Die Kraft der Menschlichkeit
"Die Kraft der Menschlichkeit" - unter diesem Titel setzte der Regisseur Matej Minac dem heute 92jährigen Engländer Nicholas Winton bereits zum zweiten Mal ein filmisches Denkmal, in dem er an die außergewöhnliche Initiative erinnerte, die Winton vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Prag ergriff. Neben der Bewunderung für das Engagement des damals 29jährigen Briten weckt der Film nicht zuletzt auch die Frage, ob man als Einzelner nicht häufig viel mehr bewirken könnte als man für möglich hält. Silja Schultheis war bei der Prager Premiere des Films vergangene Woche dabei und hat anschließend die Gelegenheit zum Gespräch mit Sir Winton genutzt.
Die Geschichte klingt nahezu unglaublich: Ein 29jähriger englischer Börsenmakler verzichtet Ende 1938 auf seinen Urlaub in der Schweiz, reist stattdessen nach Prag und organisiert in den folgenden Monaten nahezu in Eigeninitiative für 669 - hauptsächlich jüdische - Kinder die Ausreise aus der Tschechoslowakei und die Unterbringung in englischen Gastfamilien. Die Mehrzahl dieser Kinder musste nach dem Krieg feststellen, dass sie als einzige überlebt hatten, während ihre Familien dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen waren.
Dass man nicht den Fehler begehen dürfe, die Nazis zu unterschätzen, daran bestand für Winton Ende 1938 kein Zweifel:
"Alle meine Freunde in Prag zu dieser Zeit waren absolut sicher - so wie ich - dass Hitler in Prag einmarschieren würde. Genauso wie viele Menschen in Prag sich dessen sicher waren. Die Tatsache, dass man dies weder in Frankreich noch in England glauben wollte, mag möglicherweise auf Wunschdenken zurückzuführen sein - das kann ich nicht sagen."
Eine der herausragendsten Eigenschaften von Nicholas Winton ist seine Bescheidenheit. Dass er vor dem Hintergrund der damaligen politischen Situation Initiative ergriff, betrachtet er noch heute als Selbstverständlichkeit:
"Ich glaube nicht, dass ich so anders als andere war. Es hat sich einfach so ereignet, dass ich 1938 mit einem Freund nach Prag kam und sah, was vor sich ging. Und da bemühte ich mich, eine Lösung für das Problem mit den Kinder zu finden. Das heißt nicht, dass nicht jemand anderes, der in dieser Zeit nach Prag gekommen wäre, dasselbe getan hätte. Ich betrachte mich selbst nicht als etwas Besonderes."
"Alles, was nicht wirklich unmöglich ist, ist möglich." - so beschreibt Nicholas Winton heute die Devise, von der er sich damals leiten ließ:
"Man hört so viele Menschen sagen: das ist unmöglich, und sie haben es nie probiert. Damals haben viele Menschen gesagt, man kann nichts für diese Kinder tun, kein Land nimmt sie auf. Aber keiner hatte es versucht. Und es war wirklich nicht schwierig."
Die Möglichkeiten, heute als Einzelner etwas zu bewirken, schätzt Winton hingegen schwieriger ein. Zu komplex, zu materialistisch sei heute die Welt.
Fünfzig Jahre lang erzählte Nicholas Winton niemandem - noch nicht einmal seiner Frau - von seiner Tat. Erst 1988 gelangte die Geschichte an die Öffentlichkeit und seitdem steht Winton in regelmäßigem Kontakt "seinen" Prager Kindern, die ihm noch heute dankbar sind für das, was er für sie getan hat.