„Neues Abkommen“: In Tschechien wird über die Politik der Zukunft diskutiert
Klimawandel, unterbezahlte Arbeitskräfte, alternde Gesellschaft – nicht nur Tschechien steht vor großen Herausforderungen, die die Politik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu meistern hat. Auch hierzulande ist immer öfter von einer notwendigen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft die Rede. Auf europäischer Ebene gibt es dafür den Green Deal. Wie die Bevölkerung und die politischen Akteur*innen Tschechiens mit den Problemstellungen dieser Zeit umgehen könnten, darüber hat sich die Plattform re-set Gedanken gemacht. Anfang Januar hat sie ein Dokument namens „Nová dohoda“ (Neues Abkommen) veröffentlicht, das als Grundlage für eine breite Diskussion dienen soll.
„Nová dohoda“, das ist die tschechische Übersetzung des englischen Begriffs New Deal. Den hatte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in der ersten Hälfte der 1930er Jahre erdacht, um die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in seinem Land zu lindern. Damals wurden umfassende Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsreformen initiiert. Dafür zielte das eher symbolisch benannte „Neue Abkommen“ auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung ab.
Die gleichen Ambitionen hat das nun in Tschechien veröffentlichte Dokument „Nová dohoda“. „Neues Abkommen: Programm einer sozial-ökologischen Transformation für die Tschechische Republik“ ist die Übersetzung des vollständigen Titels, den der Think-Tank re-set dem Text gegeben hat. Entstanden ist das Schriftstück in Zusammenarbeit mit den Prager Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung. Petr Doubravský ist als einstiges Gründungsmitglied von Fridays For Future in Tschechien einer der Sprecher*innen für das Dokument:
„Das ‚Neue Abkommen‘ ist dahingehend neu, als dass es mehrere Probleme auf einmal anpackt. Im Unterschied zu anderen politischen Konzepten liegt ihm die Überzeugung zugrunde, dass diese Probleme nicht getrennt gelöst werden können. Wir haben es mit einer ökologischen Krise zu tun. Soweit wir uns darin einig sind, dass diese menschengemacht ist, kommen wir wohl auch darin überein, dass der Grund für diese Krise falsch ausgerichtete gesellschaftliche Beziehungen sind. Unser Text macht Vorschläge, wie diese Probleme zusammenhängend behoben werden können.“
Dafür wurden drei thematische Pfeiler gewählt, die letztlich das gesamte Leben der Menschen betreffen: Klima, Arbeit und Pflege. Ausgangspunkt für die Autor*innen des „Neuen Abkommens“ ist eine gerade stattfindende Vertiefung der Krise in allen drei Bereichen. Dies habe, so heißt es auf der Website novadohoda.cz, nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt. Der umfassende Ansatz zur Problemlösung scheint aktuell zudem vom Krieg in der Ukraine bestätigt zu werden. Nicht nur in Tschechien ist die Berichterstattung darüber eng verbunden mit der Energiekrise, der Lage auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt sowie der Frage der sozialen Versorgung sowohl von Geflüchteten als auch der einheimischen Bevölkerung.
Drei Grundthemen: Klima, Arbeit, Pflege
Für den Themenbereich Pflege hat Anna Šabatová die Sprecherinnenrolle des „Neuen Abkommens“ übernommen. Die ehemalige Sprecherin der Charta 77 und spätere Ombudsfrau für Menschenrechte erklärte in einer Online-Präsentation in der vergangenen Woche, dass der Text ihr selbst Antworten auf alle grundlegenden Lebensfragen und Dilemmata gegeben habe. Anhand ihres Themas Pflege erläuterte Šabatová, wie die drei Grundpfeiler im Doukment miteinander zusammenhängen:
„Eines der wichtigen Dinge ist für mich dieses: Wenn wir eine Umverteilung in allen Bereichen der Pflege erreichen – sei es im engsten Familienkreis oder in staatlichen Einrichtungen – und ihnen Finanzmittel in viel größerem Umfang zur Verfügung stellen könnten, dann würde sich unser CO2-Abdruck verringern. Pflege ist eine sparsame Arbeit, denn man investiert in persönliche Beziehungen, in Zuneigung und Menschen, in Hilfe und Solidarität. Dies hinterlässt keinen CO2-Abdruck.“
Ähnlich erläuterte auch Kateřina Smejkalová von der Prager Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Gespräch mit Radio Prag International:
„Es ist ein Grundsatzprogramm, das versucht, die ökologische Transformation im engeren Sinne des Wortes – also die Veränderungen im Verkehr, in der Energiewirtschaft und allen unmittelbar damit zusammenhängenden Bereichen – zu verbinden mit der Vorstellung eines insgesamt besseren Lebens. Dazu gehört zum Beispiel eine Wohnpolitik, die endlich dafür sorgt, dass alle Menschen Wohnraum haben. Oder auch eine größere wirtschaftliche Demokratie, in der mehr Mitbestimmung herrscht. Wir haben uns viele Gedanken gemacht über Arbeit und die Frage, wie man eigentlich arbeitet, wie sinnvoll dies ist, was man dafür bekommt und wie die Arbeitsbedingungen sind. Dies mag zwar auf den ersten Blick weit von der ökologischen Transformation entfernt sein. Letztlich muss es aber einer ihrer Bestandteile sein.“
