten am Wort. Eine bewilligte, weil eigentlich antifaschistische Demonstration zum Gedenken an die Schließung der tschechischen Universitäten durch die Nazis im Jahre 1939 wurde 50 Jahre später zur Demonstration für die Freiheit überhaupt. Ein brutaler Polizeieinsatz forderte, so hieß es zunächst, einen Toten. Der Tote hatte einen Namen. Es handelte es sich also nicht um ein x-beliebiges Gerücht rund um Schlagstöcke, Wasserwerfer und angebliche Opfer, sondern um einen konkreten Neunzehnjährigen, dem der Polizeieinsatz das Leben nahm. Ein Gerücht war es aber, wie sich bald herausstellte, glücklicherweise doch. Vielleicht auch kein Gerücht, sondern gezielte Desinformation. Jedenfalls lebt der junge Mann. Heute ist er 33. Gerald Schubert hat ihn aufgespürt und folgenden Beitrag gestaltet:
Viele Menschen hierzulande können sich noch heute ganz genau an den Namen Martin Smid erinnern, der sich damals wie ein Lauffeuer verbreitete - zunächst durch Prag und dann, über den Äther, durch das ganze Land und weit über die tschechoslowakischen Grenzen hinaus. An den Namen des damals neunzehnjährigen Mathematikstudenten, der angeblich bei einem Polizeieinsatz gegen die Demonstranten ums Leben kam - was sich später als die wohl kurioseste und auch rätselhafteste Falschmeldung jener Novembertage erwies. Radio Prag hat Martin Smid nun, vierzehn Jahre später, ausfindig gemacht und um ein Gespräch gebeten. Hat er selbst an die damaligen Ereignisse ebenfalls eine so genaue Erinnerung?
"Im Großen und Ganzen ja. Was den 17. November betrifft: Da war ich auf der Demonstration. Es war ein großes Ereignis, dass uns so eine Demonstration überhaupt erlaubt wurde. Wir haben uns alle sehr darauf gefreut, die ganze Sache war sehr aufregend. Es begann damit, dass wir uns im Universitätsviertel Albertov getroffen haben. Dort gab es einige Ansprachen, die aber keineswegs revolutionär waren oder zum Sturz des Regimes aufgerufen haben. Aber sie waren für die damalige Zeit recht kritisch. Danach hatten wir noch die Erlaubnis, von Albertov auf den Visehrad zu gehen, wo es einen sehr bekannten Friedhof gibt, auf dem verschiedene große Persönlichkeiten der tschechischen Geschichte begraben sind. Für einen weiteren Weg hatten wir dann keine Erlaubnis mehr. Trotzdem sind wir dann vom Visehrad weitergegangen, Richtung Wenzelsplatz. Und aus irgendeinem Grund sind wir über die Nationalstraße gegangen, obwohl das nicht der kürzeste Weg ist. Dort haben uns dann Angehörige der Staatssicherheit mit entsprechender Ausrüstung den Weg versperrt. Eine Weile sind wir vor den Absperrungen gestanden. Dann haben sie begonnen, uns die Rückzugswege abzuschneiden. Als sie dann auch die Nationalstraße, über die wir gekommen waren, absperrten, habe ich gemeinsam mit vielen anderen die Demonstration verlassen, über die letzte noch offene Seitenstraße. Erst später habe ich in westlichen Radiosendern gehört, dass schließlich auch noch der letzte Fluchtweg gesperrt wurde, und dass die Leute, die noch vor Ort waren, von der Polizei zusammengeschlagen wurden. Aber da war ich nicht mehr dabei."
Dies alles, so Schmid, sei eigentlich nichts neues gewesen. Auch früher habe es Demonstrationen gegeben, und auch früher seien diese Demonstrationen brutal niedergeschlagen worden. Jedoch:
"Interessant wurde es dann erst am nächsten Tag, als man zu erzählen begann, dass jemand getötet wurde. Ich selbst bin an diesem Tag ins Theater gegangen. Dort wurde aber nicht mehr gespielt, sondern es wurde gestreikt. Und dort habe auch ich zum ersten Mal gehört, dass es angeblich einen Toten gibt. Na, und als ich dann vom Theater nach Hause gekommen bin, da hat mein Vater dort schon ganz aufgeregt auf mich gewartet und gesagt, dass die Polizei hier war und nach mir gefragt hat. Als er wissen wollte, was passiert ist, haben die Polizisten zu ihm gesagt: Schalten Sie Radio Freies Europa ein. Also hat er Radio Freies Europa eingeschaltet. Und da wurde gemeldet: Ein Student der mathematisch-physikalischen Fakultät namens Martin Smid wurde bei der Demonstration getötet."
