PISA-Studie

Tschechische Schulminister Eduard Zeman

Von: Silja Schultheis.

Kaum einem von Ihnen, verehrte Hörerinnen und Hörer, wird es entgangen sein: Die Ergebnisse der sog. "Pisa"-Studie, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahr 2000 unter weltweit mehr als 260.000 Schülern im Alter von 15 Jahren durchführte, haben in den vergangenen Wochen in Deutschland für heftige Aufregung gesorgt.

Aber auch für Tschechien ist die Studie nicht gerade schmeichelhaft ausgefallen - wenngleich dies von den Medien hierzulande nicht so aufgeregt kommentiert wurde wie in der Bundesrepublik. Die Untersuchung von Schülern aus 32 Ländern ergab, dass die Tschechen beim Verstehen und Interpretieren unbekannter Texte lediglich auf Platz 19 landeten. In Mathematik schnitten sie mit Platz 18 ähnlich ab, in den Naturwissenschaften belegten sie Platz 11 und damit einen sicheren Rang im oberen Mittelfeld.

In allen drei Bereichen erzielten die tschechischen Schüler somit - z.T. zwar nur geringfügig, aber immerhin bessere Ergebnisse als die deutschen. Gerade im Bereich Textverständnis mag dies überraschen, da das tschechische Schulsystem gemeinhin bekannt ist für die mangelnde Vermittlung von anwendungsorientiertem Wissen und die fehlende Selbständigkeit der Schüler beim Umgang mit Texten.

Schwerpunkt unseres heutigen Themenkaleidoskops ist also die PISA-Studie. Wir unterhalten uns mit Schulexperten über mögliche Gründe für die Ergebnisse der Studie in Tschechien und Deutschland, die Unterschiede in der Bildungslandschaft beider Länder und fragen abschließend, wie eine ideale Kombination aus beiden Schulsystemen aussehen könnte.

Tschechische Schulminister Eduard Zeman
Der tschechische Schulminister Eduard Zeman führt die schlechten Ergebnisse der PISA-Studie in erster Linie auf die mangelnde Ausbildung der hiesigen Lehrer zurück - ein Erklärungsansatz, der nach Auffassung der tschechischen Koordinatorin der OECD-Umfrage, Frau Dr. Strakova aus dem tschechischen Schulministerium, zu kurz greift:

"Ich denke, daran ist im wesentlichen unser gesamtes Bildungssystem an den Schulen schuld, das - wie wir alle gut wissen - vor allem auf den Erwerb von viel Wissen ausgerichtet ist und nicht auf dessen praktische Anwendung in unbekannten Situationen oder im täglichen Leben. Und das ist bei der Umfrage besonders dort zum Ausdruck gekommen, wo die Schüler beispielsweise in einem unbekannten Text irgendwelche Informationen suchen oder eine eigene Meinung einnehmen und diese verteidigen sollten."

Auch Dirk du Pin, der auf Einladung des tschechischen Schulministeriums seit sieben Jahren als Fachberater für Deutsch und Koordinator des Lehrerentsendungsprogramms der Bundesregierung in Tschechien tätig ist, kann das Urteil von Schulminister Zeman nicht teilen:

"Ich halte diese Erklärung nicht für zutreffend. Wenn Minister Zeman sagt, die Lehrerausbildung muss verbessert werden: Ich denke, in der Bundesrepublik haben wir eine hervorragende Lehrerausbildung, sowohl im universitären Bereich als auch im Referendariat - das gibt es nicht in Tschechien. Daraus müsste man ja schlussfolgern, dass die Ergebnisse in Deutschland viel viel besser sind. Aber die Ergebnisse sind noch schlechter als in Tschechien. Also, dieses Argument kann man so nicht anführen."

Andrea Hielscher, seit 1999 Fachschaftsberaterin und Leiterin des Prüfungszentrums Deutsch am Gymnasium Cheb/Eger und bereits vorher mehrere Jahre als Programmlehrerin dort tätig, ist sowohl mit dem Schulsystem ihrer bayerischen Heimat als auch mit der tschechischen Praxis vertraut. Aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung als Lehrerin in beiden Ländern ist sie zu folgender Ansicht gelangt:

"Dazu kann ich nur sagen, dass die Lehrerausbildung hier meiner Meinung nach nicht schlechter ist - zumindest das Hauptstudium - als unsere. Unsere Schüler haben ja noch schlechter abgeschnitten als die tschechischen. Und dass das ein bisschen eine billige Rechtfertigung dessen ist, was vielleicht auch im Schulministerium versäumt worden sein könnte. Ich habe hier sehr engagierte Lehrer kennen gelernt, die ja wirklich sehr wenig verdienen und sich trotzdem sehr mit den Schülern beschäftigen. Und ich habe hier natürlich auch - so wie in Deutschland - Lehrer kennen gelernt, die sich weniger engagieren."

