Warum die Tschechen wie wählen: Drei Meinungsforscher im Gespräch

Wahlergebnisse, Graf: CTK

Noch einmal das Thema Europawahlen: In der neuen Ausgabe der Sendereihe "Heute am Mikrophon" hat Gerald Schubert ausnahmsweise gleich drei Gäste. Die jungen Sozialforscher Adéla Seidlová, Jan Cervenka und Nadezda Horáková vom Meinungsforschungsinstitut CVVM wollten wissen, was für die Tschechinnen und Tschechen bei der Wahl eigentlich ausschlaggebend war:

 Wahlergebnisse,  Graf: CTK
Die Wahlen zum Europaparlament sind geschlagen. Wie Sie vielleicht schon unserer Berichterstattung entnehmen konnten: In Tschechien sind mit der Demokratischen Bürgerpartei ODS und den Kommunisten zwei EU-skeptische Parteien auf den ersten beiden Plätzen gelandet. Teilweise entspricht dies einem Trend, der in mehreren EU-Staaten zu beobachten ist. Nach der großen Erweiterungswelle ist ja vielerorts Unsicherheit über die Art und Weise entstanden, wie die Union künftig ihr inneres Gleichgewicht finden und welchen Werten sie letztlich Priorität einräumen will. Und da setzen viele eben lieber auf nationale, sprich vertraute Akzente. Wie sehen die Hoffnungen und Ängste gegenüber der EU und deren Bedeutung für das Wahlergebnis nun konkret in Tschechien aus? Wir haben Adéla Seidlová, Jan Cervenka und Nadezda Horáková vom Zentrum für Meinungsforschung (CVVM) vors Mikrophon gebeten.

Zunächst erklärt Adéla Seidlová den Hergang der letzten großen Umfrage, die das Institut wenige Tage vor der Wahl durchgeführt hat:

"Wir haben uns in dieser Untersuchung bemüht, die tatsächliche Wahlentscheidung der Menschen zu simulieren. Jeder bekommt in einem Umschlag alle Wahlzettel, die dieselben Informationen beinhalten wie dann die richtigen Zettel bei der Wahl. Sie waren auch in derselben Reihenfolge sortiert, also nach den Zahlen, die unter den einzelnen Parteien zuvor ausgelost wurden. Die Leute sollten also die einzelnen Blätter herausnehmen, alles durchgehen, und dann einen der Zettel in den Umschlag zurückstecken. Also so, als ob sie tatsächlich gerade ihre Wahlentscheidung treffen würden. Danach haben wir gefragt: Als Sie sich die Wahlzettel durchgesehen haben, haben Sie da gezielt nur den Zettel der Partei gesucht, für die sie sich zuvor entschieden haben? Oder haben Sie sich die verschiedenen Informationen angesehen, die auf den Zetteln enthalten sind? Wir haben die Leute also gefragt, wie sie mit dieser Situation eigentlich umgegangen sind."

Foto: CTK
In Tschechien werden also keine Kreuze gemacht, sondern die Wählerinnen und Wähler werfen einen Zettel mit einer Kandidatenliste in die Urne. Welche Informationen auf diesen Zetteln waren laut der Untersuchung für die Menschen nun interessant, und welche nicht? Adéla Seidlová:

"Das, was für die Menschen am unwichtigsten ist, und damit möchte ich gerne beginnen, sind das Alter und das Geschlecht der Kandidaten. Interessanter sind da schon die Berufe, die sie ausüben. Für die Tschechen ist es also relativ wichtig, welche berufliche Praxis die Menschen hinter sich haben. Die anderen Aspekte ihrer Person, wie sie auf den Wahlzetteln angegeben sind, sind hingegen völlig unwesentlich."

Was die Bedeutung der einzelnen Parteien betrifft, so wurde diese im Laufe der Zeit, sprich im Laufe des Wahlkampfs, offenbar immer wichtiger, sagt Seidlová:

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"Es war durchwegs so, dass uns die Leute gesagt haben, die Persönlichkeit sei für sie wichtig. Also der Kandidat als solcher, seine Erfahrungen und die Art, wie er in der Öffentlichkeit auftritt. Aber je näher die Wahlen gerückt sind, desto öfter haben uns die Leute auch gesagt, dass die Partei wichtig ist, für die der Kandidat antritt."