Martin Smid war jedoch nicht tot. Ja er gehörte nicht einmal zu den Studenten, die am 17. November von der Polizei verprügelt worden waren. Und so begann für ihn nun die Zeit der großen Dementis. Zuerst musste er seinen Tod gegenüber all den Verwandten und Bekannten dementieren, die in heller Aufregung zu Hause anriefen, dann - auf Anordnung der Polizei - auch gegenüber der Öffentlichkeit, im Radio und im Fernsehen. Dies sei, so sagt er, für ihn nicht einfach gewesen. Wenn er schon öffentlich auftreten musste, um zu beweisen, dass er am Leben sei, dann wollte er doch nicht, dass alles so aussah, als wäre gar nichts passiert. Er wollte sagen, dass die Demonstration niedergeschlagen worden war, dass seine Kommilitonen tatsächlich verletzt wurden. Der Rundfunkdirektor gestand ihm das zunächst auch zu. Später aber wurde seine Proklamation dann doch verboten und hinausgeschnitten. Ebenso sei die Sache dann beim Fernsehen verlaufen:"Das war genau das gleiche. Ich wollte, dass man das ganze Interview sendet, damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass gar nichts passiert ist. Der Redakteur sagte auch, er wird tun, was in seinen Kräften steht. Doch dann wurde das ebenfalls geschnitten. Und zwar schlecht. Es war ganz eindeutig zu sehen, dass da geschnitten wurde. Noch dazu hatten die Leute angeblich eine neue Kamera, mit der sie sich noch nicht richtig auskannten. Das wurde zumindest gesagt. Das Bild war dann schwarz-weiß. Und dazu kam noch, dass ich bei dem Gespräch sehr nervös war. Aus all dem entstand also der Eindruck, dass das wieder nur irgendein Betrug ist. Das Gespräch wurde in der Eingangshalle des Studentenheims der Fakultät gedreht. Es war zu sehen, dass es sich um irgendeine Rezeption handelt. Und da haben die Leute begonnen zu denken, dass ich im Krankenhaus bin, zusammengeschlagen wurde oder unter irgendwelchen Drogen stehe. Warum ist das schwarz-weiß? Warum ist das so seltsam geschnitten? Es entstanden immer neue Fragen. Also musste ich am nächsten Tag wieder zum Fernsehen gehen, und sozusagen das Dementi dementieren. Also die Spekulationen, die dabei entstanden waren, widerlegen."
Zu diesem Zeitpunkt jedoch, das meint auch Martin Smid, war es für den Lauf der Dinge bereits egal, ob nun jemand getötet wurde oder nicht. Die Entwicklung hatte mittlerweile schon genügend Eigendynamik gewonnen. Der ominöse Smid lebte, das begriffen bald auch die größten Skeptiker. Doch die wütende Empörung der Menschen über einen jungen Toten war nun nicht mehr nötig, um die Revolution in Schwung zu halten. Die Tage des Regimes waren bereits gezählt.
Was jedoch blieb, das waren die Spekulationen. Wer hat einen Toten erfunden? Mit welchem Ziel? Und warum wählte man ausgerechnet Martin Smid aus? Es gab und gibt zu diesen Fragen unzählige Thesen, manche davon klingen recht vernünftig, andere bewegen sich eher schon im Bereich abstruser Verschwörungstheorien. Sogar einige offizielle Untersuchungskommissionen haben sich mit dem Fall befasst. Einziges konkretes Ergebnis: Alle Spuren führen zu einer Frau namens Drahomira Drazska, die an der Geburt des Gerüchts zumindest maßgeblich beteiligt war.
Ob sie jedoch in fremdem Auftrag gehandelt hat, und wenn ja, in wessen, das bleibt bis zum heutigen Tag im Dunklen. Einige meinen, der Geheimdienst habe die Sache initiiert, um die Demonstrationen zu radikalisieren, die man dann umso brutaler hätte niederschlagen können. Und zwar deshalb, um spätestens am 10. Dezember alles hinter sich zu haben, dem Tag der Menschenrechte, an dem weitere Demonstrationen befürchtet wurden. Andere sehen darin einfach einen Schachzug besonders schlauer Dissidenten. Recht beliebt ist auch folgende Theorie: Der kommunistische Machtapparat wusste, dass er sich angesichts der Entwicklungen in ganz Osteuropa nicht mehr an der Macht halten konnte. Also beschleunigte man die Sache, um zu jedem Zeitpunkt das Steuer selbst in der Hand zu halten - sogar das Steuer der Revolution - und um später die eigenen Leute umso leichter an den gewünschten Posten von Verwaltung und Wirtschaft platzieren zu können.
Und warum ausgerechnet Martin Smid? Vielleicht weil ein westlich klingender Name sich auch im Ausland leichter einprägen und stärkere Reaktionen hervorrufen würde. Vielleicht weil Martin Smid ein schweres Augenleiden hat und bereits damals schlecht sah, was die Unsicherheit seiner öffentlichen Auftritte und damit die allgemeine Verwirrung noch steigern konnte. Vielleicht aber auch nur durch puren Zufall. Er selbst übrigens lässt sich nicht gerne zu Verschwörungstheorien hinreißen, sondern bleibt lieber auf dem Boden der Tatsachen. Von einer möglichen Antwort, die nicht so unplausibel klingt, weiß aber auch Martin Smid zu berichten:
"Ich habe gehört, dass es in der Kommunistischen Partei konkurrierende Clans gab. Eine alte, unfähige Clique, und irgendeine junge Clique, deren Angehörige sich selbst für fähiger hielten. Leute, die sich dachten, dass sie mithilfe der Revolution die alte Clique stürzen können, dann selbst an die Macht kommen, und dass wir ihnen dann um den Hals fallen werden. Also vielleicht war es das. Nur: Die Macht ist so schnell in sich zusammengestürzt, dass wir es einfach nicht glauben konnten. Niemand hatte sich vorstellen können, dass die Revolution so schnell gehen könnte. Die Kommunisten übergaben aber die Macht eigentlich sofort, und eineinhalb Monate später war Havel bereits Präsident."
Martin Smid hat heute einen fünf Monate alten Sohn, arbeitet als Mathematiker, schreibt an seiner Doktorarbeit und macht - wir konnten bereits Ausschnitte hören - Musik mit seiner Band "Klec". Früher hat er sich darüber geärgert, dass irgendwer aus irgendeinem Grund seinen Namen benutzt hat. Heute ist im das weitgehend egal. Nur:
"Ich würde gerne irgendwann einmal wissen, was hinter diesen ganzen Sache gesteckt hat. Hoffen wir, dass ich es tatsächlich einmal erfahre."