Vladimír Spidla: Tschechiens Regierungschef zum historischen Schritt nach Europa
Der Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union: Vor fünfzehn Jahren war er noch so gut wie unvorstellbar, am 1. Mai ist er Wirklichkeit geworden: Tschechien gehört zum Club der 25. Einer, dessen Name mit dieser Entwicklung in ganz besonderer Weise verbunden ist, ist der von Premierminister Vladimír Spidla. Spidla trat stets als entschiedener Befürworter der europäischen Integration auf, der EU-Beitritt Tschechiens gehörte von Anfang zu den obersten Prioritäten seiner Regierung. Wenige Tage nach der großen Erweiterung hat Gerald Schubert den Regierungschef um ein Gespräch gebeten. Hören können Sie es jetzt, in unserer Sendreihe "Heute am Mikrophon":
"Mir geht es gut. Das war nur eine vorübergehende gesundheitliche Störung, nichts wirklich Wichtiges. Alles ist schon wieder vorbei."
Ich nehme an, das hatte auch mit Ihrem großen Arbeitspensum zu tun. Das Arbeitspensum, das Sie bewältigen müssen, war in letzter Zeit stark mit dem EU-Beitritt verbunden. Sie sind ursprünglich Historiker. Welche historische Bedeutung hatte dieser Schritt für Sie?
"Der EU-Beitritt ist natürlich eine geschichtliche Wende für die Tschechische Republik. Und eine geschichtliche Wende war er auch für Europa selbst. Denn wir sind die erste Generation, die ihr ganzes Leben in Frieden lebt. Das ist etwas so Einzigartiges, dass wir es noch gar nicht ausreichend beurteilen können. Europa war zuvor ein Kontinent voll von Kriegen, Liquidierungen von Minderheiten, verschiedensten Kämpfen. Und das mehr als tausend Jahre lang. Also, das ist nun wirklich etwas Historisches."
Das Referendum vor ungefähr einem Jahr ist ja positiv verlaufen. Aber andererseits gibt es doch viel Skepsis im Land. Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat sogar gesagt, die Tschechen sind möglicherweise die Weltmeister in der Skepsis. Wie beurteilen Sie denn das?
"Also, da muss ich sagen: Das Referendum in Österreich ist zum Beispiel auch gut gelaufen. Wenn man jetzt die Stimmung misst, dann sieht man: diese Stimmung hat sich verändert. Sie ist sehr zwiespältig, aber trotzdem pro-europäisch. Und wir sind in der gleichen Situation. Also: Pro-europäisch, aber ein wenig skeptisch. Das ist natürlich nicht ganz ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass es im Leben meiner Mutter etwa acht grundlegende Wenden der Geschichte gab. Das ist wirklich zu viel, und etwas ganz anderes, als zum Beispiel bei den Engländern. Also wir haben für die Skepsis historische Gründe."
Ich glaube, was die Skepsis betrifft, so kann man zwei Hauptaspekte erkennen: Der eine ist sehr konkret und betrifft die Angst davor, dass alles teurer wird. Der andere ist eher abstrakt und besteht in der Angst vor dem Verlust von nationaler Identität. Beginnen wir mit dem ersten Punkt: Viele Menschen glauben, dass Teuerungen mit dem EU-Beitritt zu tun haben. Stimmt das?
"Nein, das stimmt nicht. Es gibt zwar verschiedene Studien, die sagen, dass es zu Veränderungen bei den Preisen kommen wird. Einige Preise werden steigen, andere werden aber sinken. Insgesamt rechnet man damit, dass die durch die EU bedingte Inflationsrate ungefähr zwei Prozent betragen wird. Das ist durchaus möglich. Aber im Prinzip ist das eine normale Entwicklung. Irgendeine Teuerungswelle mit dem EU-Beitritt in Verbindung zu bringen, das entspricht also nicht der Wahrheit."
Wie sieht es mit Angst vor dem Verlust nationaler Souveränität aus? Das ist ja etwas, das Präsident Václav Klaus immer wieder betont. Was sagen Sie dazu?
"Es gibt Politik, die man als abstrakte Politik bezeichnen kann, und dann gibt es Realpolitik. Und im realpolitischen Sinne war unsere Souveränität vorher sehr beschränkt. Man kann zwei Okkupationen in einem menschlichen Leben zählen. Meiner Meinung nach steigt also die Souveränität de facto mit dem EU-Beitritt."
Kommen wir zu innereuropäischen Problemen. Es gibt da zum Beispiel die berühmten Übergangsfristen (für den freien Zugang zum Arbeitsmarkt, Anm.), gegen die Sie immer aufgetreten sind. Es gibt das Problem, dass Deutschland und Frankreich den Stabilitätspakt gebrochen haben und vielleicht nicht mit gutem Beispiel vorangehen, was die Budgetdisziplin betrifft. Und es gibt eine neue Diskussion: Etwa Deutschland wirft einigen neuen EU-Staaten vor, dass dort Steuerdumping betrieben wird. Wie sehen Sie denn die Diskussionsprozesse innerhalb der Europäischen Union? Überwiegt hier die europäische Solidarität, oder gibt es Ihrer Meinung nach viele Konflikte, die in den nächsten Wochen und Monaten zum Vorschein kommen werden?
"Die Solidarität überwiegt. Ich bin Historiker und glaube, dass es wirklich sehr nützlich ist, sich die Geschichte ein wenig anzusehen - und zwar längerfristig. Wenn man eine solche europäische 'Überschau' macht, dann sieht man sehr klar: Konflikte hat es gegeben, und es wird sie auch in Zukunft geben. Das ist in der Natur der Politik. Und es ist in der Natur der EU, dass sie durch Verhandlungen einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen und Meinungsgruppen herstellt. Das ist also ganz normal. Früher wurden diese Probleme mit Waffen gelöst, jetzt macht man das an den Verhandlungstischen. Konflikte waren also und werden sein. Aber das ist nicht unnatürlich und nicht gegen den Geist von Europa."Sehr konkrete Aspekte der Europäischen Union wie zum Beispiel das Schengener Abkommen oder die Einführung des Euro sind in Tschechien noch nicht Realität. Glauben Sie, dass der Weg bis dorthin schwierig sein wird, oder ist das nur eine Frage der Zeit?
"Meiner Meinung nach ist Schengen aus Sicht der Tschechischen Republik nur eine Frage der Zeit. Natürlich ist es möglich, dass es zum Beispiel in anderen Ländern, die sehr lange Schengen-Grenzen haben, Komplikationen bei den Vorbereitungen gibt. Die Probleme, die für Tschechien damit verbunden sind, sind aber sehr gering. Wir haben nur einen internationalen Flughafen und müssen dort bis zum Jahr 2007 einige Kleinigkeiten vorbereiten. Also, das haben wir im Griff, und ich sehe das wirklich nur als eine Frage der Zeit. Was die Einführung des Euro betrifft, so rechnen wir damit, dass wir ungefähr 2009 oder 2010 dafür bereit sind. Und es gibt einstweilen keine Hinweise darauf, dass wir es nicht schaffen werden. Aber: Zuvor müssen wir erfolgreich unsere Budgetreform beenden. Bis jetzt haben wir alles, was wir schaffen sollten, auch tatsächlich geschafft. Also: es sieht sehr gut aus. Aber trotzdem (lacht): Ich bin ein Tscheche, also ein Skeptiker. Ich muss natürlich damit rechnen, dass es noch Komplikationen geben kann, an die wir nicht gedacht haben. Vielleicht. Aber im Prinzip sind wir bereit, es zu schaffen."