Der recht umfangreiche Text des „Neue Abkommens“ ist in zwölf Kapitel unterteilt. Mit Überschriften wie „Eine neue Bedeutung der Arbeit“, „Günstige und bequeme Beförderung mit niedrigen Emissionen“ oder „Verfügbarer und hochwertiger Wohnraum für alle“ werden Vorschläge gemacht, wie die tschechische Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig umgestaltet werden könnten. Obwohl die Dringlichkeit einer Problemlösung betont wird, wolle man doch auch einen positiven Ausblick geben, sagt Smejkalová:
„Wir meinen, dass die Debatte über eine klimagerechte Transformation zu sehr von Bedrohungen dominiert wird. Also von Bedenken, dass sich der eigene Lebensstandard zwangsläufig verschlechtern wird. Wenn wir aber Menschen dafür gewinnen wollen und wenn diese Transformation gelingen soll, dann muss man sich eine bessere Gesellschaft vorstellen können, die dadurch angestrebt wird.“
Vorschlag zur Diskussion
Petr Doubravský gesteht ein, dass der Text sicher nicht vollständig sei. Es könnte nicht all das aufgenommen werden, was viele Menschen für die Zukunft als wichtig erachteten. Deswegen sei das Dokument auch nicht als Anleitung zu verstehen, sondern als Diskussionsgrundlage. Darin unterscheide es sich etwa vom europäischen Green Deal, so der Klimaexperte:
„Bisherige Abkommen haben immer einen Vorschlag gemacht, wie etwas zu tun ist. Wir hingegen bieten einige Punkte zur Inspiration an und wollen darüber mit anderen diskutieren. Tschechien braucht eine gesellschaftliche Debatte und eine gemeinsame Übereinkunft darüber, wie wir weiter leben wollen. Neu ist unser Ansatz auch, weil er die Ambition hat, eine Diskussion mit jenen Teilen der Gesellschaft zu führen, die bisher kaum einen Dialog geführt und auch nicht miteinander zusammengearbeitet haben.“
Dieser Ansatz prägte schon die Vorbereitungen des Dokuments. Die Plattform re-set, die das Ganze initiiert hat, gründete sich 2019 mit dem Ziel einer Neuausrichtung der Wirtschaft. Nachhaltigkeit und soziale Ausgewogenheit sind die Stichpunkte, unter denen die Expert*innengruppe als eine Art Scharnier für andere Organisationen und Bewegungen fungieren will. Darum dient das „Neue Abkommen“ laut Doubravský auch als Aufruf, der online unterzeichnet werden kann.
Entstanden ist der Text über einen Zeitraum von zwei Jahren, in dem mehrere Runde Tische veranstaltet wurden mit Einzelpersonen und Organisationen aus Wissenschaft und Praxis. Mit ihnen sowie mit den neu hinzukommenden Unterzeichner*innen und der Öffentlichkeit werde nun die Diskussion geführt, wie eine wirtschaftliche Transformation aussehen sollte, um sozial und ökologisch verträglich zu sein, so Kateřina Smejkalová:
„Es gibt sehr viele Menschen, die das Dokument begrüßen. Sie meinen, es sei notwendig und ein guter Weg, mit diesem Thema umzugehen. Man muss dazu sagen, dass das Thema der ökologischen Transformation in der öffentlichen Debatte hierzulande bei weitem noch nicht so präsent ist wie etwa in Deutschland. Insofern ist der Text auch ein Hinweis, wie wichtig dieses Projekt im tschechischen Kontext ist.“
"Neues Abkommen" soll Grundlage für Gesetzesentwürfe werden
Zu den bisherigen Unterzeichner*innen gehören vor allem NGOs, soziale und ökologische Bewegungen sowie Wissenschaftler*innen und Journalist*innen, aber auch kulturelle Einrichtungen. Die Aktivitäten von re-set bestehen derzeit vor allem in der öffentlichen Vorstellung des Textes, Diskussionsveranstaltungen zu den einzelnen Themenbereichen, Workshops und publizistischen Tätigkeiten. Mit einem breiten Unterstützer*innennetzwerk und konkreter ausformulierten Vorschlägen solle das „Neue Abkommen“ in Zukunft auch hiesigen Politiker*innen als Grundlage für Gesetzesentwürfe dienen, so Petr Doubravský:
„Diese Ambition haben wir durchaus. Wir müssen aber noch entscheiden, auf welche Weise dies passieren soll. Das ‚Neue Abkommen‘ stellt ein komplexes Politikkonzept dar. Im Gegensatz dazu ist der gegenwärtige Politikstil technokratisch und trennt die Dinge voneinander. Wir müssen also klären, ob wir die Themenpunkte einzeln oder als großes Ganzes präsentieren wollen. Quer durch die ökologischen und sozialen Bewegungen ist bereits klar und deutlich zu vernehmen, dass wir schon jetzt damit beginnen müssen, eine Strategie für die nächsten Parlamentswahlen zu formulieren.“
Diese stehen in Tschechien zwar erst 2025 an. Für das Vorhaben von re-set ist dies aber keine allzu lange Zeit. Denn die Veröffentlichung des Dokumentes war laut Doubravský nur ein erster Schritt:
„Wichtig ist zu verstehen, dass die Vorstellung des ‚Neuen Abkommens‘ ein Anfang war und nicht das Ende. Es handelt sich nicht um eine einmalige Angelegenheit. Wir haben einen Marathon vor uns und keinen Sprint. Er wird nicht in wenigen Wochen abgehandelt, sondern mehrere Jahre und vielleicht Jahrzehnte lang dauern.“