Vilém Flusser: Der Prager Emigrant und seine Philosophie als Medientheorie
Vilém Flusser gehört wohl nicht zu den allerbekanntesten Philosophen. Doch eigentlich könnte er sowohl durch seinen Schreibstil, der sich von vielen Fußangeln klassischen "Philosophierens" befreit hat, als auch durch seine Inhalte, die - es sei vorweggenommen - durch die schnelle Entwicklung im Bereich der Neuen Medien zusehends aktueller zu werden scheinen, bestimmt einen weitaus größeren Leserkreis ansprechen. Flusser wurde 1920 in Prag geboren und starb 1991 bei einem Autounfall in der Nähe der tschechisch-deutschen Grenze. Gerald Schubert hat für den Kultursalon das nun folgende Portrait gestaltet:
Medienkultur. Kommunikologie. Vom Subjekt zum Projekt. Das sind drei Buchtitel Vilém Flussers, und sie mögen hier stellvertretend stehen für die Schwerpunkte seines Schaffens. Denn Flusser hat sich substantiell mit der menschlichen Kommunikation befasst, diesem - wie er es nennt - "Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode", der letztlich auch den Entwurf des Menschen als Projekt ermöglicht, als Gestaltung seiner selbst, jenseits der Vorgaben von Glauben und Erkenntnis.
Im folgenden Bild wird Flussers Verortung der Gegenwart in der Geschichte der Menschheit besonders plastisch: In vormodernen Entwicklungsphasen hätten sich, so Flusser, die Menschen vor Gott gebeugt. Mit der Renaissance und der Etablierung wissenschaftlicher Erkenntnis als Kriterium der Wahrheitsfindung hätte sich vieles geändert, nur: die Menschen hätten sich weiterhin gebeugt. Diesmal nicht vor Gott, sondern über die Dinge, um diese auszumessen, zu erfassen, zu zerlegen. Und diese Zerlegung in die Teilbereiche der Wissenschaft, in die Atome der Materie und in die Pixel der Bilder sei nunmehr so weit fortgeschritten, dass der Mensch an einem Wendepunkt stehe. Denn die Welt sei nun verzweifelt. Und zwar - Flusser liebte die Etymologie als Stilmittel - im Sinne von auseinandergezweifelt. Durch wissenschaftlichen Zweifel in ihre Einzelteile zerlegt. Daher sei es nun an der Zeit, sich aus der gebeugten Haltung aufzurichten, hinzunehmen, dass wir Wissen nicht besitzen können und uns darauf zu verlegen, uns selbst zu entwerfen. Als Projekt eben.
Einem ähnlichen Gedanken folgt Flussers Geschichte der menschlichen Wahrnehmung, ihrer Codierung und Medialisierung: Die als dreidimensional erlebte Umwelt wurde demzufolge zunächst in zweidimensionale Bilder gebannt, und dann in den eindimensionalen alphanumerischen Code, die Schrift. Dieser alphanumerische Code aber sei gegenwärtig in der Krise. Denn längst werde Information auf eine Art verarbeitet, die uns unmittelbar gar nicht mehr zugänglich sei: nämlich in den bits und bytes vernetzter Computersysteme und - wiederum - in den Bildpunkten, den Pixels, aus denen sich neue, künstliche Bilder zusammensetzen. Flusser nennt sie Technobilder. Und diese Technobilder würden unsere Wahrnehmung mehr und mehr prägen, während wir selbst noch immer von Texten programmiert seien und daran gewöhnt, die Welt logisch und mathematisch zu lesen. Gerade hierin besteht für Flusser die Herausforderung der Zukunft an den Menschen.
Zu Flusser und seinen Texten hat Radio Prag mit Frank Hartmann, Dozent für Medienphilosophie an der Universität Wien, ein Gespräch geführt. Am Anfang stand die Frage, als was man denn Flusser nun eigentlich bezeichnen sollte. Als Medientheoretiker? Als Kulturanthropologen? Oder eben als Philosophen?
"Ich glaube, dass die genaue Fachbezeichnung für eine Person wie Vilém Flusser nicht so entscheidend ist. Er war kein Akademiker aus Fleisch und Blut, er hat sich in den Establishments nie wohl gefühlt, er ist eine Figur zwischen den Stühlen. Das ist teils biographisch bedingt und schlägt sich auch in der Theoriebildung nieder. Und zwar im positiven Sinne: Er hat sich den ganz großen Blick geleistet. Den großen Blick auf menschheitsgeschichtliche Abfolgen. Denn er war der Meinung, dass das, was heute passiert, nach der Industriegesellschaft, vor allem transportiert über Medien und neue Medien, nur verstanden werden kann, wenn man es in einen breiten Rahmen integriert."
Manche von seinen Texten sind in den 70er Jahren geschrieben. Und wenn man sie liest, hat man den Eindruck, da ist jemand am Werk, der ganz aktuelle Entwicklungen des Internet, der medialen Vernetzung analysiert. Wie ist denn das zu beurteilen? War Flusser auf seine Weise ein Technologievisionär, oder ist das bei ihm eher ein allgemein theoretischer Ansatz, der sich sozusagen parallel in der technischen Entwicklung in die Tat umgesetzt hat?