EU-skeptische Parteien zu wählen setzt auch das Vorhandensein bestimmter Befürchtungen voraus, denen das Institut CVVM auf den Grund gegangen ist. Als einen Bereich, in dem die EU-Mitgliedschaft des Landes mit besonders negativen Erwartungen gekoppelt ist, nennt Jan Cervenka die Landwirtschaft:

"Dort erwarten drei Fünftel der Bevölkerung, also 60 Prozent, negative Auswirkungen im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt. Positive Auswirkungen in diesem Bereich erwarten nur 11 Prozent der Befragten, was sehr wenig ist."

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Am positivsten sticht hier der Punkt "Angebote von Produkten und Dienstleistungen am tschechischen Markt" hervor. Immerhin 61 Prozent glauben, dass hier der EU-Beitritt langfristig günstige Auswirkungen haben wird. Die Frage ist aber, ob die Menschen glauben, sich dieses Angebot dann auch leisten können. Jan Cervenka:

"Hier kann man ein recht traditionelles Schema optimistischer und pessimistischer Bevölkerungsgruppen erkennen. Unter den optimistischen Gruppen sind vor allem Studenten respektive junge Leute, weiter Leute mit hohem Lebensniveau, Leute, die mit der politischen Situation und mit ihrem persönlichen Leben zufrieden sind. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die den allermeisten Dingen mit größerer Skepsis und größerem Pessimismus gegenübertreten. Das sind vor allem die sozial schwächsten Gruppen, wie etwa Arbeitslose, Pensionisten oder meist wenig qualifizierte Arbeiter. Natürlich projiziert sich diese soziale Charakteristik dann später auch ins Wahlergebnis. Die Pessimistischeren sind dann überdurchschnittlich oft Anhänger der Kommunistischen Partei, oder auch Leute, die nicht zu den Wahlen gehen."

Oft, so Cervenka, würden gerade sozial Schwächere diverse Entwicklungen rund um Budgetkonsolidierung und Finanzreform sowie die daraus entstehende Angst vor sinkenden Sozialausgaben direkt mit der EU-Mitgliedschaft in Verbindung bringen:

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"Diese Leute erwarten sich hier eher negative Auswirkungen für sich selbst und beziehen das auch auf den Beitritt zur Europäischen Union. Auch wenn das mit dem Beitritt selbst gar nicht so viel zu tun hat. In der EU gilt nämlich die Sozialcharta, und die Sozialproblematik wird in der EU viel sensibler wahrgenommen als das bei einem großen Teil der politischen Elite Tschechiens der Fall ist."

Nadezda Horáková, ebenfalls vom Institut CVVM, konkretisiert:

"Die größten Befürchtungen gibt es in der tschechischen Öffentlichkeit hinsichtlich der Entwicklung der Preise, vor allem, wenn es um Lebensmittel- und Energiepreise geht. Eine negative Entwicklung erwarten die Menschen aber auch im Bereich der Grundstückspreise sowie der Kosten für den öffentlichen Verkehr. Relativ positive Auswirkungen erwarten sich die Leute hingegen bei den Löhnen: Fast ein Drittel der tschechischen Bürger denkt, dass die Löhne steigen werden. Und etwa die Hälfte meint, dass sich im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt Tschechiens die Löhne nicht ändern."

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Die Arbeitslosigkeit - sie beträgt in Tschechien rund 10 Prozent - gilt als eines der größten Probleme des Landes, vor allem strukturschwache Regionen im Norden sind besonders betroffen. Wie nimmt die Bevölkerung in diesem Zusammenhang die Rolle der EU-Mitgliedschaft war? Nadezda Horáková:

"Die meisten Bürger Tschechiens gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit auch nun, nach dem EU-Beitritt, weiter steigen wird. Fast die Hälfte der Befragten hat so geantwortet. Etwa ein Drittel meint, die Höhe der Arbeitslosigkeit wird sich durch die EU nicht ändern. Und positive Auswirkungen im Bereich Arbeitslosigkeit erwarten sich nur 14 Prozent der Tschechen."

Gibt es in den Ergebnissen der Untersuchung etwas, das Nadezda Horáková wirklich überrascht hat?

"Es hat mich überrascht, dass sich die Ergebnisse in letzter Zeit nicht verändert haben, obwohl die Tschechische Republik nun bereits Mitglied der EU geworden ist. Sie unterscheiden sich nicht wesentlich von dem, was die Menschen zum Beispiel vor zwei Jahren erwartet haben. Im Gegenteil: Die Erwartungshaltungen blieben in den meisten Bereichen absolut gleich."

Im jungen EU-Land Tschechien ist dies aber vielleicht doch gar nicht so verwunderlich. Wenn die EU mehr sein soll als ein Verwaltungsapparat, dann braucht die Entwicklung eines Bewusstseins über die Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft eben auch ihre Zeit.