Als eine der Ursachen für das schlechte deutsche Abschneiden in der PISA-Studie nannte die Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz, Frau Schavan, das mangelnde Bildungsbewusstsein der deutschen Gesellschaft. "Volk der Dichter und Denker" - nur mehr ein Relikt aus dem 19. Jh. also? Und wie ist es mit dem Bildungsbewusstsein hierzulande bestellt? Andrea Hielscher und Dirk du Pin haben folgendes beobachtet:

Hielscher: "Mir fällt auf, dass die Tschechen natürlich ein wesentlich besseres Hintergrundwissen haben, und dass das natürlich auch bei uns wünschenswert wäre. Aber mir fällt auch auf, dass dieses Hintergrundwissen nicht wesentlich dazu beigetragen hat, die Ergebnisse der tschechischen Schüler zu verbessern, weil sie nur wenige Stellen vor den Deutschen liegen in diesem Leseverstehen."

Du Pin: "Ein Unterergebnis von Pisa ist auch, dass festgestellt wurde: Die tschechischen Mädchen äußern als ihre Lieblingsbeschäftigung Lesen in einem Prozentsatz von 23,2%. Und damit liegen sie auf Platz 1. Von den deutschen Mädchen geben nur 16,8% Lesen als Lieblingsbeschäftigung an. Bei den Jungen sind die Tschechen auf dem 4. Platz bei der Frage, ob Lesen eine Lieblingsbeschäftigung ist. Die deutschen Jungen liegen noch weiter hinten, auf Platz 13 oder 14. Was ich hier beobachte, ist ein hohes Interesse bei den Schülern an Theater, an Kulturveranstaltungen, an Bildungsinhalten, die auch über andere Medien angeboten werden. Dass viele junge Tschechen sich auch außerhalb der Schule um Lernen bemühen. Auch wenn das kein unmittelbarer Bildungsinhalt ist, aber in den ersten Jahren meiner Tätigkeit in der Tschechischen Republik habe ich immer wieder beobachtet, wie wenig sich junge tschechische Schüler über die Kleidung definieren. In der Bundesrepublik ist die Kleidung ein Statussymbol und ein ganz wichtiges Merkmal, um mich als Jugendlicher in einer Gruppe behaupten zu können."

Und noch einen weiteren wichtigen Unterschied führt Dirk du Pin an: "Weiterhin möchte ich aus meiner subjektiven Beobachtung formulieren, dass die tschechischen Familien intakter sind und ihre Kinder besser erziehen können, als es in der Breite in der Bundesrepublik der Fall ist. Dort geschieht doch erheblich mehr Fremderziehung, mit immer wieder wechselnden Bezugspersonen, weil der Familienverband nur noch in seltenen Fällen intakt ist."

Ob die Reaktionen auf die PISA-Studie ein erster Aufschrei bleiben oder tatsächlich Konsequenzen im Bildungswesen beider Länder nach sich ziehen, bleibt abzuwarten. Wir fragten abschließend Andrea Hielscher und Dirk du Pin, welche Komponenten des tschechischen und des deutschen Schulwesens man vereinen müsste, um - wenn auch kein ideales - so doch ein besseres Systém für die Schüler beider Länder zu schaffen.

Hielscher: "Ich würde ein solides Hintergrundwissen im Sinne einer Allgemeinbildung geben - was mir an deutschen Schulen mehr fehlt. Ich würde auch mehr Wert auf Lernen legen - gerade in Sprachen. [...] Aber auf der anderen Seite würde ich auch die deutsche Diskussionskultur gleichzeitig in den Unterricht einführen, damit der Schüler von vornherein lernt, sich auch in einer fremden Sprache auszudrücken, sich zu verteidigen und seine Meinungen kundzutun."

Ganz ähnlich sieht es auch Dirk du Pin: "Das tschechische Schulwesen ist doch noch stärker verschult und erst auf einem langsamen Weg, sich mehr mit eigenständigen Lösungsversuchen zu beschäftigen. In der Bundesrepublik kann man pauschal sagen, es sind den Schülern kaum noch Fakten beigebracht worden, sondern nur noch Diskussion, Konfliktorientierung. Und dort einen guten Kompromiss zu finden, dass die Bundesrepublikanischen Schüler sich wieder mehr Grundlagenwissen aneignen, um in der Lage zu sein, komplexere Sachaufgaben zu lösen. Und in Tschechien muss einfach hinzukommen, neben den guten Fakten, die die Kinder erlernen, auch eigenständiges Denken, eigenständige Lösungswege zu entwickeln."