"Da ist sehr wichtig zu bemerken, dass Flusser an der Schwelle einer technischen Entwicklung geschrieben hat. Er wusste, was sein wird oder sein könnte, nämlich neue, diskursive Medien, Medien der Vernetzung statt des alten Modells des Mediums als Sender. Er hat aber die technische Realisierung in Form von Internet nicht mehr erlebt. Nur die Ansätze dazu, die Diskurse bei den Naturwissenschaftlern, bei den Physikern etc. Dafür war er sehr sensibel. Er wusste aber, dass das Ganze nicht nur ein technisches Problem ist, sondern ein soziales und kulturelles Organisationsproblem, und hat immer eindrücklich vor etwas gewarnt, vor dem wir auch noch nicht gefeit sind: nämlich vor einer Medienkonzentration und einer sogenannten faschistischen Medienschaltung. Faschistisch im alten Sinn des Wortes von Bündelung, Konzentration, statt demokratischer Vernetzung und Verteilung im Sinn von offenen Strukturen. Also das, was technisch noch nicht realisiert war, sah er als Möglichkeit, aber nicht als Notwendigkeit. Und damit verbindet sich die Emphase, dass wir an an diesen emanzipatorischen Möglichkeiten der Medienentwicklung arbeiten müssen."
Was Flussers Bezug zu Prag betrifft: Kann man irgendwie an seiner Biographie, an seiner Herkunft vielleicht, einen Schlüssel zu seinen Texten finden? Er ist ja als deutsch sprechender, jüdischer Bewohner der mehrheitlich tschechischsprachigen Stadt Prag aufgewachsen, noch dazu hat er das Trauma von Vertreibung und Emigration durchlebt. Mir fallen dazu zwei Motive ein, die in seinen Texten immer wiederkehren. Das eine ist sozusagen das moderne Nomadentum. Und das andere: Er hat die gegenwärtige Gesellschaft - nicht fatalistisch, immer wieder auch optimistisch - doch an einem ganz entscheidenden Umbruchspunkt gesehen. Ist es möglich, dass seine persönliche Geschichte, seine radikalen Erfahrungen mit Entfremdung in der Gesellschaft, in der er lebt, mit Vertreibung schließlich, dazu geführt haben, dass er sich philosophisch zu diesen Gedanken hingezogen gefühlt hat, oder ist diese Interpretation zu kühn?
"Seine Beziehung zu Prag war tragischerweise die eines Emigranten. Eines bodenlosen Menschen, eines Menschen, der den Boden unter den Füßen verliert. Wir müssen uns vielleicht fragen: Woher kommt eigentlich sein Optimismus, der in diesen vielen Reflexionen über die Rolle der Medien immer wieder durchscheint? Flusser hat ja den Menschen nicht als ein fixiertes Wesen gesehen, als ein Subjekt, dass sich in einer Welt der Objekte bewegt, sondern als ein Projekt, als ein Kollektivprojekt, als ein Projekt der kollektiven Subjektivität, das möglicherweise mittels Technik und Medien realisiert wird. Und in diese Konzeption spielt diese Erfahrung des Emigranten, der sich immer neu entwerfen muss, neu erfinden muss, mit hinein. Und was den Bezug zu Prag betrifft: Wenn man Flusser hört, und es gibt ja einige CDs, dann fällt einem zuerst dieses sogenannte Prager Deutsch auf, dieses sehr artikulierte, in der Argumentation, in der Rhetorik sehr faszinierende Deutsch."
Hören Sie also Vilém Flusser selbst, wie er einmal in einem Vortrag zur Rolle seiner Biographie für sein Denken Stellung bezog, und wie er dabei seine grundlegende Vorstellung vom Wesen menschlicher Kommunikation umriss:
"Meine Frau und ich sind gebürtige Prager. Und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren dort gewohnt zu haben. Ich bin Jude. (...) Ich bin mit Heimaten und mit Heimatverlusten bekannt geworden. Diese meine Erfahrung und die darauf beruhende tägliche Praxis mögen eines der Motive sein, die mich zum Studium der Kommunikationsprobleme führten. Ich sah und sehe in der menschlichen Kommunikation den immer wieder scheiternden Versuch, über die Abgründe zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen Brücken zu schlagen. (...) Wir sind alle Scheiterer. Und zwar deshalb, weil wir wissen, dass wir sterben werden. Aber nicht unser eigener Tod ist der Grund unseres Scheiterns, sondern der Tod aller jener, die wir lieben, und mit denen wir in Freundschaft verbunden sind. Diesem Absurd-Werden alles unseres Unternehmens und nicht irgendwelchen Besorgnissen über irgendwelche apokalyptischen Katastrophen, die uns bedrohen, ist unser Scheitern zu verdanken."
Vilém Flusser, dessen Leben von Flucht und Vertreibung geprägt war, der nach der Emigration einen großen Teil seines Lebens in Brasilien verbracht hatte, ist letztlich in der Nähe seiner Geburtsstadt Prag verstorben. Am 27. November 1991 wurde er Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalls unweit der tschechisch-deutschen Grenze. Am Abend zuvor hatte er auf deutsch seinen ersten und einzigen Vortrag in Prag gehalten. Vilém Flusser ist auf dem Prager jüdischen Friedhof beigesetzt, in der Nähe des Grabes von Franz Kafka.
Der Ausschnitt des Vortrages von Vilém Flusser, den Sie hier hören können, ist der CD "Heimat und Heimatlosigkeit" entnommen, erschienen 1999 bei Supposé, Köln. Die Website von Frank Hartmann, bei dem wir uns herzlich für das Gespräch über Vilém Flusser bedanken, hat die Adresse http://www.medienphilosophie.net. Sie finden dort auch eine Vielzahl themenverwandter Links, unter anderem zum Vilém Flusser Archiv in Köln.