Kommentare zur EU-Verfassung und zum 65. Jahrestag des Münchener Abkommens
Auf zwei Themen, die in der zurückliegenden Woche von der tschechischen Presse kommentiert wurden, möchten wir in der heutigen Sendung ein wenig ausführlicher zurückblicken. Das ist zunächst die Diskussion um eine europäische Verfassung, die wenige Tage vor der am Samstag beginnenden Regierungskonferenz in Rom hierzulande entbrannte - viel zu spät, findet die Zeitung Lidove noviny. In einem Gastkommentar schreibt der ehemalige Chefkommentator des Blatts, Petr Fischer, inzwischen Redakteur bei der BBC:
"Tschechische Politiker ordnen sich gerne dem Kampagnen orientierten Rhythmus der Medien unter und beginnen wichtige Diskussionen vielfach erst wenige Tage vor Ultimo. Nicht anders war es im Fall der europäischen Verfassung und der Regierungskonferenz, die am Samstag in Rom beginnt. Erst am Mittwoch betonte das Kabinett die Notwendigkeit einer diesbezüglichen Diskussion im tschechischen Parlament."
Im Folgenden setzt sich Fischer insbesondere mit der Position von Präsident Vaclav Klaus kritisch auseinander. Klaus hatte am Montag in einem Artikel für die Tageszeitung Mlada fronta dnes ausdrücklich vor einer europäischen Verfassung im Sinne des vorliegenden Entwurfes gewarnt. Weiter hatte der Präsident u.a. betont, dass er sich - gemeinsam mit einem großen Teil der tschechischen Öffentlichkeit wünschen würde, das Kernstück der europäischen Einigung werde der Nationalstaat, und nicht der Bürger sein. Auf diese Äußerung bezieht sich Petr Fischer im folgenden Auszug seines Kommentars:
"Eine solche Auffassung basiert auf einem Verständnis von politischer Zusammenarbeit, das aus dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts stammt. Als Ökonom würde Präsident Klaus sicherlich damit übereinstimmen, dass wir uns den globalen Wirtschaftstrends anpassen müssen, um nicht unsere Konkurrenzfähigkeit zu verlieren. Ist es nicht in der Politik ähnlich wie in der Wirtschaft? A priori aktuelle Trends abzulehnen mit dem Verweis auf ein altes Verständnis des Nationalstaats bedeutet zu riskieren, dass der Zug der Weltgeschichte bald ohne uns abfährt."
Kritisch bewertet auch die Zeitung Pravo die jüngsten Äußerungen von Präsident Klaus zur EU-Verfassung. Das Blatt setzt sich in seinem Kommentar dazu mit der Frage auseinander, ob die europäische Verfassung tatsächlich den Verlust von Souveränität zufolge habe und zu einem - so wörtlich - "Eintopf" führe:
"Die populistische Demagogie in dem Artikel von Vaclav Klaus hat mich unangenehm überrascht. Wahr ist allerdings, dass Klaus seinem Standpunkt und sich selbst treu geblieben ist, denn die ablehnende Haltung gegenüber der europäischen Integration im Rahmen der EU war und ist Klaus seit Beginn seines politischen Wirkens eigen. Als Präsident der Republik, der sich in seinem Amtseid dazu verpflichtet hat, sein Amt im Interesse des gesamten Volks auszuführen, hätte er allerdings die Ergebnisse der Volksabstimmung berücksichtigen müssen, in der sich die Mehrheit der Bürger für den Beitritt ihres Landes zur EU ausgesprochen hatte. Klaus hätte nicht wie ein ideologisch verhafteter Parteiführer auftreten sollen, sondern wie ein verantwortungsvoller Staatsmann."
Zu unserem nächsten Thema, dem 65. Jahrestag des "Münchener Abkommens" von 1938. Aus aktuellem Anlass setzt sich die Zeitschrift Respekt in ihrer jüngsten Ausgabe ausführlich mit der Bedeutung auseinander, die dieses Kapitel der tschechoslowakischen Geschichte heute für die Tschechen hat. Gleich zu Beginn des mehrseitigen Artikels spitzt der Autor seine These auf die folgende Formel zu:"Das Münchener Abkommen und die damit verbundenen Ereignisse sind für die tschechische Gesellschaft bis heute vor allem ein Symbol des Verrats. Auch wenn immer noch nicht ganz klar ist, wer der Haupt-Judas war - England, Frankreich, die Bourgeoisie, Präsident Edvard Benes oder alle zusammen - dass es sich um Verrat handelte, steht außer Zweifel. Wissen wir doch alle aus Filmen und Lehrbüchern nur allzu gut: Wir wollten mit allen Kräften kämpfen, in München jedoch wurde uns das verboten und "über uns ohne uns" entschieden. Das klingt schön, leider handelt es sich dabei jedoch um bloße Mythen."
Im Folgenden führt der Autor aus, dass die tschechoslowakische politische Führung so unbeteiligt an den Ereignissen nicht war und dass das "Münchener Abkommen" lediglich einen Zustand zementiert habe, dessen Entstehung sich bereits zuvor abgezeichnet hatte:
"Aus der Präambel des Münchener Abkommens geht eindeutig die zeitliche Folge der Ereignisse hervor. Dieser Präambel weichen die tschechischen Historiker aus wie der Teufel dem Weihwasser. Sie müssten dann nämlich erklären, dass das Münchener Abkommen lediglich einen organisatorischen Rahmen für die von der tschechoslowakischen Regierung bereits gebilligte Kapitulation bildete. Ähnlich ist es mit dem Mythos über uns ohne uns'. Tatsächlich wurde durch das Abkommen lediglich die unmittelbar drohende militärische Zerschmetterung der Tschechoslowakei abgewendet, als die Grenzgebiete so oder so mit Zustimmung der tschechoslowakischen Regierung bereits verloren waren."
Meint die Zeitschrift Respekt in ihrer jüngsten Ausgabe. Mit einer weiteren in Tschechien weit verbreiteten Assoziation zum "Münchener Abkommen" setzte sich am Dienstag die Zeitung Mlada fronta dnes auseinander. In einem Kommentar mit der Überschrift "München, nicht nur Verrat, sondern auch Treue" kritisiert Petr Pithart, der christdemokratische Vorsitzende der oberen Parlamentskammer Tschechiens, dass viele Tschechen "München" mit kollektivem Verrat gleichsetzten. Pithart erinnert hingegen:
"Auf der Seite der demokratischen Republik standen auch viele unserer deutschsprachigen Mitbürger. Besonders Sozial- und Christdemokraten, aber auch deutsche Kommunisten gingen auf die Straßen tschechischer Städte und protestierten öffentlich gegen das nationalsozialistische Diktat. Viele von ihnen waren dann unter den ersten Opfern, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Voller verständlicher Trauer über den Verrat von München haben wir schnell pauschalisiert: Franzosen, Briten, Deutsche, das bedeutet gleich alle Franzosen, alle Briten, alle Deutschen. Und so mussten die Deutschen raus, und zwar alle, ob schuldig oder unschuldig. Die Deutschen waren nie alle gleich, genauso wie bei uns nicht jeder für den Kommunismus war, der zu den Wahlen oder auf Umzüge gegangen ist."